Diversität, Transformation, Kontinuität: Europa 1800-1870

Im neuen Band der Reihe Europäische Geschichte der Neuzeit werden die Jahre zwischen 1800 und 1870 in den Fokus genommen – der Zeitraum, in dem die Weichen für eine neue Epoche gestellt wurden. Während auf der einen Seite der technische Fortschritt durch Dampfschiff, Eisenbahn und Telegraph vorangetrieben wurde, blieben jedoch in vielen Ländern weiterhin Agrarwirtschaft, Monarchie und Feudalismus maßgeblich. Die Autoren Gerold Ambrosius und Christian Henrich-Franke geben einen konzisen Einblick in die vielfältigen Entwicklungen in diesem Zeitraum anhand der Themenfelder Gesellschaft, Gewalt, Recht, Staat, Technik und Wirtschaft. Erste Eindrücke dazu in diesem Interview

Gerold Ambrosius / Christian Henrich-Franke
Diversität, Transformation, Kontinuität: Europa 1800-1870

2020. 197 Seiten, 15 Abb. Kart. € 26,–
ISBN 978-3-17-038196-4

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Das Buch widmet sich dem Zeitraum 1800 bis 1870. Weshalb kann man um 1870 eine gewisse Grenze ziehen?

Zäsuren, Periodisierungen und Einschnitte hängen in der Geschichte immer von der jeweiligen Perspektive und dem Erkenntnisinteresse ab. Bei einer thematisch breit angelegten Einführung muss man verschiedene Perspektiven gegeneinander abwägen und nach Verdichtungen bzw. Kumulationen schauen. 1870 bietet sich insofern an, als eine Schwellen- oder Transformationsphase auslief, nach der sich sowohl die Industrialisierung als auch die nationale (Verfassungs-)Staatlichkeit als wesentliche Strukturprinzipien in Europa durchgesetzt hatten.

Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Das 19. Jahrhundert ist bekannt als eine Phase des Umbruchs, je nach Bewertung sogar der Revolution. Welche Traditionen der Frühen Neuzeit wirkten allerdings in dieser Zeit noch fort, was mit dem Schlagwort „Kontinuität“ bereits im Titel angesprochen wird?

Geschichte läuft immer kontinuierlich und ungleichzeitig ab, d. h. das Nebeneinander von ‚alt’ und ‚neu’ ist konstitutiv für menschliche Gesellschaften; insbesondere in einem größeren und heterogenen Untersuchungsraum wie Europa. Oft wird der Blick auf die neuen, verändernden Entwicklungen und Ereignisse wie Revolutionen oder (technische) Erfindungen gerichtet, die zwar epochale Veränderungen bewirkten, in ihrer Epoche aber kaum wahrgenommen wurden. Hinzu kommt, dass der Historiker immer retrospektiv schaut und insofern für die Veränderungen bzw. deren langfristige Entwicklungen sensibilisiert ist und sie erklären möchte. Mit der Betonung von Kontinuität (und auch Diversität) soll dieses Nebeneinander unterstrichen und kein einseitiges Veränderungsnarrativ bedient werden, dass nur sehr partiell gesamteuropäische Zustände zwischen 1800 und 1870 einfängt. Preußen ist ein Paradebeispiel für einen Staat, in dem der ostelbische Juncker und der westfälische Großindustrielle koexistierten.

Ludwig Passini: Künstler im Café Greco in Rom (1856), Kunsthalle Hamburg

Neben den „klassischen“ Veränderungen dieser Epoche wie die Dampfmaschine, die Eisenbahn oder Verbesserungen der Produktion in der Landwirtschaft betrachtet das Buch etwa auch die Bereiche Recht, Gewalt und Gesellschaft. Welche Entwicklungen sind in diesen Bereichen für diese Zeit auszumachen?

Ob Veränderungen klassisch sind oder nicht, hängt stark davon ab, was die Geschichtswissenschaft auch ihnen macht oder gemacht hat. Dass für unseren Untersuchungszeitraum (1800 bis 1870) die Eisenbahnen oder die Entstehung von Nationalstaaten als Klassiker gelten, hängt stark damit zusammen, dass die Institutionen und Gesellschaften der europäischen Nationalstaaten im 20. Jahrhundert einen ausgeprägten politik- und wirtschaftshistorischen Orientierungsbedarf besaßen. Wir möchten versuchen, hier ein klares Plädoyer für ein möglichst breites Orientierungswissen zu halten, um zum einen zu zeigen, dass diese Themenbereiche nicht weniger Veränderung aufwiesen, und um zum anderen eben auch die Interdependenzen einzufangen. Die Diskussion darüber, ob die industrielle Revolution in ihrem Kern nicht eher eine institutionelle war, in der sich rechtliche Rahmenbedingungen und gesellschaftliche Normen derart veränderten, dass der industrielle ‚take off’ überhaupt erst möglich wurde, ist hier nur ein Beispiel unter vielen.

Sie haben nun erklärt, weshalb die Zeit von 1800 bis 1870 eine eigene Ära darstellt. Der Band ist jedoch im Rahmen einer vierbändigen Reihe erschienen, weshalb man sich auch fragt, was die einzelnen Bände miteinander verbindet?

Neben der schlichten Tatsache, dass Europäische Geschichte der Neuzeit – trotz erkennbarer Zäsuren – immer eine chronologische Konstante bzw. Kontinuität besitzt, verbindet die Bände ihre spezifische Perspektive, d.h. die Kombination einer facettenreichen Darstellung der vier Zeiträume (1800-1870, 1870-1920, 1920-1970, 1970-2015) mit einer Längsschnittdarstellung der sechs thematischen Schwerpunktbereiche (Gesellschaft, Gewalt, Recht, Staat, Technik, Wirtschaft), wenn man diese über die einzelnen Bände hinaus als Einheit liest. Es ist ein Kennzeichnen der Reihe, dass zum einen die einzelnen Bände jeweils einen abgrenzbaren Zeitraum bearbeiten, dass zum anderen aber auch die jeweils gleichen Schwerpunktbereiche über die einzelnen Bände hinaus als chronologische Einheit betrachtet werden können.

Das Interview mit Herrn PD Dr. Christian Henrich-Franke führte Frau Dr. Charlotte Kempf aus dem Verlagsbereich Geschichte/ Politik/ Gesell­schaft.

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