Edmund Burke – ein Philosoph für heute
Kämpfer für die Rechte des Parlaments gegen Übergriffe der Krone – Gegner der Französischen Revolution: Es fällt nicht leicht, Edmund Burke heute bequem in einer Schublade abzulegen. Gerade in Deutschland wurde der wohl einflussreichste politische Denker und Parlamentarier im Großbritannien des 18. Jahrhunderts lange Zeit missverstanden: Schon die erste deutsche Übersetzung machte ihn zum Vordenker der konservativen Gegenrevolution und das Zerrbild des reaktionären Burke hielt sich bis weit ins 20. Jahrhundert. Doch zeitlebens ein Streiter für Gerechtigkeit, setzte er sich beispielsweise für die Rechte der Menschen in Indien und Amerika ein.
Wer war also dieser wortgewaltige Parlamentarier und was hat er uns heute noch zu sagen? Lesen Sie erste Eindrücke in unserem Interview mit Matthias Oppermann, Autor der aktuellen Burke-Biographie.
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Matthias Oppermann
Edmund Burke
Der Staatsmann als Philosoph
2024. 248 Seiten. Kartoniert
€ 32,–
ISBN 978-3-17-041706-9
Reihe: Urban-Taschenbücher
Herr Oppermann, Sie legen großen Wert darauf, Edmund Burke nicht die Begriffe und Denkmuster späterer Zeiten überzustülpen, sondern ihn als einen Denker des 18. Jahrhunderts zu begreifen. Dennoch die Frage: Was kann uns Burke heute lehren?
Man wird bei ihm keine Lösungen für die Probleme unserer Zeit finden. Dafür ist er, wie jeder politische Denker, zu sehr seiner eigenen Epoche verhaftet. Für Burke gilt das besonders, weil er nicht als Philosoph im Elfenbeinturm gedacht hat, sondern sein Denken in der Arena der Tagespolitik präsentiert hat. Gerade darin liegt aber der Reiz für einen heutigen Betrachter. Es lässt sich noch einiges aus seiner Haltung lernen, aus seinem Blick auf das politische Geschäft, aber auch aus den Prinzipien, die er seinem Handeln zugrunde legte.
Da ist zunächst sein unermüdliches Plädoyer für zwei seit dem klassischen Altertum in der Philosophie diskutierte Tugenden: für die Mäßigung und die Klugheit. Das klingt für uns heute ungewohnt, ist aber immer noch aktuell. Klugheit bedeutet für Burke nichts anderes, als dass ein Politiker nicht abstrakten Theorien folgen soll. Er soll vielmehr seine Prinzipien in jedem Einzelfall mit den Umständen abgleichen und dann eine Entscheidung treffen. Mäßigung war für Burke – und das war eine Neuerung in der Geschichte der politischen Philosophie – eine Form der Tapferkeit. Der ideale Staatsmann musste beides können. Beherzt vorgehen, dabei aber immer die Grenzen legitimen Handelns beachten. Heute wird Mäßigung oft mit Untätigkeit verwechselt. Da könnten einige noch einmal bei Burke nachlesen, was echte Mäßigung ist.
Bedeutsam bleibt aber auch seine Vorstellung der britischen Verfassung, die für ihn ein Produkt der Klugheit von Generationen war. Burke warnt davor, eine ererbte politische Ordnung komplett über Bord zu werfen, statt sie durch langsame Reformen zu verbessern. Die Gesellschaft war für ihn ein Vertrag zwischen den Toten, den Lebenden und denjenigen, die noch nicht geboren sind. Das gilt nicht nur für den Staat, sondern auch für die Umwelt und die natürlichen Ressourcen. Die Menschen sind nur Pächter der irdischen Güter. Sie müssen sie für zukünftige Generationen erhalten. Burke gilt in Großbritannien oder Amerika als Vordenker eines „grünen Konservatismus“. Mit Burke kann man für einen Klimaschutz auf der Grundlage marktwirtschaftlicher Prinzipien und vorurteilfreier Forschung eintreten.
Es gibt noch einiges mehr, aber das sind Punkte, die wahrscheinlich jedem unmittelbar einleuchten.
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Burke hat es als Politiker nie bis zum Premierminister gebracht, nicht einmal zu einem Ministerposten mit Kabinettsrang. Trotzdem ist er bis heute bekannter als fast alle Premierminister seiner Zeit. Woran liegt das?
Daran, dass er eben nicht nur Politiker war, sondern mit seinen für die Tagespolitik geschriebenen Reden und Pamphleten Einsichten in das Wesen des Politischen präsentiert hat, die über seine Zeit hinaus gültig sind. Früher hätte man gesagt, dass Burke zu den politischen Denkern gehöre, von denen jeder gebildete Mensch ein bis zwei Zitate kennen müsse.
Würden Sie sagen, dass Burke ein politischer Philosoph war?
Aus meiner Sicht war er das. Manche politischen Philosophen oder Historiker bezweifeln es, weil seine Schriften so eng mit der politischen Praxis verbunden sind und man sie nur schwer vom Kontext der britischen Verfassung trennen kann. Aber warum sollte jemand, der das Problem des Politischen bis auf den Grund durchdacht hat, kein politischer Philosoph sein, nur weil er auch Parlamentarier war? Für Burke war ein echter Staatsmann ein „philosopher in action“. Das war er selbst eben auch.
In Überblicksdarstellungen zur Ideengeschichte kann man oft lesen, Burke sei der „Vater“ oder „Begründer des Konservatismus“ gewesen. Wie stehen Sie dazu?
Es ist eine etwas naive Vorstellung, ein Einzelner könne eine ganze politische Strömung gewissermaßen erfinden. Das ist ein Grund dafür, dass ich von dieser Zuschreibung nicht viel halte. Vor allem aber ergibt sie sachlich keinen Sinn. Burke war ein klassischer Whig, ein Politiker im britischen Parlamentarismus des 18. Jahrhunderts. Seine Prinzipien oder „Werte“ waren die des orthodoxen Whiggismus: die Verteidigung der Ergebnisse der Glorious Revolution von 1688/89, also die Parlamentssouveränität und die historisch begründeten Rechte und Freiheiten der Engländer. Die Idee, er sei der „Vater des Konservatismus“ gewesen, rührt von seiner Ablehnung der Französischen Revolution her, die er vor allem 1790 in seinen Reflections on the Revolution in France dargelegt hat. Die Reflections werden oft als ein Bruch in seinem Denken beschrieben, den es in Wirklichkeit nicht gab. Obwohl er sich über die Einschätzung der Revolution mit der Mehrheit der Whigs überwarf und sich von ihnen trennte, bekämpfte er die Französische Revolution mit denselben Prinzipien, mit denen er vorher die Freiheiten der Kolonisten in Amerika verteidigt hatte oder mit denen er sich gegen die Ausbeutung Bengalens durch die East India Company gewandt hatte. Übersetzt in heutige Begriffe waren das liberale Prinzipien, obwohl Burke sicher auch eine konservative Seite hatte.
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War er denn nun ein Konservativer oder ein Liberaler?
Wenn wir diese dem 18. Jahrhundert fremden Begriffe anwenden wollen, was aus analytischen Gründen vertretbar ist, ergibt sich folgendes Bild: Burke war mit Blick auf seine Prinzipien und Werte ein Liberaler. Konservativ war aber seine Herangehensweise an die Politik, vor allem sein Credo, das Bestehende durch gelegentliche, vorsichtige Reformen zu bewahren. Etwas wissenschaftlicher könnte man auch sagen: Burke war ein typischer Whig des 18. Jahrhunderts, aufgrund seiner Stellungnahmen und Positionsbestimmungen aber auch der Stichwortgeber eines konservativen Liberalismus, der bis heute Relevanz hat. Im Großbritannien des 19. Jahrhunderts war diese politische Grundhaltung nicht an eine einzige Partei gebunden, wurde im 20. Jahrhundert aber zum Monopol der Konservativen Partei.
Nun gibt es ja bereits einige Burke-Biographien, auch wenn die letzte deutschsprachige schon reichlich in die Jahre gekommen ist. Weshalb sollte man Ihre Burke-Biographie lesen, was ist das Besondere an Ihrem Zugang?
Ich habe mich bemüht, Burke für deutschsprachige Leser zugänglich zu machen, die nicht nur nichts oder wenig über Burke wissen, sondern denen auch das Großbritannien des 18. Jahrhunderts fremd ist. Um einem breiteren Publikum einen Weg zu Burke zu eröffnen, habe ich vieles beschrieben und erklärt, was in den englischsprachigen Biographien vorausgesetzt wird. Dafür musste ich Burkes Biographie auf das Wesentliche konzentrieren. Ich glaube, dass das der beste Einstieg in sein Leben und seine Gedankenwelt ist. Außerdem ging es mir darum, zu zeigen, was er uns bei aller Gebundenheit an seine eigene Zeit heute noch zu sagen hat. Das Buch geht damit einen Mittelweg. Es zeigt, dass ein politischer Denker ein Kind seiner Zeit ist, aber dennoch bleibende Fragen stellen und sie überzeitlich gültig beantworten kann.
Dann noch eine letzte Frage: Was fasziniert Sie persönlich an Burke? Irritiert sie auch etwas an ihm?
Neben der Tiefe seines Denkens fasziniert mich vor allem seine Hartnäckigkeit. Es ist höchst beeindruckend, wie es diesem anglo-irischen Aufsteiger ohne Vermögen trotz widriger Umstände gelungen ist, sich in einem noch durch und durch aristokratischen politischen System zu behaupten, ohne seine Prinzipien zu verraten. Burke gab nicht auf, ganz gleich, was sich ihm in den Weg stellte. Und er schaffte es dabei auch noch, einige der wichtigsten Werke der Geschichte des westlichen politischen Denkens zu schreiben. Diese Zähigkeit ist auf sein Temperament zurückzuführen.
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Das hatte aber auch eine Kehrseite. Sie haben mich gefragt, was mich an ihm irritiert. Es ist eben diese Kehrseite, das Überschäumende seines Temperaments, die Unfähigkeit zum Kompromiss auf der menschlichen Ebene. Ich finde es verblüffend, dass ein Denker, der sich so sehr für Mäßigung in der Politik eingesetzt hat, nicht fähig war, sich rhetorisch zu mäßigen, wenn er sich im Recht glaubte. Das hat schon seine Zeitgenossen verstört. In manchen Kämpfen hätte er vielleicht mehr erreicht, wenn er sich sprachlich zurückgenommen hätte.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview mit Prof. Dr. Matthias Oppermann führte Dr. Julius Alves aus dem Lektorat Geschichte/Politik/Gesellschaft.