Kirche – Sozialismus – Demokratie

Gotthilf Schenkel war Pfarrer, langjähriger Landtagsabgeordneter der SPD und erster Kultusminister von Baden-Württemberg – und kämpfte bereits in den 1920er Jahren gegen den Nationalsozialismus. Der Querdenker und oftmals Einzelkämpfer handelte im Sinne der liberalen Theologie, wodurch er an vielen Stellen aneckte, für die Nationalsozialisten als höchst gefährlich galt und immer wieder für Diskussionen sorgte.

Die Autoren Jörg Thierfelder, Hans-Norbert Janowski und Günter Wagner zeichnen und dokumentieren die Konturen dieses markanten Lebensprofils und erinnern an eine Persönlichkeit, die heute leider schon fast vergessen ist. Gewinnen Sie erste Eindrücke davon in diesem Interview.

Jörg Thierfelder/Hans-Norbert Janowski/Günter Wagner
Kirche – Sozialismus – Demokratie
Gotthilf Schenkel РPfarrer, Religi̦ser Sozialist, Politiker

2020. 277 Seiten, 47 Abb. Kart. € 28,–
ISBN 978-3-17-033593-6

Aus der Reihe „Geschichte Württembergs“

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Gotthilf Schenkel war, wenn man es etwas lapidar ausdrücken möchte, ein Hans Dampf in allen Gassen: Er war Pfarrer, Freimaurer, politisch interessiert und publizistisch tätig. Dennoch ist er heutzutage kaum noch bekannt. Weshalb geriet er in Vergessenheit bzw. weshalb ist heute trotz der Tatsache, dass er in Vergessenheit geriet, eine Beschäftigung mit seiner Person interessant?

Ja, man könnte den Eindruck gewinnen, dass Gotthilf Schenkel ein Hans Dampf in allen Gassen gewesen ist. Aber er war ein hervorragender Theologe mit vielen Begabungen. Die zentrale Motivation all seiner Aktivitäten war die soziale Verantwortung, die in seiner liberalen Theologie begründet liegt. Sie zeigt sich in seiner Seelsorge für Arbeiterfamilien, führt zu seinem Engagement in der Wohnungs- und Siedlungsbewegung und führt ihn schließlich auch zu den Religiösen Sozialisten, die sich für die Arbeiter einsetzen.

Vereidigung von Gotthilf Schenkel durch den Präsidenten der Verfassungsgebenden Landesversammlung Baden-Württemberg, 25. 04. 1952. Von links nach rechts: die Minister Frank, Schenkel, Renner, Ulrich, Veit und Ministerpräsident Reinhold Maier.

Schenkel wurde vielfach vergessen, denn die liberale Theologie wurde weitgehend verdrängt. Seine Tätigkeit als Religiöser Sozialist war in der Kirche wenig angesehen, da er auch in anderer Hinsicht ein Querdenker war.

Als Mensch, der stets Zivilcourage bewiesen hat, ist er auch für die heutige Zeit von Bedeutung; sein leidenschaftlicher Protest gegen den Nationalsozialismus befördert das Nachdenken über heutige rechtsextreme Strömungen. Die liberale Theologie, die er stets vertreten hat, fordert bis heute Diskussionen heraus.

Schenkel war nicht nur Theologe, sondern hat auch eine breite politische Karriere hinter sich: Er war Mitglied der DDP, später der SPD und der Religiösen Sozialisten und war schließlich Kultminister des neu gegründeten Landes Baden-Württembergs. Was trieb seine politische Aktivität an und was konnte er in der Politik bewirken?

Gotthilf Schenkel war seit Oktober 1931 Schriftleiter des Wochenblattes „Der Religiöse Sozialist – Sonntagsblatt des arbeitenden Volkes“. Dort erschien am 26. Juni 1932 nebenstehende Karikatur.

In der Tat spielt die Politik im Leben und Wirken Schenkels eine große Rolle. Er tritt zunächst in die DDP ein, die ‚ja‘ zur Weimarer Republik und der Weimarer Verfassung sagte. Diesen Boden verlässt er auch nicht, als er 1929 SPD-Mitglied wurde. Er selbst spricht davon, dass er stärker an der sozialen Neugestaltung partizipieren wollte. Nach dem Krieg bemühte er sich, sich aktiv an der politischen Neuordnung nach dem Zusammenbruch zu beteiligen. Im Kreistag von Crailsheim führt er den „linken“ Block, der gegenüber dem „bürgerlichen“ keine Chance hatte. Mit dem Aufzug Schenkels als Pfarrer in Oberesslingen begann seine eigentliche politische Karriere. Sie gipfelte darin, dass Schenkel 1951 Kultminister des Landes Württemberg-Baden wurde. In dieser Zeit wurde schon intensiv über das Entstehen des Südwest-Staates und seiner Verfassung diskutiert. Hauptstreitpunkt war die Frage nach der Schulform. Schenkel hatte sich dabei für die christliche Gemeinschaftsschule als Regelschule stark gemacht, musste sich dann aber mit einem Kompromiss abfinden.

1952 wurde er dennoch der erste Kultusminister des neugegründeten Bundeslandes, das den Namen Baden-Württemberg bekam. Trotz seiner kurzen Zeit konnte er wichtige Akzente in der Schulpolitik setzen, v. a. im Ausbau der Schulverwaltung. Seine Wissenschafts- und Kunstpolitik blieb freilich umstritten.

Bereits 1933 verlor Schenkel sein Pfarramt in Stuttgart-Zuffenhausen und wurde stattdessen nach Unterdeufstetten versetzt. Wie „gefährlich“ war Schenkel in der der NS-Zeit bzw. wie sehr war er selbst gefährdet?

Gotthilf Schenkel, der selber kein Instrument spielte, hat in Unterdeufstetten einen Posaunenchor gegründet. Nach 1933 gab es keine organsierte Jugendarbeit außerhalb der HJ bzw. des BDM. Ein Posaunenchor war deswegen die einzige Chance, junge Leute mit der kirchlichen Arbeit zu verbinden (Bild von 1941).

Gotthilf Schenkel war in den Augen der Nationalsozialisten ein „schwerbelasteter Geistlicher“, wie Reichsstatthalter Murr im August 1933 an den Oberkirchenrat schreibt. Deswegen stand Schenkel unter Beobachtung. Bis 1945 wurden immer wieder Angriffe auf ihn inszeniert, zunächst von Bürgermeister und vom Ortsgruppenleiter in Unterdeufstetten, dann vom Kreisleiter der NSDAP, verbunden mit einer Zeitungskampagne, um zumindest seine Versetzung zu erreichen. Schließlich drohte die Gestapo mit Redeverbot oder Landesverweisung.

Die Angriffe zeigen: Schenkel war für die Nationalsozialisten gefährlich. Denn als Pfarrer war Schenkel Teil der einzigen Großorganisation, die unter dem Nationalsozialismus nicht gleichgeschaltet war. Das bedeutete Wirkungsmöglichkeit und Einschränkung zugleich. Kritik am Staat öffentlich zu äußern war nicht möglich. Das hatte er auch versprochen. Aber Schenkel kämpfte dafür, dass es keine Eingriffe des Staates in seine Kirchengemeinden gab. Hier war kein Platz für Gewalt und Diktatur, sondern Raum für die Freiheit des Evangeliums. Das wird auch darin deutlich, dass sich bei Schenkel kein Anklang an Nazi-Jargon findet.

Schenkel als Abgeordneter

Um in der Diktatur Wirkungsmöglichkeiten zu entwickeln, ist Klugheit nötig. Schenkel fand trotz vieler Einschränkungen kirchlicher Arbeit eine Lücke, um Jugendliche an die Kirche zu binden. Er nutze den Wunsch vieler junger Leute, sich mit Gleichgesinnten zusammen zu tun und gründete Posaunenchöre

Die „Gefährlichkeit“ Schenkels bestätigt der Crailsheimer Landrat, wenn er schreibt: „Die Tätigkeit des politisch hoch belasteten Pfarrers Dr. Schenkel ist für die Partei zweifellos eine schwere Belastung. Auch wenn ihm nichts Positives nachgewiesen werden kann, so wird er zweifellos auch heute noch dem Nationalsozialismus und auch dem jetzigen Staat innerlich ablehnend gegenüber stehen. Da er ein geistig bedeutender und hochstehender Mensch ist, der es versteht, einen starken Einfluss auf andere auszuüben, ist seine Tätigkeit besonders gefährlich.“

Das Buch trägt den Obertitel „Kirche – Sozialismus – Demokratie“, womit das nach 1946 von Schenkel formulierte „Rettungsdreieck“, wie es im Buch genannt wird, zitiert wird. In welchem Verhältnis standen diese drei Begriffe bei Schenkel?

Cover der 1946 erschienen Schrift „Kirche – Sozialismus – Demokratie“.

Kirche, Sozialismus und Demokratie bilden für Schenkel die drei Seiten einer politischen Zukunftsvision. In diesem Dreieck liegt jede Orientierung im Kräftefeld der jeweils anderen und wirkt auf sie ein, sollte aber ihre Eigenheit behalten. Er selbst sagt dazu: „Die Religion lehrt uns, in jedem Menschen den Bruder zu sehen. … Die Kirchen müssen die urdemokratischen und ursozialistischen Gedanken des Christentums vom gleichen Lebensrecht aller Menschenkinder, von der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit in allen wirtschaftlichen und politischen Dingen, von der Pflicht zu gesetzmäßiger Hilfe für alle Schwachen und Notleidenden von neuem durchdenken und in ihrer Verkündigung zu ihrem vollen Recht kommen lassen. … Der Sozialismus bewahrt die Demokratie vor dem Abgleiten in die Oligarchie und die Plutokratie. Die Demokratie bewahrt den Sozialismus vor dem Abgleiten in die Diktatur. Die Kirche kann Demokratie und Sozialismus vor einseitigem Materialismus bewahren.“ – Eine Vision, die auch heute aussagekräftig bleibt.

Das Interview führte Charlotte Kempf aus dem Lek­torat des Bereichs Geschichte/ Politik/ Gesell­schaft mit den Autoren Jörg Thierfelder, Hans Norbert Janowski, Günter Wagner

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