Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert

Im Zuge der großen Strafrechtsreform in der BRD wurde 1969 der sogenannte Homosexuellen-Paragraf (§ 175 StGB) entscheidend liberalisiert – auch wenn bis zu seiner vollständigen Abschaffung noch weitere 25 Jahre vergehen sollten. Zuvor wurden unzählige Menschen Opfer der unter diesem Paragrafen sanktionierten Homosexuellen-Verfolgung. Ãœber drei politische Systeme hinweg – die Weimarer Republik, Nazi-Deutschland und die BRD – analysiert Julia Noah Munier die bislang noch wenig erforschten Schicksale verfolgter Männer im Südwesten Deutschlands und die Lebenswelten, in denen diese Männer sich auch ihrer Verfolgung zum Trotz bewegten.

Julia Noah Munier
Lebenswelten und Verfolgungsschicksale homosexueller Männer in Baden und Württemberg im 20. Jahrhundert

2021. 458 Seiten, 105 Abb. Kart. € 59,–
ISBN 978-3-17-037753-0

Aus der Reihe Geschichte in Wissenschaft und Forschung

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Frau Dr. Munier, die Geschichte der Homosexuellen-Verfolgung ist trotz diverser Vorarbeiten ein noch immer recht vernachlässigtes Forschungsfeld. Warum ist es wichtig, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen? Welche Forschungslücken hoffen Sie mit Ihrer Studie zu schließen?

Die vorliegende Studie ist die erste größere Studie mit dem Fokus auf ein Flächenbundesland – hier die Region des heutigen Baden-Württembergs –, die nicht nur Verfolgung, sondern auch Lebenswelten homosexueller Männer in den Blick nimmt. Außerdem ermöglicht es die Längsschnitt-Perspektive über drei politische Systeme hinweg, Fragestellungen in den Vordergrund zu stellen, die kulturelle Phänomene der „longue durée“ zu erfassen imstande sind. Damit wird eine wichtige Forschungslücke zur Weimarer Republik, zur NS-Geschichte, aber auch zur jungen Bundesrepublik ein Stück weit geschlossen.

Grundlage der Verfolgung homo- und bisexueller Männer bzw. der Verfolgung von Männern, die Sex mit Männern hatten, die sich selbst aber u. U. nicht als homosexuell begriffen, bildete der sogenannte „Homosexuellenparagraf“ § 175.

Die Verfolgung und das Unrecht, das die Betroffenen z. B. in der NS-Zeit erlitten, wurde über Jahrzehnte von der Bundesrepublik Deutschland staatsoffiziell nicht anerkannt. Erst 2002 erfolgte die viel zu späte Rehabilitierung der NS-Opfer des § 175 RStGB. Viele der betroffenen Personen erlebten dies leider nicht mehr. Im Blick auf das ihnen widerfahrene Unrecht waren diese Männer als immer noch vorbestrafte gestorben und hatten keine „Entschädigung“ erhalten.

In der Nachkriegszeit formulierte ein anonymer Stuttgarter Homophilenaktivist („homophil“ war damals eine geläufige Selbstbezeichnung homosexueller Männer), dass Homophilie als ein „exzeptionelle[s] Schicksal“ begriffen werden kann1. Schließlich wurden homosexuelle Männer auch in der Bundesrepublik – nun unter demokratischem Vorzeichen – mit einer heute kaum mehr nachvollziehbaren Intensität staatlich weiter verfolgt. Auch hier erfolgte eine vollumfängliche Rehabilitierung, die sich mit einer finanziellen Entschädigung als Geste verband, durch den Deutschen Bundestag viel zu spät – erst im Jahr 2017.

Einerseits ist es für die Betroffenen selbst sehr bedeutsam, dass das ihnen gegenüber begangene Unrecht wie auch die schweren Versäumnisse der politischen Entscheidungsträger*innen offiziell anerkannt wurden. Andererseits ist dies auch für die gegenwärtige demokratische Gesellschaft im Hinblick auf die Integration sexueller Minderheiten insgesamt von Bedeutung. Dieses Unrecht in den Fokus zu rücken, das sich über lange Jahrzehnte auch innerhalb eines demokratisch verfassten Staates ereignete, kann die weitere demokratische Erneuerung unserer Gesellschaft befördern.

Die vorliegende Studie leistet hierzu einen Beitrag.

Mehr als 70 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und 50 Jahre nach der Großen Strafrechtsreform mit der Liberalisierung des § 175 StGB in der BRD wurde im Baden-Württembergischen Landtag im Januar 2019 erstmals der homosexuellen Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Die Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Bündnis 90/Die Grünen) betonte in ihrer Festrede die Bedeutung von Gedenkarbeit, indem sie hervorhob: »Gedenken hilft uns, Zusammenhänge zwischen unserer Vergangenheit und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit heute zu erkennen. Es motiviert uns, Angriffen gegen Menschenwürde und Menschenrechte mutig entgegenzutreten.«2 Die geschichtswissenschaftliche Forschung zur Verfolgung homosexueller Männer ist sicherlich eine Voraussetzung für diese so wichtige Gedenkarbeit und nicht zuletzt ein Beitrag zur politischen Bildung.

Gedenkstunde des Landtags von Baden-Württemberg zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus im Haus des Landtags in Stuttgart am 25. Januar 2019
Jugendgruppe der IHS-Stuttgart im Landtag Baden-Württemberg. Gedenkstunde des Landtags von Baden-Württemberg zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus im Haus des Landtags in Stuttgart am 25. Januar 2019 (Foto: Andreas Kaier/Landtag von Baden-Württemberg).

Die Geschichte der Verfolgung homo- und bisexueller Männer und der Kriminalisierung männlicher Homosexualität war über Jahrzehnte in der BRD äußerst tabubehaftet. In einigen Ländern Europas ist das heute noch so. Die offizielle (akademische) Geschichtswissenschaft hat sich dieser so sensiblen Thematik jahrelang – trotz beharrlicher Bemühungen von Betroffenenverbänden und emanzipatorischen (Geschichts-)Initiativen – verschlossen.

Die vorliegende Studie ermöglicht es nun, ein Stück LSBTTIQ-Geschichte zu erforschen, d. h. sie eröffnet eine Möglichkeit, auch geschichtswissenschaftliche Perspektiven zu diversifizieren.

Zudem habe ich versucht, die unzähligen Hinweise, auf die ich im Rahmen der Recherchen gestoßen bin – auch solche, die auf andere sexuelle und geschlechtliche Identitäten und Lebensentwürfe verweisen –, zumindest in den Fußnoten zu erwähnen, so dass ich hoffe, dass meine Studie Ausgangspunkt für weitere Forschungen sein wird.

Noch heute besteht in mehr als einem Dutzend Ländern der Erde die Todesstrafe für homosexuelle Handlungen und in vielen Ländern werden Schwule und Lesben, aber auch z. B. Trans*-Personen, strafrechtlich verfolgt. Schlussendlich hat der Blick auf die „eigene“ Geschichte der Verfolgung sexueller Minderheiten vielleicht auch das Potenzial, auf die gegenwärtig äußerst schwierige Situation für sexuelle Minderheiten in diesen Ländern aufmerksam zu machen und die dort betroffenen Menschen oder die von dort fliehenden Menschen besser zu verstehen.

Sie untersuchen die Geschichte der Homosexuellen-Verfolgung über einen Zeitraum von 50 Jahren und über drei politische Systeme hinweg. Lassen sich Kontinuitäten ausmachen und wo sehen Sie zentrale Unterschiede?

Der sogenannte Homosexuellenparagraf § 175 StGB – der übrigens vor etwa 150 Jahren 1871/72 in das Reichsstrafgesetzbuch Eingang fand – ist die große Kontinuität, aus der sich die staatliche Verfolgung betroffener Personen über drei unterschiedliche politische Systeme – die Weimarer Republik, das NS-Regime und die Bundesrepublik Deutschland ableitet. Die Verfolgung nach § 175 ist jedoch auch grundlegend verschränkt mit dem politischen Kontext und der jeweilige Sexualpolitik.

Homo- und bisexuelle Männer bzw. Männer, die Sex mit Männern hatten, waren schon in der Weimarer Republik durch den § 175 in ihrer Lebensweise bedroht. Dennoch entwickelten sich in den 1920er Jahren Lebenswelten homosexueller und bisexueller Männer und Frauen und Trans*Personen – auch im deutschen Südwesten und den dortigen (groß-)städtischen Zentren, z. B. in Stuttgart, Mannheim und Karlsruhe. Eine wichtige Anlaufstelle und Lokalität in Stuttgart für „Freunde und Freundinnen“ – der Blaue Bock in der Lindenstraße – wurde damals von einer lesbisch lebenden Frau, Therese Michelberger (1891–1950), betrieben.

Anzeige des Treffs im »Blauen Bock« für alle Freundinnen und Freunde
Anzeige des Treffs im »Blauen Bock« für alle Freundinnen und Freunde (Quelle: Das Freundschaftsblatt, 14.10.1927).

Hinzu kamen Versuche, sich politisch zu organisieren und den Status quo zu verändern. Ableger der großen, in Berlin ansässigen Emanzipationsvereine, wie des Wissenschaftlich-humanitären Komitees eines Magnus Hirschfeld und des Bundes für Menschenrecht, gab es auch hier. Teilweise sind in dieser Zeit sogar im ländlichen Raum Württembergs zarte Organisierungsversuche wie z. B. private Freund*innen-Zirkel erkennbar. Ein in Mannheim einflussreicher Aktivist der frühen Stunde war beispielsweise August Fleischmann (1859–1931), der hier Anfang der 1920er Jahre eine Ortsgruppe des Bundes für Menschenrecht gründete.

Der Mannheimer Aktivist August Fleischmann (Quelle: Fleischmann, August (1902)
Der Mannheimer Aktivist August Fleischmann (Quelle: Fleischmann, August (1902): Die Übervölkerungsfrage und das dritte Geschlecht. Neueste sexual-psychologische Enthüllungen von August Fleischmann. Mit dem Bildnis des Verfassers. München: Fleischmann, o. S.).

Grundlage dieser Entwicklung bildeten die politischen und sozialen Bedingungen der Weimarer Republik mit ihrer (wenn auch zunehmend eingeschränkten) Presse- und Versammlungsfreiheit. Einschlägige Zeitungen kursierten. Zudem beflügelten die im urbanen Raum neu entstehenden künstlerisch-avantgardistischen, wissenschaftlich-liberalen und sexualaufklärerischen Kontexte ausdrücklich die Herausbildung lebensweltlicher Gefüge homosexueller Männer. Mit der jungen Demokratie verband sich ganz eindeutig auch die Hoffnung auf die Abschaffung des § 175.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten sollte sich dies jedoch grundlegend ändern. In Berlin wurde das Institut für Sexualwissenschaft überfallen, zerstört und geplündert. Emanzipationsvereine, Organisationen, Verlage, Zeitschriften und Druckwerke wurden massiv zurückgedrängt und zerstört. Die vormals so lebendigen Lebenswelten lösten sich auf und Freundschaftskreise fristeten eine Existenz im Verborgenen. Homosexuelle Männer wurden nun zunächst als „Staatsfeinde“, später auch als „Volksfeinde“ verfolgt. 1935 wurde der § 175 durch die Nationalsozialisten erheblich verschärft und um den § 175a ergänzt, der die sogenannten Qualifizierungstatbestände betraf. Waren vorher nur sogenannte „beischlafsähnliche Handlungen“ von Strafverfolgung bedroht, so konnten nun einfache Zuneigungsbekundungen erhebliche Strafen nach sich ziehen. Die Verurteilungszahlen schnellten entsprechend – spätestens ab 1935/36 – massiv in die Höhe. Verurteilungen zogen in der NS-Zeit zudem erheblich schärfere Strafen nach sich. Ein Großteil der verfolgten Männer wurde zeitweilig in Vollzugsanstalten der Justiz, d. h. in Gefängnissen oder Zuchthäusern inhaftiert. Diese oft ausweglos erscheinende Situation der Betroffenen im NS-Strafvollzug muss als Teil des NS-Terrors gegenüber homosexuellen Männern gewertet werden. In vielen Fällen wurden betroffene Männer zudem in NS-Konzentrationslager verbracht und dort auch ermordet. Weniger bekannt ist, dass sie auch mit Einweisungen in sogenannte Heil- und Pflegeanstalten kämpften und mit gewalttätigen medizinischen Eingriffen konfrontiert waren, bis hin zur körperlichen Verstümmelung durch die chirurgische Entfernung der Testikel.

Im Zuge meiner Forschungen zur NS-Geschichte bin ich auf künstlerische Arbeiten von Marcus Behmer gestoßen, ein bekannter Grafiker und Buchillustrator der Jahrhundertwende, die ich in die Studie miteinbeziehen konnte. Während seiner Haft von Dezember 1936 bis Juli 1938 hatte Behmer in den Gefängnissen Stockach, Konstanz und Freiburg i. Br. die Möglichkeit, zahlreiche künstlerische Arbeiten anzufertigen. Sie gehören zu den wenigen visuellen Zeugnissen homosexueller Männer aus dem NS-Strafvollzug. Vor dem Hintergrund seiner Identität als homosexueller Mann geben sie u. a. von der Haft und seiner persönlichen, der totalen institutionellen Kontrolle unterworfenen „Lebenswelt“ im Gefängnis Aufschluss.

Die Befreiung vom Nationalsozialismus und der demokratische Neuanfang verband sich insbesondere unter homosexuellen Männern auch mit der erneuten Hoffnung auf eine Streichung des § 175. Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre begannen sich in der Region Baden-Württemberg erneut Lebenswelten homosexueller Männer vorsichtig herauszubilden. Lokalitäten luden etwa in Stuttgart zum Verweilen, Netzwerke entstanden und politische Aktivist*innen nahmen die Fäden der Emanzipationsbewegung der 1920er Jahre wieder auf. In Reutlingen etwa gründete sich die Homophilengruppe „Die Kameradschaft die runde“, die eine eigene Zeitung herausbrachte und sich politisch für die Abschaffung des § 175 einsetzte.

»Vor Gericht«, Linoldruck aus der runde, Ostern 1958 (Quelle: Steinle, Karl-Heinz (1998)
»Vor Gericht«, Linoldruck aus der runde, Ostern 1958 (Quelle: Steinle, Karl-Heinz (1998): Die Geschichte der »Kameradschaft die runde« 1950 bis 1969 (Hefte des Schwulen Museums). Berlin, S. 13).

Gleichzeitig übernahm der bundesdeutsche Staat die durch den NS verschärften §§ 175 und 175a in sein Strafgesetzbuch. Mit Formulierungen, die der NS-Ideologie nahestanden, wurde weiterhin die Bestrafung einvernehmlicher homosexueller Handlungen unter erwachsenen Männern begründet. Zudem kursierten massive Stereotype homosexueller Männer wie z. B. das des Jugendverführers.

Die Verfolgung in Baden-Württemberg war immens. Lebensweltliche Gefüge homosexueller Männer wie die Organisierungsversuche der Emanzipationsbewegung waren erneut mit staatlicher Repression konfrontiert. Mit der öffentlichen Debatte um die Strafrechtsreform bezogen aber auch liberale Strafrechtler*innen und Jurist*innen öffentlich Stellung für eine Liberalisierung des § 175. Das gesellschaftliche Klima begann sich schon Anfang der 1960er Jahre erkennbar zu verändern.

Ankündigung des Harlan-Streifens »Anders als du und ich (§ 175)«
Ankündigung des Harlan-Streifens »Anders als du und ich (§ 175)« (Quelle: Stuttgarter Nachrichten, 28.10.1957).

Eine Ihrer zentralen Untersuchungskategorien sind die Lebenswelten der Betroffenen. Können Sie erläutern, auf welche Arten von Quellen Sie zurückgreifen konnten, die uns heute einen Zugang zu diesen ermöglichen?

Methodisch betrachte ich Lebenswelten aus praxeologischer Perspektive. Der praxeologische Ansatz geht davon aus, dass gemeinsame soziale Praktiken die einzelne Akteur*innen zu Gemeinschaften verbinden. Diese gemeinsamen historischen sozialen Praktiken – auch etwa in Gestalt von visuellen Arbeiten – rücken in den Blick der Forschung. Diese Perspektivierung ermöglicht es, die Betroffenen nicht mehr lediglich als Opfer des § 175, sondern – innerhalb spezifischer sozialer und politischer Kontexte – auch als handlungsmächtige Akteur*innen in den Fokus zu rücken.

Die Studie ergänzt die Akten der Verfolgungsinstitutionen wie etwa Gerichts- und Gefängnisakten durch individuelle Erfahrungsberichte, persönliche Briefe und Aufzeichnungen. Hinzugezogen wurden auch Materialien der unterschiedlichen Emanzipationsbewegungen, etwa aus den Freundschaftsmagazinen der 1920er Jahre und der Homophilenbewegung der 1950er und 1960er Jahre. Weiter ausgewertet wurden auch sehr wertvolle Zeitzeug*inneninterviews des Archivs der anderen Erinnerungen der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. Zudem wurden Materialien der visuellen Kultur einbezogen: etwa grafische, filmische und andere künstlerische Arbeiten, aber auch literarische Werke. Das Zusammendenken der verschiedenen Medien bietet die Möglichkeit gegenseitiger Bespiegelung der Quellen und unterschiedlicher Beleuchtung der Thematik. Die lebensweltlichen Gefüge werden so sehr plastisch.

Gibt es Aspekte der Verfolgung bzw. Formen homosexueller Lebenswelten, die für Südwest-Deutschland, für Baden und Württemberg, spezifisch oder hier besonders hervorzuheben sind?

Es gibt sicherlich eine ganze Reihe spezifischer Aspekte, aber um wirklich vergleichen zu können, wäre es wünschenswert, andere Bundesländer würden entsprechende Forschungen weiter auf den Weg bringen.

Am markantesten ist vielleicht, dass homosexuelle Männer hier in den 1950er und 1960er Jahren überdurchschnittlich oft verfolgt wurden. Interessant ist auch, dass die Auswirkungen des sogenannten „Röhm-Putsches“ im Sommer 1934 – gemeint ist die Mordserie an der SA-Spitze und die Ermordung des bekanntermaßen homosexuellen Stabschefs der SA, Ernst Röhm, sich hier relativ spät zeigten. Aber es gab auch Unterschiede zwischen Baden und Württemberg.

Etwas ganz Spezifisches – die Lebenswelten betreffend – im deutschen Südwesten ist sicherlich die geografische Nähe der Region zur Schweiz. Homosexualität unter erwachsenen Männern wurde in der Schweiz seit 1942 nicht mehr von Strafverfolgung bedroht. Zürich bildete dort das Zentrum homosexueller Lebenswelten. Für homosexuelle Männer im deutschen Südwesten war dies sehr wichtig. Manchen von ihnen gelang es, dorthin zu flüchten. Auch nach 1945 war die Stadt ein wichtiger Anziehungspunkt. Hier konnten die legendären Feste der Homosexuellenorganisation „Der Kreis“ besucht werden und es bildeten sich grenzüberspannende Netzwerke.

Als Letztes seien noch die Bemühungen zur Abschaffung bzw. Liberalisierung des § 175 erwähnt. Im deutschen Südwesten gab es eine ganze Reihe liberaler, prominenter Strafrechtler*innen, wie Ernst-Walter Hanack oder Barbara Just-Dahlmann, die sich in den 1950er und 1960er Jahren für die Rechte homosexueller Männer einsetzten. Ihre öffentlichen Bemühungen flankierten quasi das stille Wirken der Homophilenbewegung.

Sind Sie im Zuge Ihrer Arbeit auf Schicksale gestoßen, die Sie besonders erschüttert oder inspiriert haben?

Es erscheint mir schwierig, nach dem besonderen Schrecken oder auch nach der Faszination an einem individuellen Schicksal oder einem Lebensweg zu fragen. Kann ein individuelles Schicksal uns überhaupt den Schrecken – etwa der NS-Verfolgung – wirklich vermitteln? Dennoch ist das biografische Arbeiten ein sehr wichtiger Aspekt des Buches. Hierbei geht es darum, die betroffenen Menschen und ihre Lebenswege in den Fokus zu rücken.

Immer wieder erschüttert hat mich die schiere Menge an Quellenmaterial allein aus dem Raum Baden-Württemberg: dieser schier unendliche Aktenberg vor mir, während ich diese Studie geschrieben habe. Hinter jeder einzelnen Akte tat(en) sich mindestens eine, meist mehrere individuelle Lebensgeschichten, Leidensgeschichten und gelebte Leben auf.

Besonders beeindruckend sind auch die Zeitzeug*innen-Interviews, die ich für die vorliegende Studie nutzen konnte. Sie wurden für das Archiv der anderen Erinnerungen der Bundestiftung Magnus Hirschfeld erstellt und sind in Kooperation mit dem Forschungsprojekt entstanden. Die vorliegende Studie versucht diese Lebensgeschichten und Verfolgungsschicksale für die Leser*innen in einen historischen Zusammenhang einzuordnen. Besonders berührend und traurig ist dabei sicherlich das Kapitel zur NS-Verfolgung: die Einblicke in „Lebenswelten“ im Gefängnis, in sogenannten Heil- und Pflegeanstalten und das dortige grausame Unrecht, aber auch persönliche Schilderungen Überlebender von Lageraufenthalten.

Beeindruckend ist es, dass es einigen der Männer gelang, Lebenswelten aufrecht zu erhalten, trotz Verfolgung zusammenzukommen – Männer, die aus Liebe das Maximale riskierten, oder die Flucht homosexueller Oppositioneller, etwa in die nahegelegene „freie“ Schweiz. Mir war es wichtig, auch diesen Teil der Geschichte wiederzugeben und die Betroffenen nicht nur als Opfer, sondern auch als handlungsmächtige Akteur*innen in den Blick zu rücken.

Sicherlich faszinierend und auch bestärkend sind die Organisierungsversuche der homosexuellen Emanzipationsbewegung. Bereits in den 1920er Jahren gab es gut vernetzte lebensweltliche Gefüge und Netzwerke im deutschen Südwesten. Dann nach 1945 waren es mutige Persönlichkeiten, die an diese Bewegung anknüpften. Eine herausragende Akteur*in war Toni Simon (1887–1979), die wir heute vielleicht als Trans*Person bezeichnen würden. Simon war eine erstaunliche Netzwerker*in, die eine Eingabe an den Bundesjustizminister Dehler organisierte, in der sie die Liberalisierung der §§ 175, 175a forderte3. Die Betroffenen waren ja auch in der jungen Bundesrepublik von Strafverfolgung bedroht. Dieses beharrliche Agieren im Hintergrund bis zur großen Strafrechtsreform 1969 ist äußerst beeindruckend.

Ihr Buch entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts zur LSBTTIQ-Geschichte in Baden-Württemberg. Auf welche anderen Teile dieses Projekts darf man gespannt sein?

Das an der Universität Stuttgart, Abteilung Neuere Geschichte, unter der Leitung von Prof. Wolfram Pyta angesiedelte Forschungsprojekt mit dem Titel: „LSBTTIQ in Baden und Württemberg. Lebenswelten, Repression und Verfolgung im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik“ besteht aus drei Modulen.

Derzeit forsche ich zur staatlichen Repression nach § 175 im deutschen Südwesten4. Die Forschung ist in gewisser Hinsicht eine Art Gegenstück zur Lebenswelten-Studie. Außerdem ist ein Modul geplant, das die Lebenswelten und die Verfolgung weiterer sexueller und geschlechtlicher Minderheiten oder Identitäten in den Blick rückt. Im Bereich LBTTIQ, also u. a. zu den Lebenswelten und zur spezifischen Verfolgung lesbisch lebender Frauen sowie von Trans*- und Inter-Personen, bestehen erhebliche Forschungsdefizite. Die Leser*innen dürfen also gespannt bleiben.

Das Interview mit der Autorin Dr. Julia Noah Munier führte Dr. Julius Alves aus dem Lek­torat des Bereichs Geschichte/ Politik/ Gesell­schaft.

1 M. M., Stuttgart. Notizen zur homosexuellen Situation, Der Kreis, 20. Jg., Nr. 5, 1952, S. 10 f. u. 28, hier S. 10.

2 Zit. n. Presseerklärung des Landtags von Baden-Württemberg (1.2.2021).

3 Vgl. Wolfert, Raimund (2010): »Zu schön um wahr zu sein. Toni Simon als ›schwule Schmugglerin‹ im deutsch-dänischen Grenzverkehr«. In: Lambda-Nachrichten 32 (1), S. 36–39, hier S. 38. Zu Toni Simon siehe auch: Munier, Julia Noah (2016): »›Ha waisch, die saget halt oifach Toni‹. Zur Formierung des Selbst in der Fotocollage des ›Stuttgarter Originals‹ Toni Simon«. (1.2.2021) u. Munier, Julia Noah; Steinle, Karl-Heinz (2017): Wiedergutmachung von Transvestiten und Damenimitatoren nach 1945. (1.2.2021).

4 Siehe hierzu auch: Julia Noah Munier: Aufruf: Dokumente von Richtern und Staatsanwälten aus Privatbesitz gesucht! (1.2.2021).

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