Anlässlich des Erscheinens des Bandes Rom und die Barbaren von Professor Dr. Roland Steinacher führten wir mit dem Autor das folgende schriftliche Interview:
Rom und die Barbaren, da stellt sich gleich die Frage, wer waren „die“ Barbaren?
Ein Barbar war für die Griechen – in den ältesten schriftlichen Quellen, die wir haben – der Sprache und damit auch der Kultur nach ein Nicht-Hellene. Über Jahrhunderte wandten griechische und später auch römische Autoren Bilder, Muster und Stereotypen an, die in vielen Fällen auch die moderne Forschung beeinflusst haben. Griechen und Römer lebten in ihren Städten oder ihrem Staat und das gab eine bestimmbare Identität. Die Barbaren aber wurden nach ihrem Völkernamen definiert. Es ist ein bisschen wie mit der modernen Ethnologie: Die Fremden und Anderen leben in Stämmen, die Beobachtenden in Staaten.
Gleichzeitig war die Frage nach einer Urbevölkerung und einer Einwanderung bzw. einer gemischten Bevölkerung häufig, derartige Annahmen begründeten in der Literatur die eigene griechische und römische, städtische und staatliche Identität und Geschichte. Die Herkunft der Fremden, der Völker und damit Barbaren wurde oft im kalten Norden gesucht. In der Vorstellung vieler antiker Autoren lebten dort unüberschaubar viele und wilde Völker und drängten ans Mittelmeer.
Zuletzt dienten barbarische Großgruppen oft dazu, eine Humangeographie der außerhalb des selbst beherrschten Bereichs gelegenen Gegenden zu konstruieren. So meinte man in der Antike zu wissen, dass im Nordwesten Kelten als Bauern lebten und zu Fuß kämpften, im Nordosten jedoch nomadische Skythen zu Pferd unterwegs seien.
Das noch heute weit verbreitete Urteil die Völkerwanderung sei ein dunkles Zeitalter gewesen, wird immer mehr in Zweifel gezogen. Wie lautet Ihr Urteil zur Völkerwanderungszeit?
Das Konzept der „Völkerwanderung“ wurde erst in der frühen Neuzeit regelrecht erfunden. Da ging es schon mehr um sozusagen nationale Konflikte, zwischen Deutschen und Franzosen etwa. Kurz gesagt warfen Gelehrte in Paris jenen in deutschen Landen vor, die Nachfahren der zerstörerischen Horden der Germanen zu sein. Die Deutschen antworteten mit einer positiven Besetzung der „eigenen Vorfahren“, die ein dekadentes Rom zu Recht zerschlagen hätten. Das hatte oft auch einen Hintergrund in der Gegnerschaft von Protestanten und Katholiken. Wer also gegen den Papst argumentieren wollte, neigte dazu, ein positives Bild etwa der Goten und Vandalen aufzubauen.
Es ist aber richtig kompliziert: Negative Barbarenbilder stammen aus der antiken Literatur, die sind oft eindringlich, fast schon hysterisch. Römer und Griechen konstruierten einen wütenden, kriegerischen Barbaren als Gegenstück zum kultivierten römischen Zivilisten. Auf diese Literatur griff man dann in der Renaissance zurück.
Die uns heute vertrauten Bilder von wandernden und landsuchenden Völkern, von seefahrenden Barbaren, die plündernd die römischen Städte verheeren und das dunkle Mittelalter einläuten, treffen jedoch so nicht zu. Natürlich gab es auch Wanderungen und die drei Jahrhunderte zwischen 300 und 600, um die es in diesem Buch geht, waren auch eine Zeit von Kriegen und Gewalt.
Erstens aber darf man die literarischen Hintergründe der Ursprungsberichte nicht unterschätzen und zweitens waren die Kämpfe der Zeit viel öfter innerrömische als man gemeinhin annimmt. Die barbarischen Völker nahmen, wenn man so will, an römischen Bürgerkriegen teil, nicht ohne die eigene Position zu verbessern. Heruler, Gepiden und Rugier kämpften nicht nur gegen, sondern häufig mit den Römern und verdingten sich als Soldaten in der Armee des Reichs. Dem voraus geht aber eine Bildung von Armeeverbänden an den Grenzen des Reiches über Jahrhunderte. Im Vorfeld der Grenzen übernahmen solche barbarischen Föderationen Ordnungsaufgaben im römischen Interesse. Als der römische Staat die Bezahlung und Versorgung diese Verbände nicht mehr leisten konnte, kamen etwa Goten, Vandalen und Franken über die Grenzen und kämpften mit und gegen römische Verbände in langen Kriegen um die Vorherrschaft.
Als zweiten Schritt übernahmen solche Verbände die Macht in einzelnen Teilen des Reichs. Man könnte es folgendermaßen auf den Punkt bringen: In der Spätantike haben Armeen von maximal 20.000 Soldaten aus der Peripherie des römischen Reiches als privilegierte Elite die Strukturen von römischer Verwaltung und Militär übernommen, ob nun Langobarden in Norditalien, Franken in Gallien oder die Vandalen im heutigen Tunesien. Sie traten an die Stelle der kollabierten kaiserlichen Regierung. Vielleicht war diese neue militärische Elite, die recht stabile Staatsgebilde schuf, nur eben auf kleinerem Niveau, für den Durchschnittsbauern oder Kaufmann vor Ort sogar die angenehmere Variante, mit weniger Steuerdruck. Das ist, glaube ich, die beste Zugangsweise zu einem im 19. Jahrhundert so aufgeblähten Konzept einer „Völkerwanderung“. Es ist weitgehend unstrittig, dass die meisten beteiligten Gruppen zumindest anfangs keine „Völker“ waren, sondern erst im Laufe der Zeit eine eigene Identität ausbildeten.
Welchen Wert hat die Beschränkung auf den Alpen- und Donauraum, vermisst man nicht die großen Völker, die durch Europa zogen?
Der eben geschilderte Hintergrund ist sozusagen die große, erste Bühne, die das mittelalterliche Europa prägte. Immerhin haben die beschriebenen Prozesse grundlegend dazu beigetragen, dass aus römischen Zentralräumen unter gotischer bzw. fränkischer Herrschaft etwa Spanien, Frankreich und Italien entstehen konnten.
Nun sind aber die Vorgänge und Strukturen im Alpen- und Donauraum ähnlich, entweder sind sie im kleineren Maßstab verlaufen oder als Teil größerer Prozesse zu verstehen. Konkret versuchten etwa die Rugier en miniature eine Reichsbildung an der heute österreichischen Donau, manche Heruler kämpften mit Odoaker gegen den später als „den Großen“ bezeichneten Theoderich in Italien, und die Gepiden treten gegen die Hunnen an. Abgesehen davon, dass die spätantike und frühmittelalterliche Geschichte dieses Raumes oft vernachlässigt wurde, kann man mit dem Blick auf den Alpen- und Donauraum besser verstehen, wie die europäischen Transformationsprozesse vor sich gingen. Gerade der pannonische Raum ist ein Labor, in dem regelrecht experimentiert wird, wo sich auch viele politische, militärische und soziale Faktoren entscheidend bilden. Oder einfach gesagt: Die Reichsbildung der Rugier und die Versuche der Heruler, sich anderen Armeeverbänden anzuschließen, sind sehr aufschlussreich, um die Regeln und Bedingungen, Hintergründe und Chancen dieser Zeit zu verstehen.
Wie stellen Sie sich Ihre Leserin bzw. Leser vor, was darf er erwarten, wenn er Ihr Buch ließt.
Als neugierigen Menschen! Das Buch lädt Sie in eine Welt ein, von der man Vieles zu wissen glaubt. Die Jahrhunderte zwischen 300 und 600 sind so etwas wie eine Gründerzeit europäischer Identitäten bzw. wurden sie dazu gemacht. Oft beginnt die Geschichte einer Nation oder einer Gegend in dieser Zeit – denken Sie an den heiligen Severin, Attila den Hunnen oder Theoderich, der als Dietrich von Bern bekannt ist. Jeder hat diese Namen irgendwie schon einmal gehört, weiß sie aber oft nicht so recht einzuordnen. Das Problem ist, dass in Schulbüchern, Dokumentationen, Romanen und manchen Ausstellungen zudem oft Gewissheit vermittelt wird, die es so nicht gibt. Dabei wird Vieles verkürzt und vereinfacht, um eine schöne Geschichte erzählen zu können.
Der Unterschied, wenn man sich den Fragen vorsichtig und wissenschaftlich nähert ist vielleicht, einer Zeit gerecht zu werden und die Erklärungs- und Deutungsversuche späterer Jahrhunderte als solche einzuordnen. In meinem Buch lernt man nun aber zusätzlich auch die Gepiden Ardarich und Thraustila, die Heruler Pharas und Naulobatus und die Rugierkönige Feletheus und Ferderuch kennen. Ich habe nur versucht, die Berichte und Befunde aus bestimmten Gebieten in einen größeren Rahmen zu stellen und war oft selbst erstaunt, wie viele Fragen klarer und logischer beantwortet werden konnten. Es ist ja auch so, dass man ein Buch deshalb schreibt, um sich selbst etwas zu erklären. Lassen Sie sich also überraschen.
Zuletzt, was ist Ihr „Lieblingsvolk“ und warum?
Nur der Kaiser hätte sagen dürfen: „Ich liebe alle meine Völker.“ Aber Scherz beiseite, über die Heruler sind die meisten, markantesten und lustigsten Geschichten erhalten. Byzantinische Historiker überlieferten etwa die Anekdote, die Heruler hätten nach der Einnahme Athens 267 Bücher verbrennen wollen. Da sei einer ihrer Anführer dazwischen gegangen und meinte, man solle den Griechen ihre Bücher lassen, denn dann seien sie vom Training für den Kampf abgelenkt. Vorbildliche barbarische Schurken sind diese Heruler, die lange Zeit immer für ein kräftiges Motiv gut waren.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Zeit.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn.