Die Zeit von 1866 und 1870 war politisch für das deutsche Reich ausgesprochen ereignisreich. Auch Württembergs Souveränität war nicht gesichert. Der Sammelband Württemberg und die deutsche Frage 1866–1870: Politik – Diskurs – Historiografie, der als fünfter Band in der Reihe Geschichte Württembergs. Impulse der Forschung erscheint, geht diesem politischen Umbruch aus württembergischer Perspektive nach. Herausgegeben wird der Band von Dr. Wolfgang Mährle (Landesarchiv Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart), der der Gesprächspartner des Interviews ist.
Der von Ihnen herausgegebene Sammelband betrachtet die Phase zwischen 1866 und 1870/71 in Württemberg, das heißt die Zeit zwischen der Auflösung des Deutschen Bundes und der Gründung des deutschen Reiches bzw. dem Beginn des Deutsch-Französischen Krieges. Welche Umbrüche sind in diesem Zeitraum gerade in Württemberg spürbar? Was kennzeichnet Württemberg im Vergleich zum gesamtdeutschen Gebiet?
Das Königreich Württemberg war durch die Auflösung des Deutschen Bundes 1866 formal souverän geworden, aber durch den Wegfall des Staatenbundes des bisherigen Schutzes seiner territorialen Integrität beraubt. Praktisch war Württemberg durch die 1866 geschlossenen Militärverträge und die Mitgliedschaft im Deutschen Zollverein stark von Preußen abhängig. Jedem verantwortlichen Politiker musste klar sein, dass die Souveränität Württembergs – eines „Leichtgewichts“ im europäischen Kontext – langfristig kaum zu halten sein würde. Bereits die Zeitgenossen haben aus diesem Grund die Zeit zwischen 1866 und 1870 als Umbruchphase empfunden. Die Frage war, unter welchen Umständen und mit welchem konkreten Ergebnis sich weitere deutschlandpolitische Entwicklungen vollziehen würden. In den anderen süddeutschen Staaten – Bayern, Baden und Hessen-Darmstadt – waren die Verhältnisse zwar nicht identisch, aber doch ähnlich.
Bereits in der Einleitung sprechen Sie an, dass Württemberg mehrheitlich keineswegs an der Gründung eines Deutschen Reiches interessiert war. Wie ist diese Ablehnung zu erklären?
Der Ablehnung eines „kleindeutschen“ Reiches unter der Führung Preußens lagen unterschiedliche Motive zugrunde. König Karl und Königin Olga fürchteten um die eigenen Herrschaftskompetenzen, wohl auch um den Thron an sich. Beispielsweise waren in Italien im Zuge des nationalen Einigungsprozesses 1859–1861 alle regierenden Fürsten mit Ausnahme des Hauses Savoyen, des neuen italienischen Königshauses, abgesetzt worden. Württemberg hatte sich im 18. und 19. Jahrhundert immer wieder an Österreich angelehnt, wenngleich man auf die eigene Selbstständigkeit bedacht war. Die politische Verbindung nach Preußen war demgegenüber traditionell geringer, Preußen und Württemberg waren auch mehrfach Kriegsgegner gewesen. Vorherrschend war in Süddeutschland das negative Bild Preußens als eines kalten Macht- und Militärstaates. Bei der katholischen Bevölkerung Württembergs spielten bei der Ablehnung eines von Preußen geführten Reiches auch konfessionelle Vorbehalte eine Rolle.
Welche Diskurse waren in dem betrachteten Zeitraum vorherrschend?
Die Politik in Württemberg stand zwischen 1866 und 1870 im Bann der nationalen Frage. Die meisten anderen Politikfelder, vor allem die Wirtschaftspolitik, waren auf verschiedenen Wegen mit den deutschlandpolitischen Perspektiven verknüpft. Bei der Beurteilung der außenpolitischen Möglichkeiten Württembergs standen sich die verschiedenen Positionen unversöhnlich gegenüber. Manche träumten davon, die Souveränität Württembergs langfristig zu erhalten, manche hielten eine großdeutsche Lösung – mit Einbindung Österreichs – für erstrebenswert. Nur eine Minderheit befürwortete bis zum Frühjahr 1870 einen kleindeutschen Nationalstaat unter der Führung Preußens. Die Stimmung kippte erst während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. Hierzu wird das Hauptstaatsarchiv Stuttgart im kommenden Jahr eine Ausstellung zeigen.
Welche Relevanz hatte eine Nation zu dieser Zeit?
„Nation“ war im 19. Jahrhundert ein politischer Leitbegriff. Die europäischen Nationen strebten danach, Nationalstaaten zu gründen. Die Vorstellung von Nation war dabei bis weit in die Mitte des Jahrhunderts hinein stark mit progressiven Ideen verknüpft, so mit der liberalen Forderung nach politischer Teilhabe für breitere Bevölkerungskreise, vor allem für das Bürgertum. Diese Verknüpfung des Begriffs Nation mit einer politischen Emanzipation ist in den heutigen Diskursen nicht mehr vorhanden.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Mühe.
Dieses Interview führte schriftlich Charlotte Kempf