Klinische Pharmakologie in der psycho­therapeutischen Arbeit

Im Gespräch mit dem Herausgeberteam des neuen Buches, welches angehenden und erfahrenen PsychotherapeutInnen psychopharmakologisches Grundwissen vermittelt:

Univ.-Prof. Dr. med. Julia C. Stingl ist Lehrstuhl­inhaberin für das Fach Klinische Pharma­kologie an der Uniklinik RWTH Aachen.

PD Dr. med. Katja S. Just ist Fachärztin und Privat­dozentin für Klinische Pharma­kologie an der Uniklinik RWTH Aachen.

PD Dr. med. Michael Paulzen ist Ärztlicher Direktor und Chefarzt des Alexianer Kranken­hauses Aachen.

Portrait von Univ.-Prof. Dr. med. Julia C. Stingl
Univ.-Prof. Dr. med. Julia C. Stingl

Seit dem Sommer­semester 2022 wird deutschland­weit der neue Bachelor- und Master­studiengang „Psycho­therapie“ angeboten. Die große Bedeutung von pharma­kologischem Wissen in der psycho­therapeu­tischen Behandlung ist hingegen nicht neu. Wie wurden die pharmako­logischen Aspekte bislang im Studiengang Psychologie behandelt?

Frau Prof. Stingl: Wie in den meisten medizin­nahen Fächern spielten pharmako­logische Aspekte im Studien­gang Psychologie bisher eine eher unter­geordnete Rolle. Dies liegt zum einen daran, dass Psycho­logie natürlich eine viel breitere Aus­richtung hat und gar nicht jeder Absolvierende später psycho­therapeutisch arbeitet. Zum anderen wird die Arznei­mittel­therapie zunehmend als etwas betrachtet, das die PatientInnen beein­trächtigen oder zumindest Fragen aufwerfen könnte. Wir haben heute 60 % mehr Arznei­mittel­verschreibungen als noch vor 20 Jahren und gerade ältere Menschen nehmen eine große Anzahl an Arznei­mitteln täglich ein. Da können Neben­wirkungen oder Ängste bezüglich Wirksam­keit und Sicher­heit der Medika­mente durchaus Gegen­stand der psycho­therapeu­tischen Behand­lung sein. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die meisten Erwachsenen Arznei­mittel einnehmen, das gehört zum modernen Menschen dazu. Deshalb haben wir dieses Buch heraus­gebracht, welches angelehnt an das Curri­culum des neuen Studien­ganges die wichtigsten aktuellen Inhalte der pharmako­logischen Lehre vermittelt.

Wie Sie bereits angesprochen haben, nehmen viele PatientInnen, insbeson­dere ältere, oftmals zahl­reiche Medikamente parallel ein, die mitein­ander in Wechsel­wirkung treten und sowohl unerwünschte wie auch unerwar­tete Neben­wirkungen hervor­rufen können. Selbst für Alters­medizinerInnen ist es schwierig, hier den Über­blick zu behalten. Gibt es besonders häufig eingenommene Medika­mente bzw. Medikamenten­gruppen, auf deren Wirkung und Neben­wirkung PsychotherapeutInnen unbedingt vorbe­reitet sein sollten?

Portrait von PD Dr. med. Katja S. Just
PD Dr. med. Katja S. Just

Frau Dr. Just: Zumindest gibt es Beschwerden oder Beein­trächtigungen, die mit den Arznei­mitteln zu tun haben können, die jemand einnimmt. Die erste Schwierig­keit in der Betreuung von PatientInnen, die viele Arznei­mittel gleichzeitig einnehmen, ist mitzu­bekommen, dass Neben­wirkungen auftreten. Oftmals werden Neben­wirkungen gar nicht als solche erkannt und es werden noch mehr Arznei­mittel verschrie­ben oder andere Therapien einge­leitet, anstatt die bestehende Arzneimittel­therapie zu reduzieren. Um konse­quent und für das Patienten­wohl zielführend reagieren zu können, bedarf es einer guten inter­professionellen Koope­ration und einer engen Zusammen­arbeit unter­schiedlicher Gesundheits­berufe, die PatientInnen betreuen. Da viele Arznei­mittel psychische Neben­wirkungen besitzen, die auch als Symp­tome einer psychischen Erkran­kung fehlgedeutet werden können, ist es zum Beispiel wichtig, dass auch Psycho­therapeutInnen solche Symptome erkennen und richtig einordnen können.

Nun richtet sich Ihr Lehrbuch in erster Linie an Studierende des Psycho­therapie-Studiengangs, denen die Erfahrung in der psycho­therapeutischen Behand­lung bislang fehlt. Können Sie ihnen aus Ihrer Erfahrung berichten, ob es üblich ist, dass PatientInnen zu Beginn der Therapie offen von eingenommenen Medika­menten bzw. Sucht-/Genuss­mitteln berichten? Oder werden diese in der Regel eher verschwie­gen, sodass Ihre jungen KollegInnen diese Themen unbedingt im Hinter­kopf haben sollten?

Portrait von PD Dr. med. Michael Paulzen
PD Dr. med. Michael Paulzen

Herr Dr. Paulzen: Am Anfang einer jeden Psychotherapie steht die aus­führliche Anamnese. Dies bedeutet, dass auch die durch Psycho­therapeutInnen gestellten Fragen nach eingenom­menen Medikamenten bzw. Sucht- und Genussmitteln nicht unbeant­wortet bleiben sollten. Erst wenn sich Psycho­therapeutInnen auch darüber im Klaren sind und einen entspre­chenden Über­blick haben, ermög­licht dies den Einstieg in eine lang­fristige und vertrauens­volle therapeu­tische Beziehung. Wenn Psycho­therapeutInnen eine gewisse pharmako­logische Expertise mitbringen, gelingt es, deutlich mehr Sicher­heit auch in der therapeu­tischen Beziehung einzubringen. Genau hier setzt unser Buch an, das das pharmako­logische Wissen speziell für Psycho­therapeutInnen aufbereitet.

Frau Prof. Stingl: Thematisch spielt auch die Frage von Psycho­therapeutInnen nach Wirkungen oder Neben­wirkungen eingenommener Medika­mente oftmals eine gewichtige Rolle. Tatsäch­lich haben wir in einer Patienten­befragung zu Neben­wirkungen heraus­bekommen, dass viele PatientInnen Vor­behalte haben, ihrem/ihrer ÄrztIn die Neben­wirkungen mitzuteilen, da sie keine schlechte Rück­meldung über die Therapie geben wollen. Hier kann eine inter­professio­nelle Zusammenarbeit die Kommuni­kation und Wachsam­keit gegenüber unerwünsch­ten Wirkungen stärken – oft können Neben­wirkungen ja durch einfache Therapie­anpassungen vermieden werden.

Was möchten Sie den Studierenden gerne mitgeben, bevor sie Ihr Buch aufschlagen und lesen?

Frau Dr. Just: In erster Linie die Hemmung vor dem auf den ersten Blick etwas unüber­sichtlichen Fach Pharmako­logie mit den zum Teil fremden Begrifflich­keiten nehmen. Und im zweiten Schritt sensibi­lisieren für Situationen, die ihre psycho­therapeutische Tätigkeit beein­flussen können und im Kontext der Arzneimittel­therapie eines/einer PatientIn zu sehen sind.

Herr Dr. Paulzen: Seien Sie mutig, sich Wissen anzueignen, das auf den ersten Blick nur ein Rand­gebiet der psycho­therapeutischen Arbeit berührt. Auf den zweiten Blick aber werden Sie merken, dass ein gewisses pharmako­logisches Grund­verständnis ein ganz wichtiger Grund­pfeiler und auch eine vertrauens­bildende Maßnahme in der psycho­therapeutischen Arbeit ist.

Frau Prof. Stingl: Arzneimittel gehören mittlerweile zum Alltag der meisten Menschen dazu und haben einen großen Einfluss auf unsere psychische und körper­liche Gesund­heit. Daher halte ich es für eine wichtige Fertig­keit, dass Psycho­therapeutInnen Grund­kenntnisse zur Arzneimittel­wirkung beim Menschen haben, so dass sie auf arzneimittel­verursachte Probleme bei ihren KlientInnen mit Kompetenz und Fachwissen eingehen können.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe!


In der achten Folge des Podcasts „Faszin­ation Medizin“ (September 2021) der Uni­klinik RWTH Aachen erläutert Frau Prof. Stingl, warum die klinische Pharma­kologie partizi­pative Forschung braucht und die PatientInnen Manager ihrer eigenen Therapie werden müssen.

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Stingl/Just/Paulzen (Hrsg.)
Klinische Pharmakologie in der psychotherapeutischen Arbeit
Ein patientenzentriertes Lehrbuch für Studium, Ausbildung und Praxis

2023. 228 Seiten. Kart.
€ 36,–
ISBN 978-3-17-043060-0

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