Sehr geehrter Herr Professor Fuchs, im Jahr 2008 erschien erstmalig Ihr Buch „Das Gehirn – ein BeziehungsÂorgan“, das seit 2021 in 6. Auflage vorliegt. Was hat Sie dazu bewegt, mit „Psychiatrie als BeziehungsÂmedizin“ ein neues Buch zu verfassen, das an jenes Werk anknüpft?
„Das Gehirn – ein BeziehungsÂorgan“ ist ein GrundlagenÂwerk, das die philoÂsophische Theorie der VerkörÂperung mit einer „ökologischen“ Konzeption des Gehirns verknüpft. Die AnwenÂdung dieser Konzeption auf die Psychiatrie fiel damals nur kursorisch aus. Daher erschien es mir wichtig, eine neue DarÂstellung des VerkörperungsÂparadigmas zu verfassen, die in erster Linie unserem VerständÂnis von psychischen Störungen und ihrer BehandÂlung dient und an die Stelle des aus meiner Sicht unbefrieÂdigenden „biopsychoÂsozialen Modells“ treten kann.
Der Untertitel Ihres neuen Buches lautet: „Ein ökologisÂches Paradigma“. Was meint und umfasst diese „Ökologie“ im Kontext der Medizin?
In der AlltagsÂsprache gebrauÂchen wir den Begriff der ÖkoÂlogie natürÂlich in erster Linie für unsere natürliche Umwelt. Hier beschreibt er die BezieÂhungen von Lebewesen zu ihrer Umgebung und das komplexe System der Biosphäre. Aber in analoger Weise können wir auch von einer Human- oder SozialÂökologie sprechen, nämlich um die Beziehungen einer Person zu ihrer sozialen Umgebung zu bezeichnen, also ihren sozialen oder LebensÂraum. Auch das Gehirn lässt sich als ein Organ auffassen, das die BezieÂhungen der Person zu ihrer Umwelt vermittelt und durch diese BezieÂhungen geformt wird. Für psyÂchische KrankÂheiten wiederum bedeutet dies, dass sie nicht ohne die BetrachÂtung dieser Beziehungen angemessen verstanden werden können. Daher braucht die Psychiatrie, ja die Medizin insgesamt ein ökologisches Paradigma.
Bedingt durch den GegenÂstand ihres Faches sind Psychiater im klinischen Alltag zumeist auch als Psychotherapeuten gefragt und arbeiten Seite an Seite mit Kollegen benachÂbarter medizinischer FachÂbereiche (wie der PsychoÂsomatik) und Disziplinen (Klinische Psychologie, Pflege, Therapieberufe). Was macht den ökoloÂgischen Ansatz auch für diese relevant, und inwieweit könnte in diesem eine Chance für eine gelingende multiÂprofessionelle ZusammenÂarbeit liegen?
Psychiater gehen traditionell von einem mediÂzinischen Verständnis psychischer Krankheit aus, d.h. sie suchen deren Ursachen im Körper, und hier natürÂlich in erster Linie im Gehirn. Andere Professionen jedoch, die mit psychisch kranken Menschen zu tun haben, sehen andere Aspekte der Person und auch der Prozesse, die zu psyÂchischen Störungen beitragen – Aspekte, die eher die BezieÂhungen und InterÂaktionen von Person und Umwelt umfassen.
In einem ökoloÂgischen Paradigma sind nun diese Zugänge nicht mehr ein bloßes „add on“, sondern gleichÂberechtigte Ansätze zum VerständÂnis und zur BehandÂlung einer Störung. Ein solches ParaÂdigma kann aber darüber hinaus auch helfen zu verstehen, wie die verschieÂdenen BehandlungsÂansätze ineinanderÂgreifen, so dass sie kompleÂmentär zueinÂander eingesetzt werden können. Das scheint mir eine wichÂtige VorausÂsetzung für eine gemeinsame Identität in einem multiÂprofessionellen Team.
Sie sind seit 2010 Inhaber der Karl-Jaspers-Professur für philoÂsophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der UniversiÂtät Heidelberg. Weshalb empfehÂlen Sie, über 50 Jahre nach dem Tode von Karl Jaspers, heutigen StudieÂrenden, sich mit seinem Werk ausÂeinanderÂzusetzen und welche seiner Schriften ist aus Ihrer Sicht für einen Einstieg in dessen Lektüre besonders geeignet?
Karl Jaspers hat eigentlich das SubÂjekt erst in die Psychiatrie eingeführt, das ist sein bleiÂbender Verdienst. Alle späteren Autoren, die das Erleben psychiÂscher KrankÂheit untersucht haben, gehen von seinem Werk aus, und das sollten wir auch heute noch tun. Wer sich nicht gleich seine „Allgemeine PsychoÂpathologie“ zumuten möchte, dem empfehle ich die „Gesammelten Schriften zur PsychoÂpathoÂlogie“, und darin besonders „Die phänoÂmenoÂlogische ForschungsÂrichtung in der PsychoÂpathologie“.
RückÂblickend betrachtet: Gab es eine Schrift Jaspers, die für Sie in Ihrer Ausbildung und Entwicklung als Psychiater und Philosoph eine Art SchlüsselÂwerk dargestellt hat?
Eindeutig die „Allgemeine PsychoÂpathologie“. Es ist, trotz einer gewissen Ãœberfülle, immer noch das GrundlagenÂwerk für eine verstehenden Zugang zu den Welten psychisch kranker Menschen.
Im Frühjahr 2023 wurde Ihre Arbeit mit dem Erich-Fromm-Preis gewürdigt. Was bedeutet Ihnen diese AusÂzeichnung und welche Bezüge und VerbinÂdungen bestehen zwischen den geistigen Welten von Karl Jaspers und Erich Fromm, die sich in Ihrem eigenen Werk widerspiegeln?
Die Auszeichnung war für mich eine besondere Freude, da ich mich dem humanistischen Denken Erich Fromms schon seit Beginn meiner philoÂsophischen und psychiatrischen Arbeit nahe gefühlt habe. Auch wenn der HumanisÂmus heute häufig als anthroÂpozenÂtrisch abgelehnt oder für obsolet gehalten wird – meine Arbeiten verstehe ich als den davon unbeirrten Versuch, angesichts der neuen HerausÂforderungen unseres JahrÂhunderts einen zeitÂgemäßen HumanisÂmus zu begründen. Darin sehe ich auch die VerbinÂdung zu Karl Jaspers, der seine ExistenzÂphilosophie immer mit einem gesellÂschaftlichen und poliÂtischen EngageÂment verknüpfte.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe!
Thomas Fuchs
Psychiatrie als Beziehungsmedizin
Ein ökologisches Paradigma
2024. 224 Seiten. Kart.
€ 31,–
ISBN 978-3-17-036845-3
Thomas Fuchs
Das Gehirn – ein Beziehungsorgan
Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption
6., erw. und aktual. Auflage 2021
371 Seiten mit 19 Abb. Fester Einband
€ 36,–
ISBN 978-3-17-039464-3