Psychiatrie als Beziehungsmedizin

Im Gespräch mit Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs. In seinem neuen Buch legt er verständ­lich dar, worauf die Psychiatrie als eine Wissenschaft und Praxis von biolo­gischen, psychi­schen und sozialen Bezie­hungen, ihren Störungen und ihrer Behandlung gründet.

Portrait von Prof. Thomas Fuchs
Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs

Sehr geehrter Herr Professor Fuchs, im Jahr 2008 erschien erstmalig Ihr Buch „Das Gehirn – ein Beziehungs­organ“, das seit 2021 in 6. Auflage vorliegt. Was hat Sie dazu bewegt, mit „Psychiatrie als Beziehungs­medizin“ ein neues Buch zu verfassen, das an jenes Werk anknüpft?

„Das Gehirn – ein Beziehungs­organ“ ist ein Grundlagen­werk, das die philo­sophische Theorie der Verkör­perung mit einer „ökologischen“ Konzeption des Gehirns verknüpft. Die Anwen­dung dieser Konzeption auf die Psychiatrie fiel damals nur kursorisch aus. Daher erschien es mir wichtig, eine neue Dar­stellung des Verkörperungs­paradigmas zu verfassen, die in erster Linie unserem Verständ­nis von psychischen Störungen und ihrer Behand­lung dient und an die Stelle des aus meiner Sicht unbefrie­digenden „biopsycho­sozialen Modells“ treten kann.

Der Untertitel Ihres neuen Buches lautet: „Ein ökologis­ches Paradigma“. Was meint und umfasst diese „Ökologie“ im Kontext der Medizin?

In der Alltags­sprache gebrau­chen wir den Begriff der Öko­logie natür­lich in erster Linie für unsere natürliche Umwelt. Hier beschreibt er die Bezie­hungen von Lebewesen zu ihrer Umgebung und das komplexe System der Biosphäre. Aber in analoger Weise können wir auch von einer Human- oder Sozial­ökologie sprechen, nämlich um die Beziehungen einer Person zu ihrer sozialen Umgebung zu bezeichnen, also ihren sozialen oder Lebens­raum. Auch das Gehirn lässt sich als ein Organ auffassen, das die Bezie­hungen der Person zu ihrer Umwelt vermittelt und durch diese Bezie­hungen geformt wird. Für psy­chische Krank­heiten wiederum bedeutet dies, dass sie nicht ohne die Betrach­tung dieser Beziehungen angemessen verstanden werden können. Daher braucht die Psychiatrie, ja die Medizin insgesamt ein ökologisches Paradigma.

Bedingt durch den Gegen­stand ihres Faches sind Psychiater im klinischen Alltag zumeist auch als Psychotherapeuten gefragt und arbeiten Seite an Seite mit Kollegen benach­barter medizinischer Fach­bereiche (wie der Psycho­somatik) und Disziplinen (Klinische Psychologie, Pflege, Therapieberufe). Was macht den ökolo­gischen Ansatz auch für diese relevant, und inwieweit könnte in diesem eine Chance für eine gelingende multi­professionelle Zusammen­arbeit liegen?

Psychiater gehen traditionell von einem medi­zinischen Verständnis psychischer Krankheit aus, d.h. sie suchen deren Ursachen im Körper, und hier natür­lich in erster Linie im Gehirn. Andere Professionen jedoch, die mit psychisch kranken Menschen zu tun haben, sehen andere Aspekte der Person und auch der Prozesse, die zu psy­chischen Störungen beitragen – Aspekte, die eher die Bezie­hungen und Inter­aktionen von Person und Umwelt umfassen.

In einem ökolo­gischen Paradigma sind nun diese Zugänge nicht mehr ein bloßes „add on“, sondern gleich­berechtigte Ansätze zum Verständ­nis und zur Behand­lung einer Störung. Ein solches Para­digma kann aber darüber hinaus auch helfen zu verstehen, wie die verschie­denen Behandlungs­ansätze ineinander­greifen, so dass sie komple­mentär zuein­ander eingesetzt werden können. Das scheint mir eine wich­tige Voraus­setzung für eine gemeinsame Identität in einem multi­professionellen Team.

Sie sind seit 2010 Inhaber der Karl-Jaspers-Professur für philo­sophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universi­tät Heidelberg. Weshalb empfeh­len Sie, über 50 Jahre nach dem Tode von Karl Jaspers, heutigen Studie­renden, sich mit seinem Werk aus­einander­zusetzen und welche seiner Schriften ist aus Ihrer Sicht für einen Einstieg in dessen Lektüre besonders geeignet?

Karl Jaspers hat eigentlich das Sub­jekt erst in die Psychiatrie eingeführt, das ist sein blei­bender Verdienst. Alle späteren Autoren, die das Erleben psychi­scher Krank­heit untersucht haben, gehen von seinem Werk aus, und das sollten wir auch heute noch tun. Wer sich nicht gleich seine „Allgemeine Psycho­pathologie“ zumuten möchte, dem empfehle ich die „Gesammelten Schriften zur Psycho­patho­logie“, und darin besonders „Die phäno­meno­logische Forschungs­richtung in der Psycho­pathologie“.

Rück­blickend betrachtet: Gab es eine Schrift Jaspers, die für Sie in Ihrer Ausbildung und Entwicklung als Psychiater und Philosoph eine Art Schlüssel­werk dargestellt hat?

Eindeutig die „Allgemeine Psycho­pathologie“. Es ist, trotz einer gewissen Überfülle, immer noch das Grundlagen­werk für eine verstehenden Zugang zu den Welten psychisch kranker Menschen.

Im Frühjahr 2023 wurde Ihre Arbeit mit dem Erich-Fromm-Preis gewürdigt. Was bedeutet Ihnen diese Aus­zeichnung und welche Bezüge und Verbin­dungen bestehen zwischen den geistigen Welten von Karl Jaspers und Erich Fromm, die sich in Ihrem eigenen Werk widerspiegeln?

Die Auszeichnung war für mich eine besondere Freude, da ich mich dem humanistischen Denken Erich Fromms schon seit Beginn meiner philo­sophischen und psychiatrischen Arbeit nahe gefühlt habe. Auch wenn der Humanis­mus heute häufig als anthro­pozen­trisch abgelehnt oder für obsolet gehalten wird – meine Arbeiten verstehe ich als den davon unbeirrten Versuch, angesichts der neuen Heraus­forderungen unseres Jahr­hunderts einen zeit­gemäßen Humanis­mus zu begründen. Darin sehe ich auch die Verbin­dung zu Karl Jaspers, der seine Existenz­philosophie immer mit einem gesell­schaftlichen und poli­tischen Engage­ment verknüpfte.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe!

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2024. 224 Seiten. Kart.
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