Stephan Ellinger und Oliver Hechler über Erzieherisches Sehen, Denken und Handeln im Lebenslauf

Bevor ein Mensch sein Leben selbstbestimmt führt, muss er Einiges können, Einiges wissen und Einiges wollen. Diese Fertigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen ergeben sich über den Lebenslauf nicht von selbst, sondern müssen erzieherisch angestoßen werden. Folgerichtig fragt der Pädagoge mit Blick z.B. auf ein beeinträchtigtes Lernen angesichts einer anstehenden Lernaufgabe zuallererst: „Kann er nicht, weiß er nicht oder will er nicht?“ Der entwicklungspädagogische Blick führt zu einem genuin pädagogischen Verständnis des Menschen unter den Bedingungen des Lernens und Erziehens über den Lebenslauf und ist damit in der Lage, Lernhilfen pädagogisch zu begründen und entsprechend umzusetzen. Im Interview geben Stephan Ellinger und Oliver Hechler einen Eindruck, worum es dabei geht.

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Stephan Ellinger / Oliver Hechler
Entwicklungspädagogik
Erzieherisches Sehen, Denken und Handeln im Lebenslauf

2. Auflage 2021. 196 Seiten, 4 Abb., 39 Tab. Kart. € 34,–
ISBN 978-3-17-036066-2

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Warum brauchen wir ein Buch über Entwicklungspädagogik?

Das Buch will die Entwicklung des Menschen pädagogisch greifbar machen. Wir gehen davon aus, dass der Mensch einiges können muss, einiges wissen muss und einiges wollen muss, um sein Leben selbstbestimmt führen zu können. Und wir gehen weiter davon aus, dass sich diese Fertigkeiten, Kenntnisse und Einstellungen nicht von selbst ergeben, sondern erzieherisch angestoßen werden müssen.

Wie soll ich mir das vorstellen?

Portrait der Autoren
Stephan Ellinger (links), Oliver Hechler (rechts)

Nehmen wir an, wir treffen Paul in der 3. Klasse. Bis dahin muss er schon einiges gelernt haben. Er hat auf der Ebene des Könnens gelernt, seine Wahrnehmung zu lenken, er hat gelernt, still zu sitzen, er kann zuhören, kann einen Stift halten und feinmotorisch manches zustande bringen. Im kognitiven Bereich – der Lerndimension des Wissens – hat er schon die eine oder andere Lösungsstrategie kennengelernt, hat gelernt, wie er sich Dinge merken kann, hat Gedichte gelernt und gemerkt, ob er Mathe schnell begreift oder dafür länger braucht. Und schließlich hat Paul gelernt, sich selbst Mut zuzusprechen, sich zu motivieren, auch wenn es ihm schwerfällt, Dinge zu tun, die er langweilig findet. Paul hat gelernt, seine Emotionen zu regulieren und wird es weiter lernen müssen, denn im Bereich des Wollens ist noch vieles zu lernen …

Wo genau kommt da die Pädagogik ins Spiel?

Jetzt kommt der Punkt: Nehmen wir an, Paul hat im Rechenunterricht noch nie eine Textaufgabe richtig gelöst. Was ist da los? Hängt es an seiner Arbeitstechnik, am Konzentrationsvermögen, einer anderen Fähigkeit („kann er nicht?“) oder fehlen ihm mathematische Kenntnisse („weiß er nicht?“) oder ist er gar faul, ängstlich oder mutlos („will er nicht?“)? Der entwicklungspädagogische Blick richtet seine Aufmerksamkeit auf die mit der Aufgabe verbundenen Lerndimensionen. Um eine Textaufgabe zu lösen, muss Paul die wichtigen von den nebensächlichen Informationen im Text unterscheiden können. Er muss konzentriert an die Sache gehen und Informationen hierarchisieren können. Nach dem erfolgreichen sinnentnehmenden Lesen muss er dann Wissen aufbringen: Er muss von den aus der Textaufgabe ableitbaren Rechenoperationen Kenntnis haben und diese umsetzen. Vielleicht scheitert Paul aber weder an der Fähigkeit, sich zu konzentrieren, noch am Mangel mathematischer Kenntnisse, sondern schlicht an seiner Angst vor dem unübersichtlichen Text. Er hat Angst vor dem Lesen, Angst vor Versagen und ist mutlos, weil er in den letzten Jahren gelernt hat, dass er ohne die Hilfe anderer nichts Vernünftiges zustande bekommt. Mancher Lernerfolg scheitert bereits an dieser emotionalen Voraussetzung.

Verstehe. Aber warum „Entwicklungspädagogik“?

Der Mensch bewältigt von Geburt bis zu seinem Tod unablässig verschiedene Lernaufgaben. Die Textaufgabe ist – wie jeder andere Lernprozess auch – von drei Lerndimensionen abhängig. Erst nach Bewältigung aller drei Ebenen kann Paul ein richtiges Ergebnis erzielen. Es liegt zum Beispiel auf der Hand, dass das Training mathematischer Vorläuferfähigkeiten ins Leere laufen muss, wenn sich Pauls Lernhemmung in seiner Angst vor Komplexität begründet ist. Hier muss die pädagogische Diagnostik von Lernhemmungen ansetzen, um eine begründete Vorstellung davon zu entwickeln, welche Lernhilfe geeignet erscheint, um ein Lernen aus eigener Kraft wieder möglich zu machen.

Prof. Dr. Stephan Ellinger und Prof. Dr. Oliver Hechler forschen und lehren an der Universität Würzburg.

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