Soziale Ungleichheit ist das Dauerthema, wenn es um das deutsche Bildungssystem geht. Wie das Erleben des Schulalltags für Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Familien deren Probleme verstärken kann und wie Lehrerinnen und Lehrer dem gegensteuern können, lesen Sie in unserem neuen Buch „Soziale Benachteiligung und Resonanzerleben“. Im Interview mit den Autoren des Buches erhalten Sie Einblicke in dieses komplexe Thema.
Stephan Ellinger/Lukas Kleinhenz
Soziale Benachteiligung und Resonanzerleben
Entfremdungsprozesse in der Schule
2021. 202 Seiten. Kart. € 32,–
ISBN 978-3-17-040440-3
Ein Buch, das sich mit sozialer Ungleichheit beschäftigt, klingt nicht gerade innovativ. Was ist das Besondere an dieser Veröffentlichung?
Es geht nicht um einen weiteren Versuch, gebetsmühlenartig die Ungerechtigkeit in der Schule anzuprangern und politische Veränderungen zu fordern, sondern um die Frage, wie und wann Kinder aus sozialen Gefährdungslagen in der Schule innerlich kündigen.
Innerlich kündigen, weil sie den Stoff nicht mehr verstehen, oder innerlich kündigen, weil sie diskriminiert werden?
Es steht doch die Frage im Raum, wie es sein kann, dass Jahr für Jahr tausende Erstklässler freudig erregt, stolz, lernbegierig und auch ehrgeizig zur Schule kommen und diese Schule es häufig binnen weniger Monate – oft schon bis zu den Osterferien – schafft, aus so vielen von ihnen Problemkinder zu machen. Nach den Ferien sitzen dann dort demotivierte, faule, unordentliche Mathehasser, Sportversager oder Klassenclowns. Und es trifft überdurchschnittlich oft Kinder aus sozialen Randmilieus, Kinder, deren Elternhäuser finanzielle Probleme haben und Kinder mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung.
Das ist aber nun nichts wirklich Neues.
Ja, eben. Und genau genommen wissen wir auch alle, dass Armut an sich nicht dumm macht. Trotzdem wird in den jährlichen Bildungsberichten wie selbstverständlich über diesen Zusammenhang informiert und die Logik dieser angeblichen Zwangsläufigkeit wird nicht mehr hinterfragt. Das Problem sozialer Benachteiligung scheint in den Forschungsberichten eher wie ein normales Hintergrundrauschen behandelt zu werden, dem kaum weitergehende Beachtung in die Richtung geschenkt wird zu fragen, wie es denn dazu kommt, dass soziale Differenz zu schulischem Misserfolg führt. So werden Förderprogramme, Trainings und Tests angepriesen, die angeblich gerade für lernschwache Kinder gut seien … Aber die Auffälligkeit, dass so viele Kinder aus sozialen Gefährdungslagen in der Schule scheitern, scheint niemanden wirklich zum Nachdenken zu bringen.
Und für dieses Problem haben Sie jetzt ein Rezept?
Nein, ein Rezept im Sinne einer To-Do-Liste haben wir nicht. Wir greifen die Resonanztheorie des Soziologen Hartmut Rosa auf und versuchen damit Vorgänge der Benachteiligung zu beschreiben, die sich auf der Ebene des unmittelbaren Erlebens abspielen. Auf Ebene der Schulerfahrung sozusagen. Die Institution Schule ist ohne Zweifel für viele Kinder ein lernfördernder Resonanzraum – für eine bestimmte Gruppe an Schülerinnen aber leider auch eine Entfremdungszone, die bei ihnen das Gefühl hervorbringt, hier falsch zu sein. Wenn die bürgerlich geprägte Schule für sozial randständige Schülerinnen und Schüler nicht zum Ort des Grauens, sondern des motivierten Lernens werden will, müssen ihre Akteure eine bewusste Entscheidung treffen, die zunächst trivial klingt: Es gilt, Resonanzerfahrungen ermöglichen zu wollen – und zwar für alle. Und dieser Entschluss muss dann ernsthaft nach Wegen suchen – auch dann, wenn es um Kinder geht, die ganz anders aufgewachsen sind, als die Lehrerinnen und Lehrer es kennen.
Prof. Dr. Stephan Ellinger und Lukas Kleinhenz M.A. forschen und lehren am Lehrstuhl für Pädagogik bei Lernbeeinträchtigungen der Universität Würzburg.
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