BRASILIEN

BRICS‑Erweiterung
Politische Polarisierung
Amazonas in Gefahr

Päsident Lula

Aktuell hat Brasilien die Präsident­schaft der G20 inne. Präsident Lula will das Selbst­bewusstsein des globalen Südens stärken und ihn aus seiner Abhängig­keit vom Westen befreien. Die Vorherr­schaft des Dollar soll gebrochen werden. Der Westen wäre gut beraten, sich Brasilien mehr zuzuwenden als bisher. China hat längst begonnen, seinen Einfluss in Süd­amerika und Brasilien auszubauen. Brasilien pflegt gute Kontakte nach Afrika (mehr als 50% der Brasilianer haben afrika­nische Wurzeln!) und ist dort ein Hoffnungs­träger. Grund­sätzlich erwartet Brasilien als fünftgrößtes Land der Erde und die Großmacht der Südhalb­kugel, dass es als gleich­berechtigter Partner wahrgenommen wird. Was sich nicht zuletzt darin zeigt, dass es schon seit Jahrzehnten auf einen permanenten Sitz im UN-Sicherheits­rat drängt.

Sehr geehrter Herr Nöthen, Sie haben einige Jahre als Journalist in Rio de Janeiro gelebt und bereits mehrere Bücher über Brasilien veröffentlicht, darunter zwei Biografien über die Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und Jair Bolsonaro. Jetzt haben Sie ein faszinie­rendes Buch über dieses Land in all seinen Facetten geschrieben, über die politische Polari­sierung, Bevölkerungs­gruppen und Religions­gemeinschaften, über Wirtschaft und Kultur, über das Amazonas­gebiet, über Korruptions­bekämpfung, über Milizen und Krimina­lität, und über die geschichtlichen Wurzeln der Konflikte. Wie sehen Sie die aktuelle Rolle Brasiliens auf der Bühne der Weltpolitik?

Was sich zurzeit rasant ändert, ist die welt­politische Architektur. Inzwischen schaut es so aus, als bewegten wir uns in Richtung einer multi­polaren Weltordnung. Die Staaten­gemein­schaft BRICS (Brasilien/Russland/Indien/China/Südafrika) hat kürzlich fünf neue Mitglieder aus Afrika und Nahost aufge­nommen. Der brasilia­nische Präsident Lula setzt sich vehement für eine eigene Währung ein, in der BRICS-Handels- und Investitions­transaktionen künftig vorgenommen werden sollen. Die frühere Präsidentin Brasiliens, Dilma Rousseff, ist Präsiden­tin der Entwicklungs­bank der BRICS-Staaten. Die Wirtschafts­kraft der BRICS-Staaten übertrifft jetzt schon die der G7-Länder. Allerdings hat die BRICS-Gemeinschaft bisher noch keine wirkliche gemeinsame Struktur.

Rio Sao Conrado

Brasilien spielt seine Rolle in der Welt­politik eigentlich erstaunlich konstant. Brasilien war stets bemüht, sich nicht allzu sehr von politischen Lagern vereinnahmen zulassen, sondern einen auto­nomen Stand­punkt zu wahren. In Brasilien ist man seit jeher skeptisch gegen­über den USA, die auch schon beim Militärputsch 1964 ihre Finger im Spiel hatten. Insbeson­dere in der Linken ist ein latenter Anti­amerika­nismus immer noch verbreitet, was (unter anderem) die negative Reaktion Brasiliens auf den Gaza-Krieg Israels erklärt.

Während der Präsident­schaft von Jair Bolsonaro (2018–2022) hat sich Brasilien stark verändert. Die Evangeli­kalen, die ihn in großen Teilen gestützt haben, stellen in dem einst katho­lischen Land bereits ein Drittel der Gläubigen und sind weiter auf dem Vormarsch. Die sozialen Medien spielen – anders als in Europa – in Brasilien in den Wahl­kämpfen bereits eine zentrale Rolle. Halten Sie es für möglich, dass es 2026 wieder einen Machtwechsel gibt?

Das halte ich zum jetzigen Zeitpunkt für gar nicht mal so unwahr­scheinlich. Erste Hinweise darauf, ob sich etwas verschieben könnte, werden im Herbst die Kommunal­wahlen zeigen. Auffällig ist dabei, wie polarisiert die Lage ist. Eine politische Mitte findet zurzeit nicht statt. Lula hat keine natürliche Mehrheit in den Kammern des Kongresses, er ist also immer auf Koalitionen angewiesen, vor allem mit den Zentrums­parteien. Ihnen eilt der Ruf voraus, besonders korrupt und fordernd zu sein. Und je knapper die Mehrheit, desto höher der Preis.

Sie kritisieren in Ihrem Buch alle Parteien. Präsident Lula wurde 2018 durch eine Verurteilung wegen Korruption an der Präsidentschafts­kandidatur gehindert. Unzulässige Absprachen zwischen Staats­anwälten und Richtern brachten ihn hinter Gitter und Jair Bolsonaro ins Amt. Heute wird Präsident Lula vorgeworfen, dass er alle Schlüssel­positionen der Justiz mit seinen Gefolgs­leuten besetzt. Jair Bolsonaro darf wegen Macht­missbrauchs (Wahlbetrugs­vorwürfen 2022) 2026 nicht kandidieren. Er steht aktuell wegen einer Beteiligung am Umsturzversuch am 8. Januar 2023 vor Gericht. Wie unabhängig ist die Justiz heute in Ihren Augen?

Grundsätzlich kann man sagen, dass die Justiz gute Voraus­setzungen hat. Brasilien hat sich nach der Diktatur eine moderne Verfassung gegeben, die denen europäischer Staaten, die immer als Vorbild galten, in nichts nachsteht. Zudem bewies der Oberste Gerichtshof (STF) vor allem während der Bolsonaro-Regierung, dass er stand- und wehrhaft ist und politischen Angriffen trotzen kann. Das ist zunächst ein gutes Zeichen. Aber tatsächlich besteht eine Schwach­stelle, nämlich die, dass die Richter von der Politik ernannt werden. Die 11 Richter des Obersten Gerichtshofs werden von der Politik vorgeschlagen und der Präsident hat das letzte Wort. Auch auf den unteren Gerichtsebenen werden Richter­posten von der Politik besetzt.

Markt Brasilien

Es hängt, wie so oft in Brasilien, nicht an den Rahmen­bedingungen – die sind, wie gesagt, gut. In der Praxis werden sie ausgehebelt durch den nach wie vor herrschenden Patrimonia­lismus, ein Relikt der Kolonialzeit. Diese inoffizielle Herrschafts­form beschreibt das Handeln gewisser Eliten im politischen, legislativen und judikativen Staatsapparat zum Zweck des eigenen Machterhalts, wie die Korruptions­affäre Lava Jato eindrucks­voll gezeigt hat. Die Justiz stand in den ver­gangenen Jahren ein Stück weit außen vor, galt manchen gar als sauber.

Die Abholzung im Amazonas­gebiet dient vor allem der Produktion von Fleisch und Soja für China. Im Amazonas-Mündungs­becken soll Erdöl gefördert werden. Vor einem Jahr wurde ein Gesetz beschlossen, das die Rechte der indi­genen Bevölkerung beschränkt. Wie ist die aktuelle Lage der Umwelt im Amazonasgebiet?

Die Lage ist nach wie vor sehr kritisch. Zwar sind die Holz­einschläge in der Region nach Lulas Amts­antritt gesunken, aber schaut man genauer hin, haben sie sich nur verlagert, in das angrenzende Savannen­gebiet Cerrado. Davon bleiben natürlich auch die indi­genen Völker der Region unmittelbar bedroht. Die Amazonasregion hat im vergangenen Jahr eine katastrophale Dürre­periode erlebt, die dazu führte, dass Neben­flüsse des Amazonas austrockneten. Da diese oft die einzigen Verkehrs­wege sind, führte das zu einer schlimmen humanitären Notlage. Der große Wasser­kreislauf der „fliegenden Flüsse“, der Wasser bis hinunter in den Süden trans­portiert und dort Land­wirt­schaft ermöglicht, scheint empfindlich gestört zu sein. Das werden über kurz oder lang auch Städte wie São Paulo zu spüren bekommen. Kommendes Jahr wird in Belém der nächste Klimagipfel, die COP 30, abgehalten. Wichtig ist, die Amazonas­region kann Brasilien nicht allein schützen und erhalten.

Amazonas

Präsident Lula wird im nächsten Jahr 80 Jahre alt. Jair Bolsonaro wurde das passive Wahlrecht aberkannt, er kann bei der nächsten Wahl nicht antreten. Wie könnte es weitergehen?

Eine Frage wird sein, wen die Arbeiter­partei PT als Lulas Nachfolger präsentiert. Am ehesten könnte das noch Guilherme Boulos sein, der sich nun für das Amt des Bürger­meisters von Sao Paulo in Position bringt. Anders sieht es da schon im Bolsonaro-Lager aus. Mit Tarcisio de Freitas regiert ein treuer Gefolgsmann den größten und wichtigsten Bundes­staat Sao Paulo als Gouverneur. Auch Romeu Zuma (Minas Gerais) und Cláudio Castro (Rio de Janeiro) regieren wichtige Staaten und gehören dem konser­vativen Lager an. Zuletzt wurde auch darüber spekuliert, ob nicht Bolsonaros erstgeborener Sohn Flávio für das Präsidenten­amt kandidieren soll. Mit seinen Brüdern Carlos und Eduardo könnte er die Politiklinie des Ex-Präsidenten nahtlos fortsetzen – und eine familiäre Achse bilden.

Das Interview mit Andreas Nöthen führte Karin Burger aus dem Lektorat Geschichte/Politik/Gesellschaft.

Fotos: Andreas Nöthen

Andreas Nöthen
Brasilien
Gesellschaft – Kultur – Politik

2024. 242 Seiten mit 12 Abb. Kart.
€ 36,–
ISBN 978-3-17-043773-9

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