Flucht nach Deutschland

2015 hielt eine Migrationswelle Europa in Atem. Die EU und die europäischen Regierungen gerieten unter Handlungsdruck. In Deutschland schlug die anfängliche Euphorie in Orientierungslosigkeit um.

Prof. Dr. Berthold Löffler schildert die Ereignisse und erklärt die politischen, gesellschaftlichen und juristischen Hintergründe einer Politik, die die Gegner Merkels mit Kontrollverlust, Rechtsbruch und einer demografisch-multikulturellen Umgestaltung des Landes gleichsetzten. Erste Eindrücke seines Buches in diesem Interview.

Berthold Löffler
Flucht nach Deutschland
Wie Migration Politik und Gesellschaft verändert

2020. 214 Seiten. Kart. € 28,–
ISBN 978-3-17-032377-3

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Sehr geehrter Herr Löffler, in Ihrem jüngsten Buch beschreiben Sie die Folgen der Flüchtlingskrise 2015/2016. Mit einem Wort: Wo liegen die Probleme?

Die Hauptthese meines Buches lautet: Den Regierenden ist 2015 die Richtschnur rationalen politischen Handelns abhandengekommen. Aber der politische Rationalitätsverlust war nicht die eigentliche Ursache des Desasters. Ursache war – neben Handlungskompetenzdefiziten und Führungsschwäche – die kosmopolitisch-multikulturalistische Orientierung der politischen und medialen Eliten. Das ist unserem Land in jeder Hinsicht teuer zu stehen gekommen. Nicht nur finanziell. Auch soziale, kulturelle und politische Verwerfungen sind die Folge. Die Gesellschaft ist gespalten. Die Spaltung selbst verläuft entlang einer kosmopolitisch-kommunitaristischen Konfliktlinie (Wolfgang Merkel). In Deutschland geht es in diesem Konflikt unter anderem um die Alternativen mehr Einwanderung oder weniger Einwanderung und multikulturelle oder kulturell relativ homogene Gesellschaft.

Das heißt also, die Politik hat 2015 nicht richtig reagiert?

Die Politik hat versagt. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise hat der Migrationswissenschaftler Ruud Koopmans von einer „absoluten Fehlleistung“ gesprochen. Sahra Wagenknecht hat dieser Tage Zwischenbilanz gezogen mit dem Satz: „Nein, Merkel hat es nicht geschafft.“

Wie äußerte sich der kosmopolitisch-kommunitaristische Konflikt?

Die Kosmopoliten forderten ein „Bleiberecht für alle“, die Kommunitaristen wollten den Zustrom begrenzen. Aber die Kosmopoliten waren im Vorteil. Es ist ihnen gelungen, die Migrationskrise moralisch aufzuladen und den Unterschied zwischen Migranten und Flüchtlingen zu verwischen. Das war deshalb bedeutsam, weil selbst auf dem Höhepunkt der Krise die Mehrheit der Flüchtlinge aus Migranten bestand, die lediglich auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa waren.

Lässt sich etwas Genaueres über den eigentlichen Kern dieses Konfliktes sagen?

Wir haben es mit zwei grundlegend unterschiedlichen Sichtweisen zu tun: mit einer kosmopolitisch-multikulturalistischen und einer kommmunitaristisch-demokratischen. Die Parolen „open borders“ und „Bleiberecht für alle“ stehen letztlich für die kosmopolitische Forderung nach einem Menschenrecht auf Einwanderung bzw. globale Niederlassungsfreiheit und die Abschaffung des Nationalstaates. Die kommunitaristische Seite hingegen hängt am Nationalstaat und besteht auf der demokratischen Selbstbestimmung der jeweiligen Gesellschaft. Diese Selbstbestimmung umfasst die rechtliche und moralische Befugnis, selbst zu entscheiden, ob überhaupt, und wenn ja, welche und wieviel Einwanderer eine Gesellschaft aufnehmen möchte. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin hält das demokratische Selbstbestimmungsrecht sogar für ein Menschenrecht.

Wird diese dualistische Vorstellung überhaupt der Komplexität der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit gerecht?

Natürlich ist die Realität komplexer, nuancenreicher. Das Modell des kosmopolitisch-kommunitaristischen Konfliktes ist im Sinne Max Webers „idealtypisch“ gedacht. So gibt es auch Menschen, die hin und hergerissen sind zwischen den beiden Polen. Viele von ihnen zeigen eine Art von kosmopolitischer Verunsicherung: Ist es nicht unmenschlich und ungerecht, wenn reiche Länder wie Deutschland Migranten aus armen Ländern zurückweisen? Die kosmopolitische Verunsicherung ist eine wichtige Ursache für den Legitimitätsverlust des demokratischen Selbstbestimmungsrechtes. Dass Nationen das Recht haben, über Einwanderung und Zusammensetzung ihrer Bevölkerung selbst zu bestimmen, war bisher unbestritten. Diese Vorstellung scheint aber ihre Selbstverständlichkeit verloren zu haben. Verbreitet scheint die Ansicht, es käme hauptsächlich darauf an, dass ein Migrant oder Flüchtling in Deutschland leben möchte. Wenn dann noch ein Arbeitsplatz hinzukommt oder die Kinder hier zur Schule gehen, dann gilt eine Rückkehr ins Herkunftsland als unzumutbar.

Aber was spricht denn gegen ein Menschenrecht auf Einwanderung?

Der Nationalstaat ist aus ökonomischen und kulturellen Gründen auf Grenzen angewiesen. Er beruht auf dem Prinzip der Exklusion einer Mehrheit von Nichtbürgern und der Inklusion einer begrenzten Zahl von Bürgern. Nur so kann er demokratischer Rechtsstaat und vor allem Sozialstaat sein. Insbesondere der Sozialstaat ist ohne Grenzen und nationale Solidarität undenkbar. Oder um das berühmte Bonmot von Milton Friedman zu bemühen: Man kann schon „offene Grenzen UND einen Sozialstaat haben – nur nicht zur gleichen Zeit.“

Migration als historisches Phänomen ist aber doch ein ganz normaler Vorgang …

Natürlich, aber das ist eine Binsenweisheit, die nichts erklärt. Die Frage ist doch: Welche Migration? Wieviel Migration? Ist sie erwünscht oder nicht? Ist sie Bedrohung oder Bereicherung der Aufnahmegesellschaft? Geht es um unbeschränkte Einwanderung? Oder um selektive Einwanderung?

Was hätte die Politik damals anders machen müssen und – noch viel wichtiger – welche Maßnahmen sollte die Politik Ihrer Meinung nach heute ergreifen?

Was die Politik damals hätte anders machen müssen, ergäbe ein weiteres Buch. An der Frage, was sie jetzt machen müsste, scheiden sich die Geister, obwohl sich alle einig sind, dass das EU-Asylrecht reformiert werden muss. Schaut man genau hin, erkennt man unüberbrückbare Differenzen. Die Kosmopoliten wollen nicht weniger, sondern mehr Einwanderung, allerdings eine Einwanderung, die in geordneten Bahnen verläuft. Die Kommunitaristen wollen weniger oder gar keine Einwanderung. Der Konstanzer Völkerrechtler Daniel Thym vertritt eine mittlere Position, die typisch für den Mainstream ist. Er sagt: „Wir brauchen eine Reform, die in der Praxis auch funktioniert. Das heißt: Schutz für diejenigen, die Schutz brauchen. Aber auf der anderen Seite heißt das eben auch, dass diejenigen, die keinen Schutz brauchen, nicht in die EU gelassen werden.“ Aber genau das wird seit Jahrzehnten erfolglos versucht. Diese Position jongliert also ein weiteres Mal mit der Selbsttäuschung, man könne das Asylrecht reformieren, ohne wirklich etwas zu verändern. Es fehlt die Einsicht in die Tatsache, dass das geltende Flüchtlings- und Migrationsrecht dysfunktional geworden ist. Verschärft wird diese Dysfunktionalität durch ausufernde Rechtsschutzmöglichkeiten und einen sterilen Juristizismus. Dieser Juristizismus schlägt sich nieder in einer Rechtsprechung, die sich von ihrem ursprünglichen rechtlichen Zweck und von der historischen, politischen und sozialen Realität gelöst hat. Eine in der Öffentlichkeit besonders häufig diskutierte Folge ist, dass Abschiebungen kaum stattfinden. Wer es nach Deutschland geschafft hat, bleibt in aller Regel. Und zwar unabhängig davon, ob er einen Rechtsanspruch auf Bleiben hat oder nicht. Wer also wirklich etwas ändern will, muss sehr tief in die Architektur des Asyl- und Flüchtlingsrechts eingreifen.

Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Polarisierung ist eine Lösung dieses Konfliktes von zunehmender Bedeutung. Was schlagen Sie vor?

Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft lässt sich nur stoppen, wenn wir zu einem offenen und breiten gesellschaftlichen Diskurs (zurück)kommen. Dass sich der Meinungskorridor in Deutschland stark verengt hat, behaupten ja längst nicht nur Leute aus dem rechten politischen Spektrum. Das haben in letzter Zeit auch ganz andere gesagt, wie etwa Bernhard Schlink, Nils Heisterhagen, Ivan Krastev oder Jakob Augstein. Demokratische Meinungsbildung muss den ganzen politischen Möglichkeitsraum umfassen. Was nicht unters Strafrecht fällt, muss gesagt und geschrieben werden können, ohne das Damoklesschwert einer Art von moderner Reichsacht.

Das Interview führte Dr. Peter Kritzinger aus dem Verlags­bereich Geschichte/ Politik/ Gesell­schaft.

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