Nach Angriff Russlands auf die Ukraine kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Ein „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro soll die Ausrüstung der Bundeswehr verbessern und ihre Einsatz-, Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit stärken. Generell ist damit ein seit dem Ende des Kalten Krieges größtenteils vernachlässigtes Thema zurück auf der Tagesordnung: die nationale Sicherheit und die Verteidigung Deutschlands mit militärischen Mitteln. Wie gehen Gesellschaft und Politik mit dieser Thematik um? Wie verändert sich Deutschlands Rolle in Europa und der Welt? Und was bleibt gut ein Jahr später von der angekündigten Zeitenwende?
Malte Riemann und Georg Löfflmann haben zu diesen Fragen ExpertInnen aus der Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschung versammelt. Lesen Sie erste Eindrücke in unserem Interview mit den Herausgebern.
Malte Riemann/Georg Löfflmann (Hrsg.)
Deutschlands Verteidigungspolitik
Nationale Sicherheit nach der Zeitenwende
2023. 210 Seiten, 2 Abb., kartoniert. € 25,–
ISBN 978-3-17-043182-9
Herr Riemann, Herr Löfflmann, Olaf Scholz’ Ankündigung einer „Zeitenwende“ ist nun gut ein Jahr her. Lässt sich schon eine erste Bilanz wagen? Wird Deutschland zu einer robusten Militärmacht?
Riemann: Ein Jahr später ist es schwierig, eine endgültige Bilanz zu ziehen, da viele der vorgeschlagenen Maßnahmen noch in der Umsetzung sind. Die Erhöhung des Verteidigungshaushalts, die von Olaf Scholz angekündigt wurde, ist ein wichtiger Schritt, um die Fähigkeiten der Bundeswehr zu stärken und eine robustere Militärmacht zu werden. Insgesamt ist jedoch noch viel Arbeit erforderlich, um Deutschlands Rolle als wichtige Sicherheits- und Verteidigungskraft in Europa und der Welt zu stärken. Es bleibt abzuwarten, wie die Umsetzung der geplanten Maßnahmen in den nächsten Jahren verläuft und wie erfolgreich Deutschland dabei sein wird, seine Rolle als robuste Militärmacht zu stärken. Aber insgesamt gibt es positive Signale dafür, dass Deutschland auf einem guten Weg ist, seine internationalen Verpflichtungen in diesem Bereich zu erfüllen.
Löfflmann: Bisher drückt sich die Zeitenwende vor allem in der politischen Rhetorik aus, als Bejahung und Bekräftigung einer sicherheitspolitischen Führungsrolle Deutschlands in Europa, die auch entsprechend militärisch untermauert werden soll. Was die praktische Umsetzung angeht, steht die Zeitenwende aber bestenfalls am Anfang. In materieller Hinsicht steht die Bundeswehr beispielsweise noch schlechter da als vor der Rede von Scholz am 27.2. letzten Jahres, da Material an die Ukraine abgegeben, aber bisher noch nicht ersetzt wurde. Das erste Jahr der Zeitenwende war für die Bundeswehr ein verlorenes Jahr. Wenn der Bundeskanzler seine Versprechen, z. B. die Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels der NATO, auch einhält, hat Deutschland aber auf jeden Fall das Potential, den Anspruch einer Führungsrolle auch einzulösen.
Warum dauert es hierzulande eigentlich so lange, Rüstungsvorhaben in die Tat umzusetzen?
Riemann: Es gibt verschiedene Gründe, warum es in Deutschland oft lange dauert, Rüstungsvorhaben umzusetzen. Zum einen gibt es eine große Bürokratie und zahlreiche Genehmigungsverfahren, die durchlaufen werden müssen, bevor ein Projekt realisiert werden kann. Zum anderen sind die Anforderungen an die Qualität und die technischen Spezifikationen oft sehr hoch, was zu einem längeren Entwicklungsprozess führen kann. Zudem müssen Rüstungsvorhaben auch den politischen Prozess durchlaufen, was oft zu Verzögerungen führt. Es gibt verschiedene Interessengruppen, die in den Entscheidungsprozess eingebunden sind und ihre eigenen Interessen vertreten. Dabei kann es zu Konflikten und Verzögerungen kommen.
Löfflmann: Wir haben in Deutschland nicht nur ein Problem mit der chronischen Unterfinanzierung der Streitkräfte im Zuge der ‚Friedensdividende‘, sondern auch ein strukturelles Problem, wie der Rüstungsbeschaffungsprozess organisiert ist. Bürokratisierung, Überregulierung, zersplitterte Zuständigkeiten, eine Absicherungsmentalität im Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr und im Verteidigungsministerium, die statt schneller Ergebnisse vor allem auf rechtlich wasserdichte Verfahren setzt, und die Neigung, bei militärischen Anforderungen auf kostspielige Neuentwicklungen und 100-Prozent-Lösungen zu bestehen, statt auf marktverfügbare System zu setzten, die auch bei anderen Streitkräften bereits im Einsatz sind, verzögern den Zulauf dringend benötigter Systeme für die Bundeswehr. Wir stehen uns da in Deutschland leider zu oft selbst unnötig im Weg.
Immer wieder ist von deutschen Politikern zu hören, Deutschland strebe sicherheitspolitisch größere Verantwortung, ja eine Führungsrolle an, sei es in der EU, der NATO oder den UN. Ist das eine wünschenswerte Rolle und für wie realistische halten Sie das?
Riemann: Die Frage nach der deutschen Rolle in der internationalen Sicherheitspolitik ist eine komplexe und kontroverse Frage. Einige argumentieren, dass Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung eine größere Verantwortung übernehmen sollte, während andere skeptisch sind, ob eine größere militärische Rolle tatsächlich im Interesse Deutschlands und der internationalen Gemeinschaft liegt. Es gibt auch die Frage der praktischen Umsetzbarkeit. Die Stärkung der militärischen Fähigkeiten und die Übernahme einer Führungsrolle erfordern nicht nur eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben, sondern auch eine Änderung der deutschen Außenpolitik und eine breitere Unterstützung in der deutschen Bevölkerung. Insgesamt ist die Frage nach der deutschen Rolle in der internationalen Sicherheitspolitik eine Frage von nationalen Prioritäten und internationalen Entwicklungen. Ob Deutschland tatsächlich eine größere Verantwortung und Führungsrolle in der Sicherheitspolitik übernehmen will und wird, hängt von diesen Faktoren ab und bleibt abzuwarten.
Sehen Sie die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr wieder vornehmlich im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung oder werden Kriseninterventionen und Auslandseinsätze weiterhin eine große Rolle spielen?
Riemann: Die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr werden sich wahrscheinlich weiterhin auf verschiedene Bereiche konzentrieren. Die Landes- und Bündnisverteidigung wird immer von großer Bedeutung bleiben, insbesondere angesichts der aktuellen sicherheitspolitischen Lage in Europa und der globalen Bedrohungen. Gleichzeitig ist jedoch auch zu erwarten, dass Kriseninterventionen und Auslandseinsätze weiterhin eine wichtige Rolle spielen werden, da Deutschland als Mitglied der internationalen Gemeinschaft Verantwortung übernehmen muss, um globale Krisen und Konflikte zu bewältigen. Es ist daher wichtig, dass die Bundeswehr in der Lage ist, flexibel, schnell und angemessen auf verschiedene Szenarien zu reagieren, sowohl auf nationale als auch auf internationale Herausforderungen.
Löfflmann: Im Zuge der Zeitenwende wird die Landes- und Bündnisverteidigung für die deutschen Streitkräfte strukturbestimmend sein. Das heißt aber nicht, dass die Bundeswehr nicht auch in der Lage sein muss, weiterhin Auslandseinsätze auch außerhalb des NATO-Territoriums durchzuführen. Das Spektrum der militärischen Aufgaben reicht dabei von Evakuierungsoperationen wie jetzt im Sudan über die Ausbildungshilfe für die Streitkräfte befreundeter Staaten, z. B. in Afrika, bis hin zur Unterstützung demokratischer Partner im asiatisch-pazifischen Raum, etwa bei gemeinsamen Übungen von Luftwaffe und Marine mit Japan und Australien.
In der Vergangenheit hatte man oft den Eindruck, die Bundeswehr hat in der deutschen Gesellschaft nicht den besten Ruf. Man belustigte sich beispielsweise gern über nicht-einsatzbereites Gerät oder träge Strukturen, Teile der Bevölkerung sind auch recht antimilitaristisch geprägt. Teilen Sie diese Diagnose vom schlechten Ruf – und ist, was den gesellschaftlichen Rückhalt angeht, seit dem Ukrainekrieg eine Veränderung zu beobachten?
Riemann: Es stimmt, dass die Bundeswehr in der deutschen Gesellschaft nicht immer den besten Ruf hatte. Dies hängt unter anderem mit der deutschen Vergangenheit und dem Wunsch nach einer friedlichen Zukunft zusammen. In der Vergangenheit gab es auch Skandale und Pannen, die das Vertrauen in die Bundeswehr beeinträchtigten.In jüngerer Zeit hat sich die Situation jedoch geändert, insbesondere seit dem Ukrainekrieg, und es gibt eine wachsende Anerkennung für die Arbeit und den Einsatz der Soldatinnen und Soldaten. Dennoch bleibt die kritische Haltung gegenüber Militär und Krieg in der deutschen Gesellschaft tief verwurzelt, weshalb es wichtig ist, dass die Bundeswehr ihre Arbeit transparent und verantwortungsvoll ausführt, um das Vertrauen der Bevölkerung zu stärken.
Löfflmann: Der Krieg in der Ukraine hat ein nie dagewesenen öffentliches Interesse an Sicherheits- und Verteidigungspolitik und dem Zustand der Bundeswehr in Deutschland nach sich gezogen. Vor diesem Hintergrund wenden wir uns in unserem Sammelband bewusst nicht an ein Fachpublikum, sondern wir wollen Leserinnen und Lesern, die vielleicht erst jetzt im Zuge der Zeitenwende auf das Thema Sicherheit aufmerksam geworden sind, eine kompakte und prägnante Einführung bieten. Dabei geht es auch um den gesellschaftlichen Rückhalt der Streitkräfte in Deutschland und den Wandel kultureller Leitbilder. Im Großen und Ganzen können wir feststellen, dass die Bundeswehr als Institution weiterhin großes Ansehen genießt, dass in der deutschen Bevölkerung aber auch Zweifel gewachsen sind, was die materielle Einsatzfähigkeit der Bundeswehr betrifft. Hier muss die Zeitenwende schnell zu spürbaren Verbesserungen führen, um in der Bevölkerung verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen.
Das Interview mit Dr. Malte Riemann und Dr. Georg Löfflmann führte Dr. Julius Alves aus dem Lektorat aus dem Lektorat Geschichte/ Politik/ Gesellschaft.
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