Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass das Interesse an der Psychoanalyse in den letzten Jahren wieder im Aufwind ist.
Deutlich wird das etwa an dem regen Interesse an psychoanalytischer Ausbildung und auch psychoanalytische Publikationen sind wieder stärker nachgefragt. Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen:
So lassen die unübersehbaren Folgen des Klimawandels, die Corona-Pandemie und die Auseinandersetzung mit der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens angesichts des maßlosen und zerstörerischen Lebensstils der westlichen Welt bei vielen jüngeren Menschen die Frage aufkommen, wie man sich zu den bisherigen Wertvorstellungen verhalten kann.
Weitermachen wie ehedem oder sich von überkommenen Einstellungen und Gewohnheiten doch lösen?
Die Auseinandersetzung damit kann aber nur dann auf kreative Weise gelingen, wenn der oder die Einzelne die unbewussten Beweggründe des individuellen wie auch des kollektiven Handelns reflektiert und Änderungen verwirklicht.
Dies sind wesentliche Ziele der psychoanalytischen Praxis.
Die Psychoanalyse steht aber immer wieder auch in der Kritik. Auf zwei vielfach diskutierte Punkte möchte ich hier eingehen.
Nach 120 Jahren Psychoanalyse halten viele Menschen die Entdeckungen Freuds für hoffnungslos veraltet.
Auch wenn die Psychoanalyse in den Augen vieler als überholt und unwissenschaftlich gilt, so ist das Aufspüren nicht bewusster, unreflektierter Handlungsabsichten eine Aufgabe, die niemals ihre Wichtigkeit verlieren wird. Es sei denn, es gelänge eines Tages, unsere Gehirne so zu verändern, dass alle individuellen Bedeutungen, alle intergenerationellen Tradierungen, alle vor- und unbewussten Vorgänge der Sinnerzeugung getilgt wären.
Psychoanalytikern wird mitunter vorgehalten, dass sie bei ihrem therapeutischen Vorgehen Auffassungen oder Hypothesen verwenden würden, die von anderen Wissenschaften längst nicht mehr vertreten werden.
Bei dieser Einschätzung wird übersehen, dass sich die Psychoanalyse hinsichtlich ihrer Annahmen über die Entstehung psychischer Erkrankungen, die Entwicklung seelischer Strukturen, sozialer und gesellschaftlicher Vorgänge selbstverständlich weiterentwickelt und in eine Vielzahl unterschiedlicher Richtungen diversifiziert hat.
Es gibt einen regen weltweiten Austausch, vor allem in den psychoanalytischen Fachgesellschaften, wie zum Beispiel der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Interdisziplinäre Betrachtungen wie etwa in der Klinischen Psychoanalyse sind seit Jahrzehnten selbstverständlich, auch wenn die jeweils andere Methodik es gebietet, den Nutzen derartiger Vergleiche immer wieder auf die psychoanalytische Situation zu beziehen.
Die Psychoanalyse als „Diskursbegründerin“ (Foucault) wird auch weiterhin bei vielen wissenschaftlichen Themen gefragt bleiben.
Prof. em. Dr. Wolfgang Mertens war von 1982 bis 2011 Professor für Klinische Psychologie und Psychoanalyse am Department für Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Er ist Autor zahlreicher Fachbücher zu psychoanalytischen Themen.
Wolfgang Mertens (Hrsg.)
Handbuch psychoanalytischer Grundbegriffe
2022. 1.200 Seiten mit 16 Abb. und 13 Tab. Fester Einband
€ 129,–
ISBN 978-3-17-041460-0
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