Diagnostik in der ambulanten Psychotherapie

Ein Lehr- und Praxishandbuch

 

Im Interview berichten die AutorInnen des Buches „Diagnostik in der ambulanten Psychotherapie“, Dr. Sarah K. Schäfer, Dr. Christian G. Schanz und Prof. Dr. Monika Equit, warum in ihrem Buch die ambulante psychotherapeutische Behandlung im Fokus steht, was bei der Diagnostik von Persönlichkeitsstilen und -störungen aus therapeutischer Sicht zu beachten ist und weshalb es wichtig ist, sowohl störungs- als auch problemorientierte Aspekte bei der Diagnostik zu berücksichtigen.

Portrait von Dr. Sarah K. Schäfer
Dr. Sarah K. Schäfer

Eine fundierte störungs- und problemorientierte Diagnostik gilt als Voraussetzung für evidenzbasiertes psychotherapeutisches Handeln. Welcher Stellenwert kommt der Diagnostik zu Beginn einer Psychotherapie zu?

Schäfer: Die Diagnostik ist die Grundlage der Fallkonzeption und damit die Basis aller therapeutischen Entscheidungen. Zuerst kommt das Wahrnehmen, dann das Verstehen und dann erst das Anstoßen eines Veränderungsprozesses. Ist die Wahrnehmung verzerrt, weil z. B. Informationen unberücksichtigt bleiben, oder das Verstehen misslingt, weil beispielsweise aus den erfassten Informationen unzulässige Schlüsse gezogen werden, wird auch der Veränderungsprozess erschwert. Eine fundierte Diagnostik ist daher eine notwendige Voraussetzung für eine gelungene Therapie.

Equit: Zudem ist es wichtig, hervorzuheben, dass die Diagnostik nicht nur zu Beginn einer Psychotherapie einen hohen Stellenwert hat. Sie begleitet den gesamten Therapieverlauf. Psychotherapie ist dabei kein linearer Prozess. Häufig finden bereits in den ersten Sitzungen therapeutische Interventionen statt und genauso häufig werden auch noch in der Langzeittherapie relevante diagnostische Erkenntnisse gewonnen. Es ist ein lebendiger Prozess, bei dem sich diagnostische Methoden und Intervention abwechseln und ergänzen können.

Ihr Buch fokussiert die ambulante psychotherapeutische Behandlung. Warum betrachten Sie primär dieses Anwendungsfeld?

Schanz: Als wir den Aufbau unseres Buches geplant haben, war es uns wichtig, den Spagat zwischen inhaltlicher Breite und Tiefe zu schaffen. Das heißt, wir wollten alle praktisch relevanten Themen eines Anwendungsfelds behandeln, ohne dabei die Nähe zum Therapiealltag zu vernachlässigen. Daher haben wir uns auf die detaillierte Darstellung eines klinischen Settings fokussiert, auf das die Fallbeispiele und Praxisanleitungen sowie die Darstellung der zeitlichen Struktur des diagnostischen Prozesses zugeschnitten sind. Die ambulante Therapie ist auch deswegen besonders spannend, da ihr zeitlicher Horizont eine komplexe Problemanalyse zulässt, die in stationären Settings oft nur eingeschränkt möglich ist.

Schäfer: Ein weiterer Grund für den Fokus auf die ambulante Tätigkeit war, dass die Ambulanzzeit – in der Wahrnehmung vieler angehender TherapeutInnen – größere Herausforderungen an die diagnostische Kompetenz der Auszubildenden stellt als ihre Zeit in der Klinik. In Kliniken gibt es oftmals ein standardisiertes diagnostisches Vorgehen, es gibt einen reichhaltigen interdisziplinären Austausch und die Auszubildenden erhalten hochfrequent Feedback. In der Ambulanzzeit leisten SupervisorInnen selbstverständlich einen großen Beitrag zur Qualitätssicherung und bieten Auszubildenden ebenfalls die Möglichkeit, Fälle zu diskutieren und das diagnostische Vorgehen zu besprechen. Das Feedback ist jedoch weniger engmaschig und die Arbeit erfordert mehr Selbstständigkeit. Daher waren wir der Ansicht, dass Auszubildende gerade in der Ambulanzzeit von einem praxisnahen Lehrbuch profitieren können.

Portrait von PD Dr. Christian G. Schanz
Dr. Christian G. Schanz

In Ihrem Buch legen Sie Wert auf eine enge Verzahnung zwischen diagnostischen Grundlagen und praktischen Anwendungsbeispielen. Was war Ihnen bei der Konzeption Ihres Werkes außerdem wichtig?

Schanz: Es war uns wichtig, ein möglichst hohes Maß an Wissenschaftlichkeit mit einer hohen Anwenderfreundlichkeit zu verbinden. Das heißt, wir wollten die „Scientist Practitioner Gap“ etwas kleiner machen. Wir glauben, eine enge Verzahnung von Wissenschaft und therapeutischer Praxis ist wichtig. Praktisch etablierte Methoden sollten empirischen Überprüfungen standhalten und wissenschaftliche Schlussfolgerungen müssen sich praktisch bewähren. Dazu gehörte für uns auch eine hohe Transparenz, d. h. wir wollten stets nachvollziehbar machen, ob eine Empfehlung empirisch gestützt ist, aus theoretischen Modellen abgeleitet wurde oder auf praktischer Erfahrung basiert.
Auch die Differenzialdiagnostik wird in Ihrem Buch anschaulich beschrieben. Was ist mit diesem Begriff gemeint und – für den Laien – warum sollte diese am Anfang einer Therapie unbedingt berücksichtigt werden?

Equit: Während die Feststellung, dass „irgendeine“ psychische Störung vorliegt, in der Regel einfach ist, ist die Feststellung, welche psychische Störung vorliegt, oft schwieriger. Das Stellen einer spezifischen Diagnose ist Gegenstand der Differenzialdiagnostik. Sie dient der Unterscheidung, also der Differenzierung, zwischen einzelnen Störungsbildern. Die Identifikation der vorliegenden Störung ist insbesondere bei einem störungsorientierten therapeutischen Vorgehen bedeutsam, da die Diagnose hier einen großen Einfluss auf die Gestaltung des therapeutischen Vorgehens hat, wie z. B. die Expositionstherapie bei der Agoraphobie. Bei der Darstellung der Differenzialdiagnostik war es uns wichtig, nicht „nur“ die Kriterien einzelner psychischer Störungen gegenüberzustellen, sondern auch konkrete Hinweise zur praktischen Durchführung in Form von Fallbeispielen und Formulierungshilfen zu geben.

In Ihrem Werk befinden sich jeweils ein Kapitel zur störungsübergreifenden und eines zur störungsspezifischen Diagnostik. Wieso müssen bei der Therapieplanung beide Ebenen berücksichtigt werden?

Schäfer: Psychische Störungen teilen eine Vielzahl prädisponierender, auslösender und aufrechterhaltender Faktoren. So beginnt beispielsweise eine Akutsymptomatik in den meisten Fällen vor dem Hintergrund akuter oder chronischer Stressbelastungen, beinahe alle psychischen Störungen führen zu interaktionellen Problemen und bei den meisten PatientInnen liegt ein dysfunktionales Verhältnis aus Vermeidungs- und Annäherungsplänen vor. Diese und ähnliche Einflussfaktoren sind für das Problemverständnis und die Behandlung sehr relevant. Die diagnostischen Methoden zu ihrer Erfassung sind störungsübergreifend anwendbar und nützlich. Das heißt, in den entsprechenden Kapiteln haben wir Methoden vorgestellt, die bei beinahe allen PatientInnen – mit unterschiedlicher Gewichtung – zielführend anwendbar sind. Gleichzeitig gibt es jedoch auch Methoden, die sich vor allem vor dem Hintergrund spezifischer Störungen als nützlich erwiesen haben bzw. für deren (störungsorientierte) Behandlung von besonderer Relevanz sind. Diese störungsspezifischen Methoden sind keine Alternative zu den störungsübergreifenden diagnostischen Methoden, sondern ergänzen diese.

Equit: Sowohl bei den störungsübergreifenden als auch den störungsspezifischen Methoden war es uns wichtig, ein breites Feld an Methoden vorzustellen, das sowohl individuellen PatientInnen-Charakteristika als auch Präferenzen der TherapeutInnen gerecht wird. Daher haben wir die Darstellung „klassischer“ kognitiv-verhaltenstherapeutischer Vorgehensweisen um Inhalte und Methoden aus „Dritte-Welle“-Verfahren ergänzt. Diese wurden so aufbereitet, dass sie auch ohne spezifisches Vorwissen in den diagnostischen Prozess eingebunden werden können. Insbesondere bei der Einführung grundlegender diagnostischer Überlegungen sowie bei der Darstellung störungsübergreifender Methoden war es uns außerdem wichtig, den Blick der LeserInnen auch auf psychodynamische und systemische Ansätze und Methoden zu lenken.

Portrait von Prof. (apl.) Dr. Monika Equit
Prof. (apl.) Dr. Monika Equit

Auch auf die Diagnostik von Persönlichkeitsstilen und -störungen gehen Sie in einem Kapitel gesondert ein. Was hat Sie dazu bewogen, hierfür ein eigenes Kapitel aufzunehmen?

Schäfer: Unserer Erfahrung nach stellt die Diagnostik von Persönlichkeitsstilen und -störungen TherapeutInnen und Auszubildende vor Herausforderungen. Das liegt unter anderem daran, dass Persönlichkeitsstile und -störungen in der Regel ich-synton sind, d. h. nicht als Teil eines Problems erlebt werden, und sich die mit ihnen verbundene Beziehungsdynamik auch auf den diagnostischen Prozess auswirkt. Darüber hinaus treten Persönlichkeitsstörungen beinahe nie allein auf, d. h. es liegen häufig komorbide Persönlichkeitsstörungen oder eine komorbide Akutsymptomatik vor. Daher ist es unserer Erfahrung nach zielführend, die störungsorientierte Betrachtungsweise dieser Symptombilder um eine problemorientierte Perspektive zu ergänzen. Das soll es den LeserInnen erleichtern, die Beziehungsdynamik auch bei Mischformen von Persönlichkeitsstilen und -störungen adäquat zu erfassen. Hierfür stellen wir insbesondere Methoden, theoretische Inhalte und Forschungsbefunde zu schematherapeutischen und klärungsorientierten Ansätzen vor.

Schanz: Hier ist es wichtig, zu erwähnen, dass in der angekündigten ICD-11 die kategoriale Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen beinahe vollständig durch eine dimensionale Diagnostik ersetzt wird. In Zukunft wird daher der Fokus insbesondere auf einer problemorientierten und weniger einer störungsorientierten/kategorialen Betrachtung von Persönlichkeitsstilen und -störungen liegen. In unserem Kapitel zu Persönlichkeitsstilen und -störungen haben wir daher versucht, sowohl dem aktuell gültigen als auch dem zukünftigen Diagnostiksystem gerecht zu werden.

Das Buch verfügt über online abrufbare Zusatzmaterialien, die für den Einsatz in der therapeutischen Praxis gedacht sind. Welche Unterstützungshilfen bieten Sie den LeserInnen an?

Equit: Die Onlinematerialen bestehen aus zwei Arten von Inhalten: Multiple-Choice-Fragen zur Lernkontrolle und Vorlagen zur Anwendung von Buchinhalten in der therapeutischen Praxis. Die Lernkontrollen sind vor allem für Studierende klinischer Masterstudiengänge hilfreich und sollen u. a. die Vorbereitung auf Prüfungen aber auch den Lernprozess als solchen unterstützen. Bei den Lernkontrollen haben wir zu jedem Kapitel Fragen formuliert, die wir in dieser Form auch in Klausuren für unsere Studierende einsetzen würden. Die Vorlagen bestehen u. a. aus einem Leitfaden für ein Erstgespräch, einem Arbeitsblatt zur Analyse der Beziehungsdynamik der PatientInnen, einer Checkliste zum Screening auf spezifische psychische Störungen sowie vergleichbaren Hilfsmitteln. Es handelt sich um Materialien, die ich entweder im Rahmen meiner SupervisorInnen-Tätigkeit für Auszubildende erstellt habe oder die wir im Rahmen unserer eigenen therapeutischen Tätigkeit nutzen.

Neu!

Schäfer/Schanz/Equit
Diagnostik in der ambulanten Psychotherapie
Ein Lehr- und Praxishandbuch

2022. 202 Seiten mit 17 Abb. und 6 Tab. Kart.
€ 36,–
ISBN 978-3-17-041194-4

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