Die Lügen, die wir uns selbst erzählen

Wie man sich der Wahrheit stellt, sich selbst akzeptiert und ein besseres Leben führt

Das Verhalten und die Einstellungen von Menschen widersprechen sich häufig – ein Spannungszustand, der oft zum Selbstbetrug führt. Warum belügen wir uns selbst? In vielen Fällen, um eine schmerzhafte Wahrheit zu vermeiden. Das Problem: Wir sehen meist nicht einmal, dass wir uns selbst täuschen.
Anlässlich des Erscheinens der deutschen Übersetzung des Werkes „The Lies We Tell Ourselves“ haben wir mit dem Autor Jon Frederickson das folgende schriftliche Interview geführt.

Portrait von Jon Frederickson
Jon Frederickson

Herr Frederickson, was hat Sie dazu veran­lasst „Die Lügen, die wir uns selbst erzählen“ zu schreiben?

Ich habe das Buch geschrieben, weil ich glaube, dass wir Gefahr laufen, das Warum der Therapie aus den Augen zu verlieren. In einer Therapie geht es nicht einfach nur darum, Ratschläge zu erteilen oder die „falschen“ Gedanken eines Patienten oder einer Patientin ganz trivial zu korri­gieren. Auch geht es keines­falls darum, eine neu entdeckte Technik an einem Objekt anzu­wenden. Eine Therapie ist immer eine intime Beziehung zwischen zwei Menschen, die versuchen, sich den Wahr­heiten des Lebens zu stellen, denen wir ansonsten so leicht aus­weichen. Durch die Lügen, die wir uns selbst erzählen, werden wir krank. Aber wenn wir uns der Wahrheit über uns selbst, über andere und über das Leben stellen können, müssen wir uns nicht mehr krank machen.

Wen möchten Sie mit Ihrem Buch im Besonderen ansprechen?

Ich habe dieses Buch für alle Menschen geschrieben, die an einer Therapie interessiert sind und die sich selbst besser verstehen möchten. Ich glaube fest daran, dass jeder von uns von dem Wunsch beseelt ist, eins zu werden mit der emotio­nalen Wahr­heit unseres Lebens.

Wie lauten denn klassische Lügen, die sich Menschen selbst erzählen?

Einige der klassischen Lügen, die wir uns selbst erzählen, sind die folgenden:

Warum täuschen Menschen sich eigentlich selbst? Warum können oder wollen wir unsere Lügen oft nicht aus eigener Kraft erkennen?

Wir lügen, um das Leid in unserem Leben zu verdrängen. Vielleicht sagen wir: „Ach, so schlimm ist es doch gar nicht“, um uns nicht damit auseinander­setzen zu müssen, dass wir einen schlechten Job haben, mit einem Ehepartner zusammen­leben, der uns miss­handelt, oder an einer lebens­bedrohlichen Krankheit leiden. Oft sind wir versucht, auf die Fehler der anderen herab­zuschauen, nur um unsere eigenen nicht wahr­nehmen zu müssen. So belügen wir uns selbst, um ein von uns gehegtes Selbst­bild aufrecht­zuerhalten, das aber eigentlich falsch ist. Wir wollen uns unseren Lügen oft nicht stellen, weil wir dann mit den schmerz­lichen Wahrheiten über uns und das Leben konfron­tiert wären.

Sie schildern in Ihrem Werk viele Fall­beispiele von Menschen, die Schweres ertragen mussten. Kann für diese Menschen aus den Erfah­rungen grund­sätzlich „Heilung“ erwachsen? Können auch Leserinnen und Leser, die sich weniger belastet fühlen, von Ihrem Buch profi­tieren?

Überraschenderweise erholen sich die meisten Menschen, die ein Trauma erlitten haben, nicht nur, sondern sie wachsen auch daran. Wir alle lügen gelegent­lich, um den Schmerz in unserem Leben zu verdrängen. Das Problem ist, dass diese Lügen zu psycho­logischen Problemen führen. Eine Frau, die z. B. ihre Wut auf jemand anderen unter­drückt, kann diese Wut durch übermäßige Selbst­kritik auch auf sich selbst lenken. Wenn wir ihr dabei helfen können, ihre Wut nicht länger zu verleugnen und sich ihr dort zu stellen, wo sie hin­gehört, wird sie die Wut nicht länger gegen sich selbst richten. Und ihre Depression wird verschwinden. Jede Lüge hat ihren Preis, und jedes Mal, wenn wir von einer Lüge über uns selbst, andere oder das Leben selbst ablassen, werden wir von einer Last befreit.

Sie sprechen von Heilung durch die Anerkennung unserer Gefühle. Was meinen Sie damit und wie kann dieser Heilungs­prozess stattfinden?

Nehmen wir das vorherige Beispiel der Frau, die so kritisch sich selbst gegenüber ist. Wenn sie sich ihre Wut auf jemanden, der sie verletzt hat, endlich eingeste­hen und diese Wut auch tatsäch­lich fühlen kann, dann belügt sie sich nicht mehr selbst. Und weil sie diese Wut nicht länger gegen sich selbst richtet, kann sie von ihren Depressionen geheilt werden. Oder nehmen wir an, dass eine andere Frau nicht in der Lage ist, den Verlust ihres Ehe­manns zu betrauern. Sie lässt das Haus unverändert, wie ein Museum, und trennt sich nicht von seiner Kleidung. Und sie bleibt chronisch depressiv. Wenn wir ihr dabei helfen können, sich mit seinem Tod auseinander­zusetzen und ihren Verlust zu betrauern, dann wird ihr Herz durch diese Anerkennung der Realität geheilt werden. Und indem sie sich wieder mit der Wirklich­keit verbindet, wird sie sich nicht mehr länger im Kampf dagegen aufreiben, einem Kampf, den man nur verlieren kann.

Sie schildern auch sehr persön­liche Erfahrungen in Ihrem Buch, z. B. den Tod Ihres Bruders, als Sie beide noch Kinder waren, und gehen ganz offen damit um. Wie haben diese Erleb­nisse Sie im Hinblick auf Ihren späteren Lebens­weg geprägt?

Dieses Erlebnis war nur eines der Traumata, die ich erlebt habe. So fragte ich mich schon als Kind nach dem Sinn des Lebens und warum die Menschen versuchen, ihrem Schmerz zu entgehen, indem sie diesen auf andere über­tragen. Und ich habe in meinem Leben viele Menschen gesehen, die Schlimmes erleiden mussten, aber keinen Zugang zu einer Psycho­therapie hatten. So viele verpfuschte Leben, nur weil es keine Hilfe gab. Diese Menschen mussten sich aufs Verleug­nen verlegen, eine unerschütter­liche Haltung bewahren oder auf Alkohol zurückgreifen, um überhaupt einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Aufgrund meines eigenen Leids und des Leids der Menschen, die ich liebte, wollte ich die Ursachen dafür unbedingt verstehen und auch, wie man dieses Leid bekämpfen und davon geheilt werden kann.

Als Therapeut stehen Sie in der Regel auf der anderen Seite. Dennoch: Gibt es Lügen, die Sie sich früher selbst erzählt haben?

Ich habe noch nie eine Lüge von einem Patienten oder einer Patientin gehört, die ich mir nicht auch irgend­wann einmal erzählt habe. Das Leben ist hart. Wir kämpfen alle, um uns den Heraus­forderungen des Lebens stellen zu können. Es steht mir über­haupt nicht zu, andere dafür zu verurteilen, dass sie die Wahr­heit umgehen, denn ich habe dasselbe getan und werde es wieder tun.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe!

Das Interview wurde schriftlich in englischer Sprache geführt und ins Deutsche übersetzt.

Jon Frederickson
Die Lügen, die wir uns selbst erzählen
Wie man sich der Wahrheit stellt, sich selbst akzeptiert und ein besseres Leben führt

2023. 152 Seiten. Kart.
€ 26,–
ISBN 978-3-17-040378-9

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