Wie sind Sie auf das Themenfeld IslamisÂmus/Jihadismus aufmerksam geworden und wann haben Sie begonnen, in diesem Feld wissenÂschaftlich zu forschen?
Durch meine Interviews mit namÂhaften deutschen SalaÂfisten wie Sven Lau und Pierre Vogel, die ich im Rahmen meiner Studie zu deutschen KonverÂtitInnen zum Islam im Jahr 2011 zu ihren MotivÂlagen zur religiösen KonÂversion befragte, kam ich erstmals persönÂlich in Kontakt mit Salafisten. Hieraus ergaben sich Kontakte in die deutsche salafistische und weiterÂführend in die euroÂpäische radikal-islamische Szene, so dass ich in DeutschÂland und acht euroÂpäischen Ländern InterÂviews mit SalafistInnen und JihadistInnen führen konnte. Die ErgebÂnisse dieser qualitativen ReligionÂforschung sind u.a. meiner Dissertation ‚Die gegenwärtige salafistische Szene in Deutschland – Prediger und Anhänger‘ (2018) zu entnehmen.
Wie sind Sie auf das Thema Ihrer HabiÂlitation gekommen und was ist für Sie das InteresÂsante daran?
Der physische Anschluss einiger meiner früheren Interview-Partnerinnen aus dem deutschen jihadisÂtischen Milieu mit ihren Kindern an den IslamiÂschen Staat (IS) und deren dortige reliÂgiöse SozialiÂsation stellt für mich eine weitere EntwickÂlung in der RadikaÂlisierung vulneÂrabler Gruppen dar, die bislang empiÂrisch noch unterÂforscht ist. Wichtig ist dabei stets das VerständÂnis dafür, dass diese Kinder nicht selbst die EntscheiÂdung getroffen haben, sich einer jihadisÂtischen IdeoÂlogie oder Gruppe anzuschließen, sondern durch ihre ErziehungsÂberechÂtigten fremdÂbestimmt in dieses extremisÂtische Milieu gelangten. Als ReligionsÂwissenschaftlerin mit einer religionsÂpsychologischen AusrichÂtung stellten sich für mich infolgeÂdessen sowohl Fragen hinsichtÂlich der gender-bezogenen SelbstÂverortung der Mütter als Teil des ‚Kalifats‘ als auch – mit Blick auf die Adaption der IS-Werte und -Normen und der reliÂgiösen EntwickÂlung der Kinder im ‚Kalifat‘ – nach ihrer RückÂkehr. ReligionsÂpädagogisch interessant sind darüber hinaus für mich auch Fragen des Umgangs der zurückÂgekehrten Kinder und JugendÂlichen und ihrer Mütter mit ihren nicht-jihadisÂtischen Peer Groups.
Wie haben Sie mit Ihren Interview-PartnerInnen Kontakt geknüpft und über diese lange Zeitspanne gehalten?
Der Kontakt kam durch meine InterÂviews mit deutschen Jihadistinnen zustande, die ich im Rahmen meiner Studie ‚Frauen im Dschihad – SalafisÂmus als transÂnationale Bewegung‘ (2023) mit deutschen und euroÂpäischen JihadisÂtinnen befragen konnte. Ãœber einen ZeitÂraum von drei Jahren habe ich die Kinder/JugendÂlichen und ihre Mütter befragt. Dies passierte aus SicherheitsÂerwägungen während ihrer Zeit beim IS per E-Mail, infolge ihrer RückÂkehr nach Deutschland und nach einem Jahr ihres hiesigen Ankommens persönÂlich. Ihre EntwickÂlungen konnte ich am besten über eine LängsÂschnittÂstudie nachÂzeichnen, da die jungen Befragten, aber auch ihre Mütter als Erwachsene, natürÂlich verschieÂdene EntwicklungsÂstadien im Zusammenhang mit ihren (Gewalt-)Erfahrungen beim IS gemacht haben. So etwas zu verarbeiten braucht ein sicheres Umfeld, Zeit, aber vor allem familiäre, religionsÂpädagoÂgische und psychoÂlogische Betreuung. Erst dann ist eine Re-Integration dieser Gruppen in die deutsche GesellÂschaft meiner Erfahrung nach realistisch.
In Ihrem Buch beschreiben Sie unter anderem die vielfälÂtigen und teils nicht-religiösen BewegÂgründe, welche die zum Islam konverÂtierten Mütter hatten, um in den IS auszureisen und „ihre Kinder mit auf eine Reise ins Ungewisse“ zu nehmen. Im Zentrum Ihrer Studie stehen jedoch die gender-sensiblen Themen wie etwa die geschlechtsÂspezifische Erziehung und IndokÂtrinierung der „Young Sahaba“ – wie die Kinder der jihadisÂtischen Mütter genannt werden – durch den IS in Syrien sowie das dort zu erfüllende MutterÂbild. Darüber hinaus wird in Ihrer Studie durch die Nähe der InterÂviews auf dramatische Weise deutlich, aus welchen Gründen die Mütter wieder nach DeutschÂland zurückÂgekommen sind und wie die „WiederÂeingliederung“ aller RückÂkehrerInnen verlief. Gab es hierzu staatlicherÂseits UnterstützungsÂprogramme und HilfsÂangebote zur „ResozialiÂsierung“?
Ich denke, dass dahingÂehend viele Länder noch in den KinderÂschuhen stecken. In FrankÂreich und auf dem Balkan gibt es aufgrund der großen Anzahl von ausgereisten bzw. zurückÂgekehrten Müttern und ihrer Kinder bereits einige gute InitiaÂtiven. In DeutschÂland beschäftigen sich meines Wissens nach einige wenige PsychoÂlogInnen, TheraÂpeutInnen und De-Radikalisierungs-/Präventions-Stellen damit. Hier wäre bspw. der Verein IFAK e.V. mit seiner aktuellen Initiative ‚Pro Kids‘ zu benennen.
Wie sollte die deutsche GesellÂschaft Ihrer Meinung mit den RückkehrerInnen umgehen?
Zunächst ist darauf hinzuÂweisen, dass jeder Fall individuell ist. Das Wissen darum ist insofern wichtig, um zu verhinÂdern, dass voreilige Schlüsse oder populisÂtische FordeÂrungen seitens speziÂfischer InteressenÂgruppen in Bezug auf diese Gruppe gezogen bzw. gestellt werden. Dann ist es notÂwendig, verstärkt in die psychoÂlogische Betreuung der ZurückÂgekehrten und ihrer Kinder zu invesÂtieren, am besten begleitet von religionsÂaffiner Expertise, damit in den konkreten Fällen bestimmte religiöse EinstelÂlungen und WertÂurteile besser nachÂvollzogen werden können. Nur dann können die Betroffenen angeÂmessen betreut werden, so dass ihre psychiÂsche AbnabeÂlung vom IS erfolgen kann. Diese ist eine essentielle VorausÂsetzung für ihre Re-Integration. Nur wer mit dem Kopf und dem Herzen in der deutschen GesellÂschaft angekommen ist, wird diese als einen Ort betrachten, mit dem er/sie sich identiÂfiziert. Dadurch kann eine bestehende IdeoÂlogisierung oder eine Folge-RadikaliÂsierung vor Ort, die mitÂunter aufgrund der EntÂwurzelung der BetrofÂfenen stattÂfinden kann, durchÂbrochen werden.
Welche Empfehlungen würden Sie aufgrund Ihrer PionierÂforschung in diesem ThemenÂbereich aussprechen?
Zu empfehlen wäre meiner Ansicht nach eine InvesÂtition in einen religionsÂwissenschaftÂlichen Sachverstand für ArbeitsÂbereiche, die mit diesen RückÂkehrerInnen berufÂlich befasst sind. HierÂdurch könnten die zahlÂreichen Facetten von reliÂgiös motiviertem ExtremisÂmus zum einen in Gänze erfasst und entÂsprechende GutÂachten und PräventionsÂmaßnahmen erstellt werden. Für ArbeitsÂbereiche, die vielÂmehr mit der De-Radikalisierung oder der StrafÂverfolÂgung dieser Gruppe beschäfÂtigt sind, könnte die Breite religionsÂwissenÂschaftliche Expertise zum anderen dazu genutzt werden, um adäÂquate De-Radikalisierungs- und WiederÂeingliederungsÂmaßnahmen für die Betroffenen, ihre Familien und deren Opfer einzuÂrichten und anzuÂbieten.
Vielen Dank für das aufschlussÂreiche Gespräch zu Ihrer wichtigen Forschung.
Nina Käsehage
„The Young Sahaba“
Die religiöse Sozialisation von Kindern und Jugendlichen im jihadistischen Milieu
2024. 514 Seiten mit 25 Abb. Kart.
€ 69,–
ISBN 978-3-17-044512-3