Angesichts der Volatilität und zunehmenden Anomalien auf den Finanz- und Kapitalmärkten wächst die Bedeutung der Behavioral Finance, der verhaltensorientierten Finanzmarkttheorie. Diese beschäftigt sich mit der Psychologie der Kapitalanleger und versucht zu zeigen, wie Anlageentscheidungen am Finanz- und Kapitalmarkt zustandekommen. Dabei wird klar, dass Menschen – entgegen der häufig unterstellten Annahme des rational agierenden Homo oeconomicus – hier irrational handeln und deshalb häufig fehlerhafte Entscheidungen treffen.
Das vorliegende, bewusst kurzgefasst und anschaulich geschriebene Lehrbuch führt vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzmarktentwicklung in die Grundlagen der Behavioral Finance ein, zeigt die wesentlichen Theoriebausteine und gibt damit Anhaltspunkte für ein aus Sicht der verhaltensorientierten Markttheorie sinnvolles Anlegerverhalten.
Die Autoren sind profunde Kenner der Materie: Prof. Stefan Hilbert ist Studiendekan Finanzdienstleistungen an der Dualen Hochschule Mannheim. Prof. Dr. Thomas Metzner ist Fachleiter Financial Services an der Internationalen Berufsakademie Heidelberg. Wir nehmen das Erscheinen des Werks zum Anlass für ein kurzes Gespräch.
Stefan Hilbert / Thomas Metzner
Behavioral Finance
2021. 136 Seiten. Kart. € 25,–
ISBN 978-3-17-039093-5
Die aktuelle Corona-Pandemie hat auch die deutsche Wirtschaft ausgebremst, zugleich erleben die Finanzmärkte einen Boom – eigentlich eine paradoxe Situation. Kann die Behavioral Finance hierzu eine Erklärung geben?
Menschen reagieren auf Anreize und solange das Geld günstig ist, immerhin haben wir uns an das Niedrigzinsumfeld gewöhnt, geht die Party an den Börsen und damit die Kursrally weiter. Wir richten unsere Aufmerksamkeit dann auch gerne nur auf einen Teil des Ganzen, werfen bisherige Bewertungen von Aktienkursen, wie zum Beispiel das Kurs-Gewinn-Verhältnis, über Bord und folgen lieber der Herde. Preis-Informations-Preis-Kaskaden sind schwer aufzuhalten und wer will schon der Spielverderber sein, wenn es einfach zu laufen scheint?
Wir wollen ein kleines, aktuelles Einzelbeispiel herausgreifen: Die Kursblase, die sich im Januar bei der Aktie ‚GameStop‘ durch das Pushen einer Tradergruppe auf der Plattform ‚Reddit‘ aufbaute, ist ein Paradebeispiel. Die Story am Anfang hat einige eingefangen (David gegen Goliath), wobei klar sein musste, dass der Kursabsturz kommt. All jene, die vor dem Platzen der Blase noch auf den Zug aufgesprungen sind, hatten mit Ansage das Nachsehen. Diejenigen, die am Anfang der Rally mit dabei waren und rechtzeitig ausgestiegen sind, haben die Psychologie des Marktes erkannt. Für sie war es durchaus rational, sich irrational zu verhalten.
Die aktuelle Situation an den Märkten zeigt auch unseren Studierenden, dass Finanzwirtschaft und auch die Volkswirtschaftslehre ‚lebt‘ und sich weiterentwickelt. Klassische oder auch neoklassische Annahmen reichen heutzutage nicht mehr aus, um Erklärungen zum Marktverhalten zu liefern.
In welcher Weise hat die verhaltensorientierte Finanzmarkttheorie unser einschlägiges Wissen überhaupt erweitert?
Die Modelle der klassischen Finanzwirtschaft waren wichtig und sind es nach wie vor. Die Bedeutung der Diversifikation stammt aus der Portfoliotheorie von Markowitz. Preisbildungsfaktoren, die Sharpe oder Fama untersuchten, sind auch heute wichtige Grundlagen für Kapitalanlageentscheidungen. Dass sich Menschen in ihrem Verhalten nicht dem gewünschten, rationalen Verhalten aus der Theorie annähern, haben uns die kritischen Nachfragen herausragender Verhaltensökonomen gezeigt. Systematische Fehler im Entscheidungsprozess oder zeitinkonsistentes Verhalten, meist wollen wir die schnelle Belohnung, werden eben nicht durch den Lernprozess an den Kapitalmärkten beseitigt. Auch verändert sich bei vielen Anlegerinnen und Anlegern das Risikoverhalten, wenn sich im Aktiendepot Gewinne in Verluste verwandeln. Kurzum, durch die Verhaltensökonomie werden Entscheidungsprozesse eher interdisziplinär betrachtet und soziologische bzw. psychologische Methoden mit der Ökonomie kombiniert.
Die Wirtschaftstheorie und insbesondere die Finanzwirtschaft unterstellt häufig den stets rational handelnden Idealtypus des Homo oeconomicus – die Wirklichkeit zeigt doch aber ein anderes Bild?
Der Homo oeconomicus ist der Urtypus des Vernunftmenschen und funktioniert nur unter idealen Bedingungen, die wir nicht haben. Echte Menschen bestehen aus Herz und Verstand, darauf wollen selbst wir als Finanz-Autoren nicht verzichten. Aber das macht Menschen eben auch anfällig für kurzfristige Kicks, Ablenkungen, Gefühle und Vorlieben, bisweilen Vorurteile und Ressentiments. Wir neigen auch dazu, unser eigenes Urteilsvermögen zu überschätzen, liegen mit der eigenen Einschätzung natürlich richtig und geben anderen oder widrigen Umständen die Schuld für Fehler. Manchmal haben wir auch keine Lust, uns mit Dingen zu beschäftigen, die uns nicht interessieren oder in ferner Zukunft liegen, wie etwa die Altersvorsorge. Informationen nehmen wir auch nicht emotionslos auf, wie der Homo oeconomicus. Menschen lieben Geschichten und lassen sich von der Art und Weise der Informationspräsentation beeinflussen.
Zu guter Letzt die fast obligatorische Frage: Was raten Sie Anlegern am Kapitalmarkt – gibt es aus Sicht der Behavioral Finance ein „Erfolgsrezept“?
Wenn es das eine Erfolgsrezept geben würde und wir dieses gefunden hätten, würden wir es sicherlich nicht preisgeben, sondern still und leise einfach reich werden. Aber Spaß beiseite: Schon die Kenntnis darüber, in welche Fallen wir tappen können, bringt uns weiter. Sowohl in der Finanzberatung (daher plädieren wir für eine nachhaltige, faire Finanzberatung), als auch für uns selbst (wir entscheiden dann selbst besser oder holen uns Hilfe bei wichtigen Entscheidungen).
Da wir zudem nicht wissen, was in Zukunft sein wird, sollten wir zumindest darauf achten, die aktuelle Informationslage objektiv bei unseren jetzt zu treffenden Entscheidungen zu berücksichtigen. Gerade die zunehmende Bedeutung der sozialen Medien zeigt, dass sich viele Menschen in Filterblasen bewegen und ein echter Meinungsaustausch unterschiedlicher Argumente dann nicht mehr stattfindet.
Eine andere Perspektive einzunehmen, wichtige Entscheidungen bei Kapitalanlagen nicht aus dem Bauch heraus zu treffen, ist sicherlich sinnvoll. Der gute alte Advocatus Diaboli tut dann zwar manchmal weh, da seine Meinung vielleicht nicht unseren Wünschen oder Vorlieben entspricht, das kann uns aber vor einigem Schlamassel bewahren.
Und erfolgreiche Kapitalanlegerinnen und -anleger verfolgen auch klare Handelsregeln: Kursgewinne können mit einer Stop-Loss-Order, die bei weiterhin steigenden Kursen nachgezogen wird, abgesichert werden. Das schützt vor dem Rausch des Erfolgs. Verluste können begrenzt werden, wenn ab dem Erreichen eines relativen oder absoluten, vorab festgelegten Verlustniveaus die Position verkauft wird. Der Verlust schmerzt dann zwar sehr, wie die Prospect-Theorie uns lehrt, aber lieber ein schnelles Ende mit kleinem Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Haben Sie vielen Dank!
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