Gut versichern will gelernt sein – eine neue Einführung in die Versicherungsbetriebslehre

Die deutsche Versicherungswirtschaft ist seit Jahren mit einem dynami­schen Markt­umfeld konfron­tiert, das nicht nur durch Digi­tali­sierung und Regulie­rung, sondern auch durch anspruchs­volle, kritische Kunden, inten­siven Wett­bewerb und volatile Finanz­märkte geprägt ist. Entsprechend hoch sind die Anfor­derungen an Fach- und Führungs­kräfte in der Branche. Zur Bewältigung dieser Heraus­forde­rungen ist eine komplexe Steue­rung nötig, die sich auf ver­schiede­nen betrieb­lichen Ebenen voll­zieht und Risiko­management, Finanzen, Kunden, Prozesse und Personal in den Blick nehmen muss – diese Aspekte werden in dem neuen Einfüh­rungs­lehr­buch von den Hoch­schul­lehrern Jens Mörchel, Matthias Beenken und Lukas Linnenbrink fakten­basiert, verständlich und praktisch nach­voll­ziehbar erklärt. Wir nehmen das Erscheinen dieses Bandes zum Anlass, um mit den Autoren, die seit Jahren in diesem spannenden Bereich lehren und forschen, ein Gespräch zu führen:

Umschlagabbildung des Buches

Mörchel/Beenken/Linnenbrink
Einführung in die Versicherungsbetriebslehre

2023. 315 Seiten. Kartoniert. € 39,–
ISBN 978-3-17-037078-4

Aus der Reihe BWL Bachelor Basics

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In einer aktuellen Forsa-Umfrage zum Ansehen einzelner Berufs­gruppen rangieren die Ver­siche­rungs­vertre­ter ganz unten. Das ist doch unge­recht, denn der Vertrieb von Versiche­rungs­leis­tungen ist unter den heuti­gen Bedin­gungen eine höchst komplexe Ange­legen­heit. Vor diesem Hinter­grund gefragt: Welche Quali­fika­tions­anfor­derun­gen ergeben sich und wie sollte ein moderner Ver­siche­rungs­vertrieb aussehen?

Dr. Matthias Beenken
Dr. Matthias Beenken

Beenken: Ich habe vor 36 Jahren meine Aus­bildung als Ver­siche­rungs­kaufmann begonnen und kenne die kriti­schen Bewer­tungen des Ver­siche­rungs­vertriebs in der Öffent­lichkeit aus eigenem Erleben. Historische Beispiele bis zurück ins 19. Jahrhundert zeigen, dass Ver­siche­rungs­vertre­ter immer unter General­verdacht standen, unnötige Ver­siche­rungen mit hohem Druck und schlechten Argu­menten gegen über­höhte Provi­sionen zu verkaufen und damit die Kunden­inte­ressen zu missachten. Einige Vertriebs­skandale lieferten scheinbar immer wieder den Beweis dafür. Das ist aber ein Zerrbild der Wirklichkeit.

Zunächst einmal ist Ver­siche­rungs­vertrieb regu­lato­risch ein sehr weit gefasster Begriff. Er beginnt bei der Konzeption von Ver­siche­rungs­pro­dukten und er­streckt sich über Internet­werbung, Angebots­stellung, Beratung und Abschluss bis hin zur dauer­haften Be­treu­ung und Unter­stüt­zung im Schadens­fall. Daran betei­ligt sind die meisten Mit­arbei­ter in den Ver­siche­rungs­unter­nehmen sowie die Ver­siche­rungs­vertre­ter und -makler. Infolge euro­päi­scher Vor­gaben müssen alle diese Personen eine ange­messene Aus­bil­dung besitzen und sich regel­mäßig weiter­bilden. Erlaubnispflichtige Ver­siche­rungs­vermittler benö­tigen eine Sach­kunde­prüfung. Die Erfül­lung der Pflich­ten wird durch die Bundes­anstalt für Finanz­dienst­leis­tungs­auf­sicht sowie die Industrie- und Handels­kammern über­wacht und ggf. sanktioniert. Beratungsfehler haben die Schaden­ersatz­pflicht zur Folge. Bei Lebens- und Kranken­versiche­rungen müssen Ver­mittler gesetz­lich fünf Jahre lang warten, bis sie ihre Provi­sion ver­dient haben – stor­niert der Kunde vorher, fast egal aus welchem Grund, zahlt der Vermitt­ler seine Provi­sion zeit­antei­lig zurück. Das gibt es so in keiner anderen Branche.

Deshalb kann Ver­siche­rungs­vertrieb heute nur wirt­schaft­lich sinn­voll gelin­gen, wenn alle Betei­lig­ten über eine hohe Quali­fika­tion ver­fügen, eine fach­lich über­zeu­gende und an den Kunden­bedürf­nissen aus­gerich­tete Bera­tung leis­ten und den Kunden fort­laufend betreuen. Ein lei­tender Gedanke unseres Lehr­buchs ist daher, Ver­siche­rungen und deren Vertrieb als eine Dienst­leis­tung zu verstehen. Das sind keine Produkte, die ab­ver­kauft werden, und danach muss man sich darum nicht mehr kümmern. Es wird ein Dienst am Kunden ge­leis­tet, und zwar über sehr lange Zeit, manch­mal sogar lebens­läng­lich wie in der Renten- oder in der Kranken­versicherung.

Ãœber Sinn und Unsinn vieler Angebote der Ver­siche­rungs­wirt­schaft kann man trefflich streiten. So wird in der Gesund­heits­politik immer wieder über das Für und Wider der pri­vaten Kranken­ver­siche­rung in Deutschland dis­ku­tiert – ist diese nach Ihrer Mei­nung sinn­voll oder soll­ten alter­native Konzepte wie die „Bürger­versi­che­rung“ voran­getrieben werden?

Dr. Jens Mörchel
Dr. Jens Mörchel

Mörchel: Zunächst einmal ist die Gesund­heit aller BürgerInnen unab­hängig von deren per­sön­li­chen Ein­kommens­ver­hält­nissen zu sichern ein über­geord­netes, gesell­schaft­liches Ziel. Wir wollen nicht hin­nehmen, dass einzelne BürgerInnen sich den Gang zu Ärzten oder ins Kranken­haus nicht leisten können, oder dass die Reichen einem unzu­rei­chen­den Gesund­heits­system ent­fliehen und sich im Ausland behan­deln lassen.

Das erfordert erstens ein sehr leis­tungs­fähi­ges, aber auch teures Gesund­heits­wesen. Deutschland hat ein solches. Zweitens braucht es einen Zugangs­mecha­nismus. Den hat Deutschland mit einer all­gemei­nen Kranken­ver­siche­rungs­pflicht geschaffen, die inte­ressanter­weise im privat­recht­lichen Versi­che­rungs­vertrags­gesetz geregelt wurde und nicht etwa in einem öffentlich-rechtlichen Gesetz wie dem Sozial­gesetz­buch. Drittens braucht es eine nach­haltige Finan­zierung.

Bei der nachhaltigen Finan­zierung ist Deutschland nicht optimal aufge­stellt. Rund 90 Prozent der Deutschen sind gesetz­lich kranken­ver­sichert, finan­ziert im Umlage­ver­fahren auf Basis der Arbeits­entgelte der sozial­versiche­rungs­pflich­tig Be­schäf­tigten. Die deutsche Gesell­schaft altert aller­dings im welt­weiten Ver­gleich sehr stark. Das Ver­hält­nis der Be­schäf­tig­ten, die gemein­sam mit ihren Arbeit­gebern die Bei­träge auf­bringen, zu den Leis­tungs­empfäng­ern und hier vor allem den Rent­nern ver­schlech­tert sich zusehends. Da setzt das private Kranken­ver­siche­rungs­modell mit seinem Kapi­tal­deckungs­ver­fahren ein starkes Zeichen in Rich­tung eines nach­haltig finan­zier­ten Gesund­heits­wesens. Warum das aus­gerech­net abge­schafft und durch eine Bürger­ver­siche­rung ersetzt werden soll, er­schließt sich nicht. Eigentlich bräuchten wir mehr statt weniger Kapi­tal­deckung im System.

Auch das Thema Nach­haltig­keit bestimmt im Moment die gesell­schaft­liche und vor allem die poli­tische Debatte – ist es auch für die Ver­siche­rungs­branche relevant und falls ja, in welcher Weise?

Mörchel: Die eben schon in Zusammen­hang mit der demo­grafi­schen Alte­rung der Be­völ­ke­rung ange­spro­chene Nach­haltig­keit ist ein zen­trales Thema der Ver­siche­rungs­branche. Kapitalgedeckte Alters­vor­sorge und Kranken­versi­che­run­gen sind Aus­druck von Nach­hal­tig­keit, weil sie die Lasten der Finan­zie­rung künf­tiger Leis­tungen nicht einfach den Gene­ratio­nen der Kinder und Enkel­kinder überlässt.

Aber in der öffentlichen Wahr­nehmung domi­niert ein anderer Aspekt der Nach­haltig­keit, die Bekämp­fung des menschen­gemach­ten Klima­wandels und die An­passung daran. Auch das ist ein be­deu­tendes Thema für die Ver­siche­rungs­unter­nehmen und ihr Ge­schäfts­modell. Der Klima­wandel ver­ändert bei­spiels­weise das Natur­gefahren-Risiko. Naturkatastrophen nehmen nach Zahl und Schwere ihrer Aus­wirkun­gen zu, wie uns vor zwei Jahren beim Hoch­wasser im Ahr­tal deut­lich geworden ist. Das betrifft also das ver­siche­rungs­tech­nische Risiko. Gleichzeitig handelt es sich um ein gesell­schafts­poli­ti­sches Risiko. Die Kata­strophe im Ahr­tal hat erneut eine Dis­kus­sion über eine Ele­men­tar­schaden­pflicht­versi­che­rung ausge­löst, weil sich offen­sicht­lich KundInnen nicht immer ver­nünf­tig ver­halten und frei­willig sinn­volle Ver­siche­rungen ab­schlie­ßen – der Staat und damit die Steuer­zahler müssen dann ein­springen. Die Ver­siche­rungs­branche will sich dem auch stellen, for­dert aller­dings zu Recht mehr Prä­ven­tion und risiko­adä­qua­tere Bau­vorschriften.

Versicherungsunternehmen sind zudem von umfang­rei­chen nicht­finan­ziel­len Berichts­pflich­ten zu ihrer eige­nen Nach­haltig­keit als Unter­nehmen und in ihren Port­folien abge­schlos­sener Ver­siche­rungen be­troffen. Die Lebens­versi­cherer und ihre Ver­mitt­ler haben zudem den Auf­trag der Euro­päi­schen Union erhal­ten, eine Um­schich­tung von Kapital ihrer KundInnen hin zu nach­halti­gen Inves­titio­nen zu för­dern, damit die große Trans­forma­tion der euro­päi­schen Real­wirt­schaft und damit das Ziel eines klima­neu­tra­len Europas 2050 finan­zier­bar werden. Das ist wiede­rum mit um­fang­reichen Offen­legungs-, Informations- und Beratungs­pflichten verbunden.

Noch vor Jahren gehörte die Lebens­versi­che­rung zu den be­lieb­testen Ver­siche­rungs- und Anlage­formen der Deutschen, in der aktu­ellen Nie­drig­zins­phase in Europa wird ihre Sinn­haftig­keit aber kontro­vers dis­kutiert – wie sehen Sie das und welchen Rat können Sie Ver­brauchern geben?

Dr. Lukas Linnenbrink
Dr. Lukas Linnenbrink

Linnenbrink: Vor meiner Professur war ich bei einem Lebens­ver­siche­rer ver­ant­wort­lich für die Produkt­ent­wick­lung und Ver­triebs­unter­stüt­zung. Begonnen hatte ich dort mitten in der Nie­drig­zins­phase und deshalb mit­erlebt, wie die Lebens- und speziell die Renten­ver­siche­rung zuneh­mend schlecht­geredet wurde. Es bedurfte immer größe­rer An­streng­un­gen wie der Ent­wick­lung inno­vati­ver Produkt­konzepte, aussage­kräf­tiger Kosten-/ Nutzen- Informationen, der Vertriebs­kom­muni­ka­tion und -ausbildung sowie eines ausge­feilten Marketings.

Erschwert wurde das durch eine oft unre­flek­tierte öffent­liche Be­richt­er­stat­tung. Selbst füh­rende Wirt­schafts­medien fingen an, die Idee des Alters­vor­sorge­sparens in Frage zu stellen, weil sich das bei Niedrig- oder Negativ­zinsen angeb­lich nicht mehr lohne. Dabei wurde regel­mäßig ver­ges­sen, dass sich ein Nicht-Sparen noch viel weniger lohnt. Pauschale Aussagen von Ver­brau­cher­schutz­insti­tutio­nen zu den hohen Kos­ten von Alters­vor­sorge­ver­trägen taten ihr Ãœbriges. PolitikerInnen griffen die Thesen auf und for­derten eine Reform der steuer­geför­der­ten Alters­vorsorge. Ausgerechnet die im Koa­litions­vertrag der vor­heri­gen Bundes­regie­rung ver­ein­barte Reform der Riester­rente schei­terte jedoch am damali­gen Bundes­finanz­minister und heu­tigen Bundes­kanzler.

Auch aktuell hat man nicht das Gefühl, dass die not­wendi­gen und sinn­vollen Reformen bei­spiels­weise der über­großen Förder­büro­kratie oder der feh­lenden Flexi­bili­tät bei sinn­vollen Anlage­formen ganz oben auf der poli­ti­schen Agenda stehen. Fast zwei Jahre nach Start der jet­zi­gen Bundes­regie­rung liegen seit kurzem erst Emp­fehlun­gen der Fokus­gruppe private Alters­vor­sorge vor, aber ein erfolg­reicher Ab­schluss der Reform ist nicht abzusehen.

Trotz allem bleibt die private Renten­versi­che­rung, sowohl in der staat­lich geför­der­ten als auch der unge­förder­ten Version, ein un­ver­zicht­barer Bestand­teil einer kapital­gedeck­ten Alters­vorsorge. Sie ist anders als die gesetz­lichen Pflicht­systeme flexi­bel und kann in den Säulen be­trieb­liche wie private Alters­vorsorge einge­setzt werden. KundInnen können sie nach ihren Be­dürf­nissen indivi­duell aus­gestal­ten und ihrer Ein­kommens­ent­wick­lung ebenso anpassen wie sich ver­ändern­den Vor­sorge­zielen. Das wich­tigste Argument ist, dass nur mit priva­ter Alters­vor­sorge der Lebens­standard im Alter gesichert werden kann. Denn das kann und soll die gesetz­liche Rente nicht leisten.

Oft wird finanzrational argumen­tiert, es gebe rendite­träch­tigere Spar­formen als die Lebens- und Renten­ver­siche­rung. Das mag vor­der­gründig zutreffen. Dabei werden aber meh­rere ent­schei­dende Dinge übersehen: Erstens sind die realen Menschen meist nicht finanz­ratio­nal und schaffen es oft nicht, über Jahr­zehnte konti­nuier­lich und un­be­irrt für das Alter zu sparen, ohne die Gut­haben zwischen­durch für andere Zwecke zu verwenden. Da kann die Selbst­bin­dung durch regel­mäßige Ein­zah­lun­gen in eine Ver­siche­rung und Hürden bei der Ent­nahme von Guthaben sehr hilfreich sein.

Zweitens kann nur die Renten­ver­siche­rung das Risiko der Lang­lebig­keit über­nehmen. Bei allen anderen Ver­mögens­konzep­ten ris­kieren die KundInnen, dass sie am Ende ihres Gut­habens immer noch leben und in Alters­armut ver­fallen. Drittens können Lebens- und Renten­ver­siche­rungen Kapital­markt­schwan­kun­gen wirk­sam aus­glei­chen und Sicher­heiten bieten, denn die KundInnen brauchen ihr Geld zu­ver­lässig zum Renten­eintritt, selbst wenn aus­gerech­net dann die Börsen­lage schwie­rig ist. Viertens wird bei Kosten­verglei­chen von Vor­sorge­formen oft ver­gessen, dass die Kosten der Beratung und Be­glei­tung der KundInnen bei Lebens- und Renten­ver­siche­run­gen typi­scher­weise inter­nali­siert, also ins Produkt ein­gerech­net sind, bei vielen anderen Anlage­formen dagegen nicht. So müssen bei­spiels­weise Konto- und Depot­gebüh­ren, Ver­mögens­ver­wal­tung und -beratung extra gezahlt werden.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!


Dr. Jens Mörchel ist Professor für BWL, insbe­sondere Ver­siche­rungs­wirt­schaft und Controlling, sowie Aktuar (DAV). Dr. Matthias Beenken ist Professor für BWL, insbe­sondere Ver­siche­rungs­wirt­schaft. Dr. Lukas Linnenbrink ist Stif­tungs­profes­sor für Ver­siche­rungs- und Risiko­manage­ment und Aktuar (DAV).

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