Der Zusammenbruch des Sozialismus 1989 hat auch seinem Vordenker Karl Marx und seinem Werk schwer geschadet: Die Systeme im Ostblock hatten moralisch, vor allem aber ökonoÂmisch auf ganzer Linie abgewirtÂschaftet. In der Folge verloren seine Thesen massiv an Zustimmung und Interesse. Aber der bedeuÂtendste und bekannÂteste deutsche Ökonom geriet nicht in VergessenÂheit, im Gegenteil. In den aktuÂellen DebatÂten zu KlimaÂwandel, KapitaÂlismusÂkritik und VerÂteilungsÂfragen wirkt MarxÂsches GedankenÂgut wieder hochÂaktuell und auch hochÂkontrovers. Besonders die Finanz- und WirtÂschaftsÂkrise 2007/08 hat maßÂgeblich zu dieser RenaisÂsance des Marxismus beigeÂtragen. In seinem ebenso prägnant wie verständÂlich verÂfassten Band geht es dem Autor, Prof. Denis Jdanoff, keinesÂwegs um eine Apologie des Marxismus. Er will vielmehr die ideoÂlogiÂschen GrundÂlagen, die EntÂwickÂlung und das histoÂrische Scheitern des „real-exisÂtieÂrenden SoziaÂlismus“ verÂdeutÂlichen sowie aufÂzeigen, warum ein neuer Versuch für viele möglich und sogar wünschensÂwert ist. Wir nehmen das Erscheinen zum Anlass, mit unserem Autor ein Gespräch zu führen:
Denis Jdanoff
Die Renaissance des Marxismus
2023. 186 Seiten. Kartoniert. € 32,–
ISBN 978-3-17-037416-4
Aus der Reihe BWL und VWL für die Praxis
Herr Prof. Jdanoff, würden Sie das Kapital, das Hauptwerk von Karl Marx, auch heute noch zur Lektüre empfehlen?
Für ein wirkliches VerständÂnis dieses Textes braucht es eine gute Portion MasoÂchismus, denn er ist wenig einÂgängig, sehr komplex und nicht wirkÂlich leserÂfreundÂlich geschrieÂben. Zudem muss man dieses Werk komÂplett lesen, denn ohne ein ausÂreichenÂdes EinÂtauchen in Marx‘ recht eigenÂwillige BegriffsÂwelt im ersten Teil kann man seine Ideen gar nicht wirkÂlich erfassen. Wenn man sich auf AusÂzüge und isoÂlierte TextÂzitate beÂschränkt, sind FehlÂinterÂpretaÂtionen und VerÂzerrunÂgen eigentÂlich unausÂweichÂlich, wofür es zahlÂreiche Beispiele gibt. Leider machen sich nach meiner ErÂfahrung nur wenige InteÂresÂsierte diese Mühe, das gilt übrigens auch für selbstÂerklärte Marxisten.
War Karl Marx eigentlich ein Marxist? Was hat Marx‘ Theorie mit dem späteren SoziaÂlismus im Ostblock gemein?
Friedrich Engels hat von Marx den AusÂspruch überÂliefert, er sei kein Marxist, was naheÂzuÂlegen scheint, dass er sich gegen eine dogmaÂtische VereinÂnahmung seiner Thesen durch selbstÂerklärte Marxisten gewehrt hat. Eine solche InterÂpretaÂtion wäre aber hisÂtoÂrisch falsch, denn er bezog sich dabei auf einen ganz konÂkreten Streit innerÂhalb der franÂzösiÂschen ArbeiterÂbewegung. Karl Marx war zweifelÂlos von seiner IdeoÂlogie überÂzeugt, er glaubte fest an die UnÂausÂweichÂlichÂkeit des revoÂlutioÂnären ÃœberÂgangs vom KapiÂtalisÂmus zum SoziaÂlismus. Um also Ihre erste Frage zu beantÂworten – ja Marx war ein Marxist.
Die zweite Frage, wieviel Marx im „real exisÂtierenÂden SoziaÂlismus“ des OstÂblocks steckte, ist durchÂaus umstritten. Seine SympathiÂsanten verÂsuchen, die WahrÂnehmung seiner Thesen von diesem FehlÂversuch zu lösen, um neue soziaÂlistiÂsche ExperiÂmente zu rechtÂfertigen. Ich finde, so einfach sollte man es sich nicht machen, denn die soziaÂlistiÂschen MachtÂhaber haben sich expliÂzit auf sein Konzept berufen. Ihr HauptÂproblem war allerÂdings, dass Marx viel weniger zu einer komÂmunistiÂschen Zukunft geschrieÂben hat, als zum KlassenÂkampf in der VerÂgangenÂheit und seiner Gegenwart. Seine Ideen endÂgültig beerÂdigen, wie seine Kritiker fordern, sollte man jedoch nicht, denn Marx hat uns auch heute noch einiges zu sagen.
Woran ist der Sozialismus zugrundegegangen?
Nach meiner Meinung waren dafür zwei Gründe ausÂschlagÂgebend. Karl Marx hatte ein zu ideaÂlistiÂsches Bild von der Natur des Menschen, die er, nach einer intenÂsiven UmÂerzieÂhung, im KommuÂnismus wieder hervorÂbringen wollte. Der befreite Arbeiter sollte dann maxiÂmalen Einsatz zeigen und sich mit einem bescheiÂdenen Lohn zuÂfrieÂdenÂgeben. Er war dabei aber auf den realen, von der kapiÂtalistiÂschen AusÂbeuÂtung verdorÂbenen Menschen angeÂwiesen, auch auf Seiten der verÂmeintÂlichen Erzieher, also der ParteiÂelite. So blieben alle marxisÂtischen GesellÂschaften in der Phase des SoziaÂlismus stecken, nicht zuletzt, weil die jeweiÂlige poliÂtische FühÂrung wenig InteÂresse hatte, dessen Ende zu verÂkünden und damit ihre Macht zu verlieren.
Ausschlaggebend für die Menschen war aber die ökonoÂmische IneffiÂzienz der PlanÂwirtÂschaft, in deren Folge die KonsumÂbedürfÂnisse der BevölÂkerung nicht erfüllt werden konnten. Diese offenÂsichtÂliche UnterÂlegenÂheit gegenÂüber der MarktÂwirtÂschaft wurde noch verÂschärft durch die immer stärÂkere RepresÂsion in der politiÂschen Sphäre. Die KombiÂnation dieser beiden FaktoÂren entzog dem SoziaÂlismus letztÂendlich die LegiÂtimiÂtät, wie sich in der DDR gezeigt hat, die im stänÂdigen VerÂgleich mit der BundesÂrepublik nicht bestehen konnte.
Wie sehen Sie die Renaissance marxisÂtischen GedankenÂguts – bietet die RückÂbesinnung auch Chancen?
In meinem Buch beschäfÂtigte ich mich mit dem paraÂdoxen Phänomen, dass Marx und seine Ideen trotz des ScheiÂterns bisher aller soziaÂlistiÂschen Experimente immer noch populär sind. Das hat mit einem intuiÂtiven UnbeÂhagen vieler Menschen mit dem KapiÂtalisÂmus und seinen negaÂtiven AusÂwirkunÂgen zu tun, das sich in KrisenÂzeiten regelÂmäßig verÂstärkt. Viele haben das Gefühl, dass es eine bessere, gerechÂtere AlterÂnative geben muss. Marx hat uns aber auch zu aktuÂellen ProÂblemen wie ÖkoÂlogie, AutoÂmatiÂsierung und WissensÂökonomie durchaus lesensÂwerte Gedanken hinterÂlassen, bei denen man sich teilÂweise wundert, dass sie schon 150 Jahre alt sind. Eine marxisÂtisch geprägte Zukunft halte ich dennoch für wenig wahrÂscheinÂlich, dafür sind die bereits erwähnÂten konÂzeptioÂnellen Schwächen zu fundamental.
Was ist Ihrer Meinung nach vom Marxismus in China zu halten – ist er noch relevant oder maskiert er nur eine Ein-Parteien-Herrschaft?
Die politische und ökonoÂmische EntÂwickÂlung in China mit PlanÂwirtÂschaft und RepresÂsion unterÂscheidet sich bis Ende der 1970er Jahre wenig von anderen soziaÂlistiÂschen Staaten. Dann aber schlägt die FühÂrung unter Deng Xiaoping mit der Öffnung in RichÂtung MarktÂwirtÂschaft einen ungeÂwöhnÂlichen Weg ein. Offiziell bleibt China der marxisÂtischen IdeoÂlogie aber treu, auch nach dem Ende des weltÂweiten SoziaÂlismus Anfang der 1990er Jahre. Der Marxismus dient heute aber nur noch als Fassade für das seit 1949 herrÂschende, autoriÂtäre poliÂtische System. Hinter der etwas verÂwirrenÂden BezeichÂnung „soziaÂlistiÂsche MarktÂwirtÂschaft“ verbirgt sich ein Ausmaß an soziaÂler UnÂgleichÂheit, dass an die USA erinnert. Vom kommuÂnistiÂschen Traum ist in China also nicht mehr viel übrig.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!
Prof. Dr. Denis Jdanoff lehrt WirtÂschaftsÂpolitik und Führung an der Dualen HochÂschule Baden-WürtÂtemÂberg in HeilÂbronn. Er studierte Geschichte, Philosophie und PolitikÂwissenÂschaft in Frankfurt und Berlin und promoÂvierte mit einer verÂgleiÂchenÂden Arbeit zum WiderÂstandsÂrecht bei Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau. Neben seiner LehrÂtätigÂkeit erforscht er heute die Geschichte seiner weitÂverÂzweigÂten Familie.