Der Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges im Juli 1870 löste auch im Königreich Württemberg eine Welle der nationalen Begeisterung aus. In diesem Sammelband, herausgegeben von Wolfgang Mährle, wird die im Hauptstaatsarchiv Stuttgart präsentierte Ausstellung zur Reichsgründung dokumentiert. Darüber hinaus sind weiterführende Aufsätze zu den Ereignissen vor 150 Jahren enthalten. Einen ersten Eindruck davon erhalten Sie in diesem Interview.
Wolfgang Mährle (Hrsg.)
Nation im Siegesrausch
Württemberg und die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71
2020. 384 Seiten, 217 Abb., 1 Beil. Kart. € 35,–
ISBN 978-3-17-038182-7
Aus der Reihe Sonderveröffentlichungen des Landesarchivs Baden-Württemberg
Herr Dr. Mährle, der Band ist als Begleitbuch zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart konzipiert. Welche Informationen sind im Ausstellungskatalog enthalten?
Die Ausstellung bzw. der Ausstellungskatalog beleuchten den Deutsch-Französischen Krieg und die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 aus württembergischer Sicht. Damit wird eine andere Perspektive auf die Ereignisse geboten, als man sie aus Schulbüchern und Überblicksdarstellungen üblicherweise kennt. Die in der Ausstellung präsentierten Exponate lassen erkennen, dass die Württembergerinnen und Württemberger Krieg und Reichsgründung in mancher Hinsicht anders erlebt haben als die Menschen in anderen deutschen Staaten, insbesondere in Preußen. Es hat sich im südwestdeutschen Königreich auch eine eigene Erinnerungskultur an die Umbruchszeit von 1870/71 ausgebildet.
Bis 1870 war Württemberg ein selbstständiger Staat. Weshalb verlor Württemberg diese Selbstständigkeit in den Jahren 1870/71 und wurde Teil des bundesstaatlich organisierten Deutschen Reiches?
Bei der Beantwortung dieser Frage muss man zwei Aspekte im Blick behalten. Erstens war Württemberg sowohl als Herzogtum bzw. Kurfürstentum (bis 1806) als auch als Königreich zu schwach, um im Konzert der europäischen Großmächte als selbstständiger Staat ohne Einbindung eine überregionale Sicherheitsarchitektur dauerhaft bestehen zu können. Über Jahrhunderte hinweg bot die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches einen – wenn auch bisweilen sehr unvollkommenen – Schutz. Nach dem Ende des Alten Reiches gehörte das neugeschaffene Königreich zunächst dem Rheinbund, später dem Deutschen Bund an. In der kurzen Zeitspanne zwischen dem Deutschen Krieg von 1866 und der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 war Württemberg zwar formal selbstständig, de facto aber in militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht stark von Preußen abhängig. Zweitens wurde die Souveränität des Königreichs in den Jahren unmittelbar vor der Reichsgründung durch die immer wirkmächtigere deutsche Nationalbewegung in Frage gestellt. In den süddeutschen Staaten kam es nach der Kriegsniederlage von 1866 in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten zu teilweise hitzigen Debatten über die Bildung eines deutschen Nationalstaats, der zu diesem Zeitpunkt nur noch als „kleindeutscher“ Staat unter preußischer Führung realistisch war. Betrachtet man die Geschichte Württembergs in den vier Jahren zwischen dem Deutschen und dem Deutsch-Französischen Krieg, so zeigt sich, dass unter den gegebenen außen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen keine konsistente Regierungspolitik entwickelt werden konnte. Als während des Deutsch-Französischen Krieges Forderungen nach einer deutschen Nationalstaatsgründung von immer breiteren Bevölkerungskreisen lautstark artikuliert wurden und Bismarck diese Stimmung nutzte, um die Bildung eines von Preußen dominierten Bundesstaates voranzutreiben, blieb König Karl und der württembergischen Regierung keine Wahl, als dem Beitritt des Königreichs zum entstehenden Deutschen Reich zuzustimmen.
Weshalb stellte die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 für das Königreich Württemberg eine große Zäsur dar?
Die Bildung des kleindeutschen, von Preußen dominierten Nationalstaats während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 hatte für das Königreich Württemberg weitreichende Konsequenzen. Mit dem Verlust der Souveränität gingen die Kompetenzen in der Außenpolitik auf das Reich über. Auch die Innenpolitik wurde zunehmend von Berlin aus bestimmt. Bereits unmittelbar nach der Reichsgründung kam es zu Anpassungen württembergischer Strukturen an das nunmehr vorherrschende preußische Modell. Ein solcher Reformprozess zeigt sich beispielsweise in der Militärverwaltung.
Das Interview mit dem Herausgeber Dr. Wolfgang Mährle führte Janina Schüle aus dem LekÂtorat des Bereichs Geschichte/ Politik/ GesellÂschaft.
Bleiben Sie auf dem Laufenden –
Abonnieren Sie den Kohlhammer Newsletter