Interviewfragen an Prof. Dr. Angelika C. Wagner (Introvision – Eine Einführung).
1. Was genau verbirgt sich hinter der neuen Methode der Introvision?
Introvision – wörtlich „in sich hineinschauen“ – ist eine von uns entwickelte Methode der mentalen und emotionalen Selbstregulation. Sie wurde mit vielen Studierenden, Doktoranden und Doktorandinnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie Kolleginnen und Kollegen zusammen im Rahmen eines von mir geleiteten Langzeitforschungsprogramms ursprünglich an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen und seit 1985 an der Universität Hamburg entwickelt, umfangreich praktisch erprobt, theoretisch begründet und ausführlich empirisch getestet.
Ziel der Introvision ist es, innere Konflikte von der Wurzel her aufzulösen und effektiv zu beenden und damit wieder klar denken und gelassen handeln zu können. Die Introvision setzt dort an, wo viele andere Selbstregulationsmethoden aufhören – nämlich an den Stellen, an denen innere Veränderung besonders schwer fällt („Ich weiß ja, dass … aber ich schaffe es trotzdem nicht …“). Ziel ist es, die jeweiligen inneren Blockaden, mentalen Hemmnisse und affektiven Aufladungen (Angst, Ärger, Wut, Hass, Verbitterung etc.), die diese Änderungen verhindern, aufzuspüren und wirksam abzubauen.
Die Introvision beruht auf vier Säulen:
- die Imperativanalyse, ein Ergebnis unseres Langzeitprojekts, das in vielen empirischen Studien entwickelt, erprobt und getestet worden ist. Ziel der Imperativanalyse ist es, den kognitiv-emotionalen Kern des inneren Konflikts mit Hilfe von aus der Forschung stammenden „Tools“ aufzuspüren. Grundlage dafür ist die Theorie subjektiver Imperative (Wagner, 2011, Gelassenheit durch Auflösung innerer Konflikte. Stuttgart: Kohlhammer);
- das Konstatierende Aufmerksamen Wahrnehmen (KAW), eine besondere Form der offenen, weitgestellten, konstanten und nicht-eingreifenden Wahrnehmung von inneren und äußeren Sinnesreizen, Empfindungen, Gedanken und Gefühlen. Dafür haben wir zur Operationalisierung eigens vier Übungen entwickelt, die dazu dienen, dieses KAW praktisch einzuüben;
- bei der Introvision wird dieses KAW ein Weilchen lang (ggf. auch wiederholt) auf den Kern des inneren Konflikts gerichtet. Ziel ist es, auf diese Weise die mit diesen Kernkognitionen oft automatisch verbundene erhöhte Erregung, Anspannung und Verwirrung dauerhaft zu löschen;
- die Theorie der mentalen Introferenz, eine allgemeine, schulenübergreifende Theorie der Entstehung und Auflösung innerer Konflikte bildet die Grundlage der Introvision. Zentrale Annahme ist, dass innere Konflikte durch das hineintragende („introferente“) Eingreifen in vorhandene Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen und Handlungen entstehen.
Ziel der Introvision ist es, auch und gerade in schwierigen Situationen gelassener zu werden (s. unten, Punkt 6). Die Introvision ist eine Methode des Selbstmanagements, die sich erlernen (s. unten, Punkt 4) und nach entsprechender Übung in vielen Situationen selbständig anwenden lässt.
2. Welche positiven Auswirkungen werden mittels Introvision erzielt?
Die Auswirkungen von KAW und Introvision auf innere Konflikte und das Verhalten wurden vielfach empirisch untersucht – die Spanne reicht von Einzelfallstudien bis hin zu randomisierten kontrollierten empirischen Untersuchungen.
Aus der Vielzahl der Forschungsstudien und Anwendungsfelder (u.a. Gesundheit, Wirtschaft, Sport, Pädagogik, Hochschule, Management) seien im Folgenden einige wenige beispielhaft genannt:
- im Bereich gesundheitlicher Beeinträchtigungen mit chronischem Verlauf haben mehrere Studien signifikante Ergebnisse bei der Auflösung chronischer Nackenverspannungen, der Reduktion von Stress bei Tinnitus und der Verbesserung der Hörfähigkeit bei Alters- und Lärmschwerhörigkeit erbracht;
- bei der langfristigen Verringerung von Stress und Belastung in Leistungssituationen zeigten sich positive Auswirkungen bei Leistungssportlern im Wettkampfstress ebenso wie bei weiblichen Führungsnachwuchskräften in der Wirtschaft;
- weitere Bereiche, in denen die Anwendung von Introvision mit einer Reduktion von inneren Konflikten und einer Steigerung des Wohlbefindens verbunden war, sind beispielsweise Rede- und Prüfungsangst, Depression oder Lehren und Lernen (eine Auflistung der einzelnen Studien findet sich u.a. in Wagner, 2011 und hier)
3. Wie hat sich die von Ihnen gegründete „Forschungsgruppe Introvision“ an der Universität Hamburg seit deren Gründung weiterentwickelt, welche Forschungsergebnisse konnten Sie gewinnen?
Das Forschungsprogramm begann mit einer unerwarteten Entdeckung im Rahmen einer groß angelegten DFG-Studie (1976–1982) an der Pädagogischen Hochschule Reutlingen. Hier zeigte sich, dass das Handeln von LehrerInnen und SchülerInnen oft durch innere Konflikte („Knoten im Kopf“) beeinträchtigt und vielfach erschwert wurde. Diese inneren Konflikte waren eng mit dem Auftreten subjektiver Imperative verbunden, was dazu führte, dass sich die Gedanken oft im Kreis drehten, ohne eine Lösung zu finden.
Ziel des darauf aufbauenden Langzeitforschungsprogramms war es, zweierlei herauszufinden:
- wie und warum solche inneren Konflikte entstehen und
- was sich tun lässt, um sie wirksam zu beenden und die damit einhergehenden Affekte (Angst, Ärger, etc.) und Blockaden (Hemmungen) aufzulösen.
Besonders beschäftigte uns die Frage, was man machen kann, wenn innere Konflikte und Blockaden trotz rationaler Einsicht weiter anhalten („Ich weiß ja, dass es unvernünftig ist, sich zu ärgern – aber ich ärgere mich trotzdem!“).
In diesem Zusammenhang wurden zunächst diverse Forschungsprojekte zum Vorliegen und der Struktur innerer Konflikte durchgeführt. Diese behandelten sehr unterschiedliche Kontexte und Problemlagen, so z.B. Konflikte bei Rede- und Prüfungsangst, bei Depressionen, in verschiedenen Berufsgruppen, im Sport oder in künstlerischen Prozessen. Auf der Grundlage der empirischen Ergebnisse entstanden zwei wesentliche Theorien zur Natur und Entstehung der Konflikte: Die Theorie mentaler Introferenz und die Theorie subjektiver Imperative.
Die wachsenden Erkenntnisse zur Entstehung der Konflikte führten parallel zur Entwicklung von Methoden, um sie wieder aufzulösen. Denn im Zuge dieser Forschung wurde auch eine Reihe von Untersuchungsmethoden entwickelt, die die Grundlage vieler Studien darstellten. Diese Methoden wurden weiterentwickelt, um auch zur Auflösung von Konflikten beitragen zu können und stellen heute – in erweiterter und angepasster Form – wichtige Elemente der Introvision dar.
Die Wirksamkeit dieser Verfahren – insbesondere des KAW und der Introvision – wurde seither in zahlreichen qualitativen und quantitativen empirischen Studien untersucht.
4. An wen richtet sich das Angebot der Einführungs-Workshops der Forschungsgruppe an der Universität Hamburg?
Die Einführungs-Workshops „Gelassener werden im Alltag – Die Methode der Introvision“ richten sich an alle, die die Introvision als Methode zum Selbstmanagement und zur Stressreduktion genauer kennenlernen möchten.
In dem Kurs werden die theoretischen und praktischen Grundlagen der Methode der Introvision vermittelt. Ziel ist es, die TeilnehmerInnen in die Anwendung der Introvision zur Auflösung mentaler Blockaden und innerer Konflikte im Alltag einzuführen. Hierfür werden die Themen an vielen praktischen Beispielen veranschaulicht.
Geleitet von Fragen wie…
- Wie lassen sich endloskreisende Gedanken stoppen, um zu Wohlbefinden und innerer Ruhe zurückzufinden?
- Warum handeln wir häufig wider besseren Wissens?
- Wie lassen sich innere Konflikte lösen, ohne sie einfach nur zu umgehen?
… bietet der Workshop einen Wechsel aus theoretischen Inputs und praktischen Übungen.
Der Workshop wird in zwei Varianten angeboten:
- Fortlaufend: Dieser Kurs findet einmal wöchentlich (1,5 Stunden) über einen Zeitraum von 8 Wochen statt und richtet sich vor allem an Teilnehmende aus Hamburg und Umgebung.
- Kompakt: Dieser Kurs findet in Form von Tages-Workshops (10:00 bis 17:00 Uhr) an zwei Samstagen statt. Um ein intensives Arbeiten zu gewährleisten, beläuft sich die Kursgröße hier auf ca. sechs Personen.
5. An wen richtet sich das Weiterqualifizierungsangebot zur Introvisionsberaterin/zum Introvisionsberater an der Universität Hamburg?
Zielgruppe dieser Weiterqualifizierung sind Menschen, die in den Bereichen Beratung, Coaching, Psychotherapie, Pädagogik oder ähnliches tätig sind und einschlägige Hochschulabschlüsse oder Berufstätigkeit mit vergleichbaren Kenntnissen haben.
Die Weiterqualifizierung zur Introvisionsberaterin/zum Introvisionsberater ist dreisemestrig und berufsbegleitend angelegt. Sie wird – mit einem von mir geleiteten wissenschaftlichen Beirat – von Dipl. Päd. Sonja Löser und Dipl. Sportwiss. Petra Spille hauptverantwortlich durchgeführt. Beide haben Introvision bei mir studiert und verfügen über langjährige Erfahrung mit dieser Methode.
Ziel ist die Vermittlung der notwendigen theoretischen und praktischen Kenntnisse, um
- Introvision selber anzuwenden zu können,
- andere (Klienten, Kunden, Schüler, Studierende etc.) darin einzuführen und anzuleiten, die Introvision zu erlernen und diese im Alltag anzuwenden und
- andere in schwierigen Fällen als IntrovisionsberaterInnen bei der Anwendung der Introvision zu unterstützen.
Zunächst erwerben die TeilnehmerInnen im Basiskurs umfangreiche Grundkenntnisse der Theorie und Praxis und somit eine Palette der bereits weiter oben schon erwähnten »Tools«. Im Vertiefungskurs 1 entwickeln sie die Kompetenz, diese Kenntnisse an Dritte zu vermitteln, und im Vertiefungskurs 2 führen sie eigenverantwortlich Introvisionsberatungsgespräche in ihren jeweiligen Praxisfeldern durch. Über den gesamten Kursverlauf werden kooperative Beratungsgespräche geführt und Supervisionen angeboten.
Große Bedeutung wird auch der Eigenarbeit zwischen den Kurswochenenden beigemessen. Neben der Lektüre von Fachliteratur und dem Anwenden des Gelernten, erwerben die TeilnehmerInnen Praxis in der Methode des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens. KAW ist eine besondere Form der Wahrnehmung und es bedarf umfangreicher Übung und Reflexion, um sie einerseits bei sich selbst absichtlich und jederzeit abrufen zu können und um andererseits erkennen zu können, ob KlientInnen einen Bewusstseinsinhalt konstatieren oder imperieren. Dies ist von entscheidender Bedeutung für den Verlauf eines Introvisionsberatungsgesprächs und dessen langfristigen Erfolgs in der Auflösung innerer Kernkonflikte.
6. Könnten Sie bitte die von Ihnen im Buch vorgestellte Psychotonusskala erklären?
Ziel der Introvision ist es, die innere Gelassenheit zu fördern. Um zu verdeutlichen, was Gelassenheit bedeutet, habe ich die Psychotonusskala entwickelt, die holzschnittartig sieben verschiedene mentale und psychische Zustände unterscheidet – von absoluter innerer Ruhe bis hin zu extremer Panik:
- absolute innere Ruhe – ein außergewöhnlicher und eher seltener Bewusstseinszustand („Erleuchtung“, mystischer Zustand, spirituelle Einheitserfahrung u.ä.)
- Versunkenheit und Flow-Erleben – ein Zustand, in dem man sich in etwas vertieft, in einer Tätigkeit aufgeht (Csikszentmihalyi et al.)
- beginnende Entspannung, Versenkung – ein Zustand des Übergangs von (4) zu (2)
- Alltagswachbewusstsein – wach, ausgeruht, in der Lage sein, das, was notwendig ist (ohne merklichen inneren Widerstand) zu tun
- Anstrengung, Volition (willentliches Handeln) – Selbstbeherrschung, willentlich handeln oder sich von inneren Impulse mitreißen lassen
- akuter Konflikt – hier ist das Bewusstsein aktuell im Konflikt mit sich selbst, z.B. Angst, Ärger, Entscheidungsprobleme, Depressivität
- eskalierender innerer Konflikt – bis hin zu Panik, „black-out“, Ohnmacht
Die Psychotonusskala dient u.a. auch dazu, die Vielfalt psychischer Zustände im Alltag besser unterscheiden und damit sich selber und andere besser verstehen zu lernen.
7. Was verbirgt sich hinter der Bezeichnung KAW und worin besteht der Unterschied zu Konzentration?
Konstatierendes Aufmerksames Wahrnehmen bedeutet, auf gelassene Art und Weise das, was wir sehen, hören, spüren, fühlen und denken zu betrachten. Es ist eine Form der nicht-wertenden, offenen Aufmerksamkeit, die eingeübt werden kann. Dazu werden verschiedenste Bewusstseinsinhalte in den Fokus genommen und die Aufmerksamkeit gleichzeitig weitgestellt, sodass andere Eindrücke nicht ausgeblendet werden. Die gelassenheitsfördernde Wirkung kann am Unterschied zwischen Konstatieren und Konzentrieren ganz gut aufgezeigt werden. Wenn wir im Alltag von Konzentration sprechen, so ist damit das Bemühen um Bündelung der Aufmerksamkeit auf eine Tätigkeit gemeint. Um konzentriert bei einer Sache zu sein gilt es, Ablenkung zu vermeiden, zum Beispiel indem andere Dinge ausgeblendet oder störende Gedanken weggeschoben werden. Das ist mit Anstrengung und Anspannung verbunden. Sich einer Aufgabe auf konstatierende Art und Weise zuzuwenden bedeutet stattdessen, dass all das, was ablenken könnte, nicht ausgeblendet werden muss. Wir registrieren es (die ausstehende Mail, das Vorhaben heute Abend, die Geräusche vor dem Fenster), aber das ist es auch schon. Es geht weder darum, Störendes innerlich wegzuschieben, noch sich zuzuwenden, noch sich selbst die erneute Konzentration aufzuzwingen. Mit diesen „Extratätigkeiten“ aufzuhören macht gelassener und gelingt manchmal von ganz allein, wenn man zum Beispiel im Tun „aufgeht“ – ohne extra Fokussierungs- und Konzentrationsbemühungen. Mit KAW überlassen wir dieses Erleben mit Gelassenheit nicht dem Zufall. Die „So-ist-es“-Haltung ist konkret erlernbar. KAW ist zudem die Basis für die Auflösung innerer Konflikte.
8. Welche praktischen Tipps können Sie den Lesern für den Alltag mit auf den Weg geben, um mehr Gelassenheit zu finden und sich diese auch zu bewahren?
Mein erster Tipp ist vielleicht überraschend, denn er erscheint zunächst nicht „praktisch“: Tatsächlich ist es äußert hilfreich zunächst einmal zu verstehen, wie das Bewusstsein arbeitet, während wir unsere Gelassenheit verlieren. Gelassenheit heißt, wörtlich genommen, etwas zu unterlassen. Einsicht zu gewinnen, was das bedeutet und wie das gelingt, kann dazu führen, in entscheidenden Momenten die gewohnte Verarbeitungsweise der Nichtgelassenheit überhaupt zu erkennen und damit den Weg freizumachen, wieder gelassen zu werden.
Der zweite Tipp ist, zwischendurch die Aufmerksamkeit weitzustellen, denn das ist mit Entspannung verbunden. Die Zeit in einer Warteschlange nutzen, um aufmerksam wahrzunehmen, wie sich der eigenen Körper anfühlt, welche vielfältigen Geräusche auf einen einwirken oder auszuprobieren was man alles gleichzeitig anschauen kann, wenn man den Blick weitstellt. Dieses Weitstellen führt in vielen Fällen zu einer kurzfristigen mentalen Entspannung.
Das Interview führten Celestina Filbrandt und Hanna Laux.