Dissertationspreis für hervorragende Leistung auf dem Gebiet der klinischen Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie verliehen

Am 29.05.2019 wurde im Rahmen der Fachgruppentagung in Erlangen erstmalig der von der Interessengruppe Klinische Kinder- und Jugendlichenpsychologie und Psychotherapie ins Leben gerufene Dissertationspreis für hervorragende Leistung auf dem Gebiet der klinischen Kinder- und Jugendpsychologie und -psychotherapie verliehen.
Wir gratulieren dem diesjährigen Preisträger Dr. Cedric Sachser ganz herzlich!

Divan

Von links nach rechts:
Prof. Julian Schmitz, Dr. Cedric Sachser, Prof. Martina Zemp
Prof. Schmitz und Prof. Zemp sind Sprecher der Interessengruppe „Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie“ (ig-kjpt.de)

Herr Sachser ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Ulm tätig und verfasste seine Dissertation über das Thema „Posttraumatic Stress (PTSD) in Children and Adolescents: New Developments in Nosology, Assesment and Treatment“. Anlässlich der Preisverleihung führten wir mit ihm das folgende Interview.

  • Im Rahmen Ihrer Dissertation beschäftigten Sie sich mit der Posttraumatischen Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen. Das Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörung existiert eigentlich erst seit 1980 und hat doch mittlerweile einen recht hohen Bekanntheitsgrad erreicht.
    Warum ist es wichtig, Erwachsene und Kinder differenziert zu betrachten? Gibt es Unterschiede bei einer PTBS im Kindes- und Jugendalter?

Die diagnostische Konzeptualisierung der Posttraumatischen Belastungsstörung entwickelte sich auf Grundlage von Erkenntnissen, die man durch die Untersuchung typischer Symptome von Kriegsveteranen, also von Erwachsenen, erlangt hatte. Bei Kindern wurde dieses Störungsbild zunächst dagegen eher „stiefmütterlich“ behandelt. Erst in den letzten 20 Jahren änderte sich dies und man weiß heute, dass die Folgen von traumatischen Ereignissen auch bei Kindern sehr weitreichend sein können. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Persönlichkeit noch nicht vollkommen ausgebildet, traumatische Erlebnisse können hier Entwicklungsaufgaben tangieren. Ein Unterschied zur Diagnose und Therapie bei Erwachsenen mit PTBS ist neben einer manchmal unspezifischeren Symptomkonstellation auch, dass die Eltern als Bezugspersonen eine bedeutsame Rolle bei der Entwicklung, Aufrechterhaltung und Behandlung der PTBS spielen, weil sie das Kind im Alltag begleiten. Dies bedeutet in der Konsequenz auch, dass Eltern in die Therapie miteinbezogen werden sollten.
Generell ist es wichtig zu verstehen, dass man bei Kindern nicht unbedingt diese „schillernde“ PTBS-Symptomatik findet, welche der Allgemeinheit bekannt ist. Die Symptome äußern sich meist in anderer Form. So kann z. B. das Wiedererleben auch im traumatischen Spiel stattfinden, Flashbacks scheint es seltener zu geben und diese werden erst im Jugendalter prävalenter. Auch Vermeidungstendenzen äußern sich eher in Verhaltensmustern. Insgesamt ist die PTBS jedoch auch bei traumatisierten Kindern- und Jugendlichen eine hochrelevante Störungsentität, welche der Studienlage nach aber relativ gut durch Trauma-fokussierte Psychotherapie behandelt werden kann.

  • Wie sind Sie persönlich zu diesem Thema „Traumatisierung/PTBS bei Kindern und Jugendlichen“ gekommen?

Für mich stand schon lange Zeit fest, eine Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten machen zu wollen. Während meines Studiums hatte ich mich eher mit dem Thema „Aggressionen“ beschäftigt. Das kindliche Trauma bildet in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm einen zentralen Forschungsschwerpunkt, der sich natürlich auch in der klinischen Arbeit wiederspiegelt. Für mich war es sehr interessant, im Zuge der Promotion nun „die Seite der von Aggression und Gewalt Betroffenen“ kennenzulernen.
Dabei war für mich wirklich auffällig zu beobachten, wie viele Kinder schon traumatische Ereignisse erlebt haben. Trotz dieses Wissens ist es leider noch immer kein Standard, solche traumatischen Erlebnisse im Rahmen einer Therapie bzw. Anamnese standardisiert mit einem Fragebogen zu erfragen. Noch vor 20 Jahren war es für viele gar undenkbar, dies auch nur anzusprechen. Und noch immer wählen viele Therapeutinnen und Therapeuten die Strategie der Vermeidung bzw. die der „ewigen“ Stabilisierung, obgleich mittlerweile Befunde vorliegen, dass das Durcharbeiten des Traumas durchaus sinnvoll sein kann.

  • Der Zusatz im Titel Ihrer Dissertation lautet: „Neue Erkenntnisse in Nosologie, Assessment und Behandlung“. Können Sie diese „neuen Erkenntnisse“ kurz zusammenfassen?

In Psychiatrie und Psychotherapie gibt es zwei diagnostische Systeme, auf deren Grundlage psychische Krankheiten beschrieben und klassifiziert werden. Zum einen die ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), von der die 11. Revision Anfang 2022 in Kraft treten wird. Eine Codierung über die ICD ist in Deutschland im Hinblick auf die Leistungsabrechnung bei Krankheiten verpflichtend für Ärzte und Psychotherapeuten.
Demgegenüber steht der DSM-5, das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störungen der APA (American Psychiatric Association), sozusagen die „Bibel“ der psychiatrischen bzw. der psychotherapeutischen Forschung.
Im Hinblick auf die PTBS geben die beiden Klassifikationssysteme unterschiedliche Kriterien vor. Auf Grundlage der Annahme, dass Störungen durch Traumatisierungen sehr divers sind, geht der DSM-5 von einem eher breiten Kriterienkonzept mit 20 Symptomen aus.
Die ICD-11 beschränkt sich dagegen auf sechs Kernsymptome, da – nach Meinung der Autoren – sonst zu viele Überschneidungen mit anderen Störungen vorliegen.
Gerade weil die PTBS bei Kindern und Jugendlichen so schwer zu greifen ist, war daher zunächst eine der wichtigen Fragen meiner Dissertation, wie die beiden Klassifikationssysteme bei der Diagnosestellung abschneiden.
Es zeigte sich, dass die ICD-11 im Kinder- und Jugendbereich mit ihrem engeren Ansatz schlechter abschnitt, d. h. sie diagnostiziert bei weniger Kindern und Jugendlichen eine PTBS.

  • Was bedeutet das bzw. welche Konsequenzen wird dies nach sich ziehen?

Dies bedeutet, dass bei strenger Anwendung der ICD-11-Forschungskriterien vermutlich viele Kinder- und Jugendliche trotz psychosozialer Funktionseinschränkung keine PTBS Diagnose nach ICD-11 erhalten werden, während diese nach den DSM-5 Kriterien eine Diagnose erhalten würden. Da eine Diagnose nach ICD-11 in einigen Jahren die sozialrechtliche Grundlage zur Behandlung sein wird, bleibt zu hoffen, dass Kliniker den deskriptiven Beschreibungstext/Kriterienentwurf der ICD-11 flexibel anwenden, um Betroffenen Zugang zu wirksamen psychotherapeutischen Interventionen zu ermöglichen.

  • Ein weiterer zentraler Bestandteil Ihrer Arbeit war die Entwicklung des CATS („Traumascreening für Kinder und Jugendliche“). Was steckt hier dahinter?

Im DSM-5 wurden im Gegensatz zur Vorgängerversion DSM-IV mehr Kriterien für die Diagnose einer PTBS festgehalten, unter anderem auch kindsbezogene Symptome. Allerdings lagen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des DSM-5 keine validierten Verfahren vor, um diese Kriterien auch entsprechend erfassen zu können.
Ein weiteres Ziel der Arbeit war es daher, auf Basis der Kriterien nach DSM-5 ein standardisiertes Instrument zu erschaffen, mit dem Kinder und Jugendlichen nach traumatischen bzw. potenziell traumatischen Ereignissen gefragt werden können. Die Durchführung des CATS kann einen ersten Eindruck davon liefern, wie relevant die Stresssymptomatik für die Kinder und Jugendlichen tatsächlich ist.
Dabei war uns vor allem wichtig ein validiertes, reliables, aber gleichzeitig auch über Open Source lizenzfreies und frei verfügbares Instrument zu entwickeln – wobei wir natürlich hoffen, dass auf diese Weise die Hemmschwelle für Therapeutinnen und Therapeuten, das Instrument häufiger in der Praxis einzusetzen, sinkt.

Die ICD-11 führt mit der KPTBS eine Störungsform ein, die weitere Symptome als die „klassische“ PTBS beinhaltet und eher die Folgen von interpersonellen Traumata und multiplen Traumata berücksichtigt. Bislang lagen zu diesem Störungsbild nur Studien mit erwachsenen Patienten vor, d. h. es stand die Frage im Raum, ob eine solche diagnostische Unterscheidung bei Kindern ebenfalls vorgenommen werden sollte und hilfreich ist.
Wir konnten bestätigen, dass sich die KPTBS auch im Kinder- und Jugendbereich empirisch von der PTBS unterscheiden lässt. Allerdings zeigte sich auch, dass die bislang durch die Leitlinien empfohlenen traumafokussierten Verfahren für die Behandlung beider Störungsbilder geeignet sind.
Für praktizierende Therapeutinnen und Therapeuten ist dies m. E. eine wichtige Botschaft: Wir sind zwar mit zwei unterschiedlichen Diagnosen konfrontiert, aber unsere bestehenden Methoden können bei beiden eingesetzt werden – wir müssen also keine Angst vor der Therapie insbesondere der KPTBS haben.

  • Sie haben – was ja auch der Dissertationspreis erkennen lässt – eine wirklich beeindruckende Arbeit abgegeben, die hoffentlich zu weiterer Forschung in diesem Bereich anregen wird.
    Wenn Sie nun einen Blick auf sich selbst werfen, welches Ergebnis ist für Sie selbst besonders relevant, was war Ihre wichtigste Erkenntnis?

Tatsächlich war eigentlich eine „Nebenerkenntnis“ das Wichtigste, was ich durch die Dissertation gelernt habe.
Die PTBS ist auch im Kinder- und Jugendbereich ein relevantes Störungsbild und es ist unbedingt notwendig, eine Awareness bei Therapeutinnen und Therapeuten hierfür zu schaffen. Wenn wir die Störung richtig erkennen, haben wir die größte Chance im Hinblick auf die Behandlung und den Behandlungserfolg. Im Rahmen der Anamnese sollte man als Therapeutin oder Therapeut stets traumatische Ereignisse erfragen. Häufig ist allerdings das Gegenteil der Fall: Therapeutinnen und Therapeuten haben Angst davor, man könnte dadurch womöglich „schlafende Hunde zu wecken“ und im schlimmsten Fall den Weg für suizidales Verhalten begünstigen.
Meine Erfahrung im Zuge der Arbeit hat allerdings gezeigt, dass die Kinder und Jugendlichen es sogar hilfreich fanden, sich anhand eines standardisierten Instruments (wie dem CATS) der Therapeutin oder dem Therapeuten mitzuteilen. Oftmals besteht ihre Schwierigkeit nämlich vor allem darin, das Erlebte verständlich zu verbalisieren und die starken Vermeidungstendenzen, welche ja Teil der Symptomatik sind zu durchbrechen.
Daraus folgt eine zweite wichtige Erkenntnis: Therapeutinnen und Therapeuten sollten sich unbedingt trauen, traumafokussierte Therapie zu machen und dazu – wenn wir einen Blick auf die Aus- und Weiterbildung werfen – auch ermutigt werden!

  • Wie geht es nach Abschluss der Dissertation nun für Sie persönlich weiter?

Ich werde auf jeden Fall im Bereich „Trauma bei Kindern und Jugendlichen“ bleiben. Was die Forschung angeht, könnte ein nächster Schritt sein, das CATS so anzupassen, sodass es auch für die im ICD-11 spezifizierte komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (KPTBS) anwendbar ist. Im Hinblick auf diesen Subtyp wären auch randomisierte kontrollierte Studien erforderlich zur Untersuchung, ob – wenn hier tatsächlich eine andere Diagnose vorliegt – auch eine andere Behandlung notwendig ist.
Gleichzeitig werde ich meine Ausbildung zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut abschließen.
Ich schätze die Möglichkeit, sowohl in der Forschung tätig zu sein, als auch Woche für Woche den Patientinnen und Patienten begegnen zu können – hierdurch wird erst der direkte Transfer zwischen klinischer Arbeit und Forschung möglich, von dem ich ungemein profitiere.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Annika Grupp.

Der Dissertations­preis der Interessen­gruppe Klinische Kinder- und Jugend­psycho­logie und Psycho­therapie berück­sich­tigt sowohl Grund­lagen­arbei­ten als auch Disser­tationen aus dem Bereich der Psycho­therapie­for­schung. Er wird von der Interessen­gruppe für Klinische Kinder- und Jugend­lichen­psycho­logie und Psycho­therapie für hervor­ragende Arbeiten auf dem Gebiet der klinischen Kinder- und Jugend­psycho­logie oder -psycho­therapie verliehen und durch den Kohlhammer Verlag gesponsert. Weitere Informationen finden Sie hier.

Fachbereich(e): Psychologie. Schlagwort(e) , , , , , , , . Diese Seite als Lesezeichen hinzufügen.