Fühlen zwischen Ebbe und Flut – Interview mit Avelina Lovis-Schmidt

Was passiert eigentlich, wenn wir etwas fühlen – und warum genau spüren wir es gerade jetzt?

Viele Menschen erleben starke Emotionen, wissen aber nicht, woher sie kommen oder wie sie damit umgehen sollen. Die Gründe für unsere Emotionen liegen meist tiefer als wir ahnen. Emotionale Kompetenz beginnt dort, wo wir lernen, uns selbst besser zu verstehen: Was löst dieses Gefühl aus? Worin besteht der Unterschied zu dessen Ursache? Was will ich gerade wirklich? Und wie kann ich achtsam darauf reagieren? Unsere Autorin Avelina Lovis-Schmidt verrät Wissenswertes rund um das Thema Emotionen und warum das Bild von Ebbe und Flut hier so gut passt.

Buchcover des Titels Fühlen zwischen Ebbe und Flut

Avelina Lovis-Schmidt
Fühlen zwischen Ebbe und Flut
Die wundersame Kraft der emotionalen Kompetenz 

2025. 257 Seiten
€ 25,-
ISBN 978-3-17-045581-8

Liebe Frau Dr. Lovis-Schmidt, was hat Sie persönlich dazu bewegt, sich so intensiv mit emotionaler Kompetenz auseinanderzusetzen – war das eher eine theoretische Neugier oder eine biografisch gewachsene Notwendigkeit?

Portraitbild der Autorin Avenlina Lovis-Schmidt

Ich erlebe das Thema emotionale Kompetenz nicht als bloße Forschungsfrage oder persönliches Interesse, sondern als einen Auftrag, der weit über mein eigenes Leben hinausreicht. Für mich ist das eine Art Vermächtnis, das vielleicht schon viele Generationen vor mir angelegt wurde: die Aufgabe, herauszufinden, was Menschen innerlich gesund hält, wie wir Krisen bewältigen können, ohne an ihnen zu zerbrechen, und wie wir mit unseren Emotionen so umgehen, dass sie uns nicht lähmen, sondern tragen. Schon in meiner Familie war dieser Geist spürbar – in langen Gesprächen am Lagerfeuer, in denen wir einander zugehört haben, auch in Konflikten immer wieder Brücken gebaut haben. Mit der Zeit hat sich daraus für mich mehr entwickelt als nur ein privates Anliegen. Ich empfinde es als eine Art Lehrauftrag, diese Erfahrungen und das Wissen darum weiterzugeben, um anderen zu helfen, ihre emotionale Kraft zu erkennen, zu pflegen und in die Welt zu tragen. Gerade in einer Zeit, die uns immer wieder mit kollektiven und persönlichen Krisen konfrontiert, glaube ich fest daran, dass emotionale Kompetenz nicht nur unser individuelles Wohl stärkt, sondern auch gesellschaftlich eine tragende Säule sein kann. Dieses Buch ist mein Versuch, dieser Überzeugung eine Form zu geben – aus einer positiven Absicht heraus, einen Beitrag zu leisten für ein gesünderes, empathischeres Miteinander.

In Ihrem Buch verwenden Sie die Metapher von Ebbe und Flut, um das Erleben von Emotionen greifbar zu machen. Gleichzeitig sprechen Sie von über- und unterregulierten Menschen. Wie greifen diese beiden Perspektiven ineinander? Und was bedeutet das konkret für den Umgang mit Gefühlen im Alltag?

Die Metapher von Ebbe und Flut bringt für mich sehr anschaulich auf den Punkt, dass unser emotionales Erleben immer in einer natürlichen Bewegung ist. Es geht darum zu verstehen, dass fast alles, was uns innerlich bewegt, ein Balanceakt ist – ein lebendiges Pendeln zwischen zu viel und zu wenig. Manche Menschen erleben eher eine Flut: Sie werden von ihren Emotionen überwältigt, fühlen sich dann wie von einer Welle mitgerissen und finden nur schwer zurück in einen ruhigen, klaren Zustand. Andere dagegen leben in Ebbe: Sie funktionieren, leisten, halten vieles aus, aber der Zugang zu ihrem inneren Erleben ist schwierig. Auf die Frage „Wie geht es mir?“ finden sie oft keine echte Antwort, weil sie kaum spüren, was in ihnen lebendig ist.

Dahinter steckt eine wichtige Erkenntnis: Emotionale Kompetenz heißt, das natürliche Auf und Ab zuzulassen und gleichzeitig immer wieder neu auszubalancieren. Wir alle haben ein einzigartiges Spektrum an Emotionen. Doch viele Menschen kennen längst nicht alle Farben dieses Spektrums, obwohl es doch zu einem erfüllten Leben dazugehört und die Unterschiede erst über die Vielfalt deutlich werden: Wut, Trauer, Angst, Scham, aber genauso auch Freude, Zuversicht, Stolz, Liebe und Hoffnung.

Über- oder unterreguliert zu sein bedeutet, dass bestimmte Emotionen zu viel oder zu wenig Platz bekommen. Die Flutmenschen, die Unterregulierten, müssen lernen, sich selbst Halt zu geben, damit ihre Emotionen sie nicht fortreißen. Die Ebbe-Menschen, die Überregulierten, brauchen oft den Mut, sich überhaupt wieder auf die Vielfalt ihrer Gefühle einzulassen. Genau darin liegt die Kraft emotionaler Kompetenz: Die Fähigkeit, sich selbst freundlich zu erforschen, zu erkennen, was gerade gefühlt werden will, und mit all diesen Emotionen so umzugehen, dass sie uns nicht lähmen, sondern unser Leben vollständiger machen.

Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Büchern zum Thema Emotionen. Was macht Ihr Buch notwendig? Was unterscheidet sich zu den anderen Büchern? Was fehlt Ihrer Meinung nach bisher in der öffentlichen Diskussion – und was setzen Sie dem bewusst entgegen?

Mein Buch ist aus dem Wunsch entstanden, dem Thema Emotionen eine Form zu geben, die Wissen, Haltung und praktische Anwendbarkeit verbindet. Es geht mir nicht nur darum, wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich zu machen, sondern sie so aufzubereiten, dass sie im Alltag lebendig werden können. Ein leichter, klarer Stil, anschauliche Beispiele, kleine Übungen und illustrative Bilder schaffen einen Zugang, der den Kopf erreicht, aber auch das Herz anspricht.

Trotz der Fülle an guter Literatur fehlten mir immer wieder bestimmte Perspektiven. So beleuchte ich zum Beispiel, wie eng Emotionen mit körperlicher Gesundheit verknüpft sind, welche Rolle sie für gesellschaftlichen Zusammenhalt spielen können oder wie sie dabei helfen, Polarisierung zu überwinden. Ich glaube fest daran, dass emotionale Kompetenz weit über das Private hinaus wirkt, wenn wir sie ernst nehmen. Es geht auch darum, die eigene Biografie bewusst zu betrachten, um zu verstehen, warum wir fühlen, wie wir fühlen, und so mehr Kohärenz und Versöhnung mit unserer Geschichte zu finden – etwas, das in vielen Büchern oft zu kurz kommt, obwohl es die Grundlage für echte emotionale Stärke ist. Auch in der Psychotherapie betrachte ich Emotionen nicht nur aus Sicht der Klientinnen und Klienten, sondern auch aus Sicht derer, die professionell begleiten. Hier sehe ich noch großen Bedarf, emotionale Prozesse viel stärker in ein wirklich ganzheitliches Verständnis von Heilung einzubetten.

Mein Buch versteht sich deshalb als Einladung, bekannte Gedanken zu vertiefen und blinde Flecken sichtbar zu machen. Es ergänzt, was schon gesagt ist, und wagt zugleich, Lücken zu füllen. Immer mit dem Ziel, emotionale Kompetenz als etwas Alltägliches und zugleich Kraftvolles zu zeigen – etwas, das uns nicht nur individuell stärkt, sondern auch als Gemeinschaft verbindet.

Wenn Sie Ihre zentrale Botschaft auf den Punkt bringen müssten: Was ist das Fundament Ihres Buches? Worum geht es Ihnen im Kern – jenseits von Techniken oder Theorien?

Im Kern geht es mir darum, dass wir uns mit unseren Emotionen anfreunden. Egal, ob sie leicht oder schwer sind, ob sie uns beflügeln oder herausfordern – sie gehören zu uns und verdienen einen Platz in unserem Alltag. Wer lernt, Gefühle nicht mehr als Störung abzutun, sondern sie als Wegweiser begreift, kann gesünder leben, tragfähigere Beziehungen führen, klarer denken und nicht nur älter, sondern auch glücklich alt werden. Emotionale Kompetenz heißt für mich, sich mit der eigenen Geschichte zu versöhnen und den Reichtum der eigenen Gefühle als Kraftquelle zu nutzen. Darin liegt die Kernbotschaft dieses Buches.

Emotionale Kompetenz wird häufig als „Soft Skill“ verharmlost. Warum halten Sie sie in unserer Gegenwart für eine Schlüsselkompetenz – gesellschaftlich, aber auch individuell?

Emotionale Kompetenz ist alles andere als ein nettes Extra oder eine harmlose „Soft Skill“. Wer sich wirklich darauf einlässt, merkt schnell, dass es auch unbequem werden kann. Es bedeutet oft, sich mit alten Wunden auseinanderzusetzen, Schmerz zuzulassen, Gefühle nachzuholen, die man sich vielleicht ein Leben lang verboten hat. Das kann wehtun, es kann anstrengend sein – aber genau darin liegt ihre Kraft: Nur wer den Mut hat, auch das Unangenehme zu fühlen, kann nicht gefühlte Emotionen nachholen, wirklich heilen, wachsen und innerlich freier werden.

Sie greifen in Ihrem Buch auf verschiedene wissenschaftliche Strömungen zurück – Achtsamkeit, Positive Psychologie, Emotionsforschung. Gibt es eine Idee oder einen Zugang, den Sie selbst als besonders wirkungsvoll erleben? Und woran liegt das?

Ich könnte gar nicht sagen, dass ich mich in einer bestimmten Strömung wirklich zu Hause fühle – das war eigentlich nie mein Weg. Ich habe schon immer eher meine Stärke darin gesehen, interessante und tragende Gedanken aus ganz verschiedenen Richtungen zusammenzutragen, beispielsweise Konzepte wie Achtsamkeit, Bedürfnistheorien und das Innere Kind zusammenzubringen zu einem großen Ganzen.

Es kann natürlich sein, dass sich so etwas auch einmal verschiebt: Manchmal entsteht ein Gemeinschaftsgefühl, man fühlt sich einer bestimmten Schule verbunden, zum Beispiel der Positiven Psychologie. Aber im Grunde lebt mein Buch gerade davon, dass es unterschiedliche Ansätze verbindet, ohne zu behaupten, es gäbe die eine Antwort auf alles.

Mir ist wichtig, dass jeder für sich herausfinden darf, was gerade passt und was nicht. Genau das macht ja Wissenschaft und Literatur so wertvoll: Man muss nicht jeden Gedanken übernehmen, sondern kann für sich auswählen, was gerade trägt. In diesem Sinn verstehe ich mein Buch eher als Einladung, sich inspirieren zu lassen, Neues zu entdecken, Widersprüche auszuhalten – und das für sich zu behalten, was stimmig ist.

Welche Rolle spielen Emotionen in der Persönlichkeitsentwicklung? Inwiefern prägen sie nicht nur unser Fühlen, sondern auch unsere Entscheidungen, unsere Beziehungen, unsere Gesundheit und unser Selbstbild?

Stell dir jemanden vor, der sein Leben lang gelernt hat, Angst oder Scham möglichst zu unterdrücken, weil diese Gefühle in seiner Herkunftsfamilie nie willkommen waren. Auf den ersten Blick mag diese Person sehr leistungsfähig wirken, sehr diszipliniert, vielleicht sogar erfolgreich. Doch gleichzeitig bleibt oft ein innerer Mangel: eine chronische Unsicherheit in Beziehungen, Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen, oder das Gefühl, nicht wirklich zu wissen, was man selbst will. Genau hier wird sichtbar, dass Emotionen nicht nur unser momentanes Fühlen bestimmen, sondern unsere Entscheidungen, unsere Bindungen, unsere Gesundheit und unser Selbstbild formen.

Wer anfängt, diese unterdrückten Emotionen wahrzunehmen, sie zu verstehen und ihnen einen sicheren Platz zu geben, erlebt oft, wie viel freier das eigene Leben wird. Entscheidungen werden klarer, Beziehungen ehrlicher, die innere Stimme deutlicher. Das zeigt: Persönlichkeitsentwicklung ohne emotionale Arbeit bleibt oft an der Oberfläche. Erst wenn wir uns erlauben, auch mit schwierigen Gefühlen Freundschaft zu schließen, kann echte Entwicklung entstehen, die nicht nur den Kopf erreicht, sondern das ganze Leben spürbar verändert.

Was möchten Sie Leserinnen und Lesern mitgeben, die sich auf die Reise der persönlichen Entwicklung begeben möchten? Gibt es erste Schritte, kleine Übungen oder Haltungen, mit denen sich etwas verändern lässt?

Am Anfang steht immer das Innehalten und Hineinspüren: Welcher Emotionstyp bin ich eigentlich? Diese ehrliche Selbstbeobachtung legt schon den Grundstein für die nächsten Schritte. Wer merkt, dass er eher dazu neigt, Emotionen wegzudrücken, darf sich ermutigt fühlen, wieder mehr ins Fühlen zu kommen – sich also bewusst Räume zu schaffen, in denen Gefühle willkommen sind. Wer dagegen merkt, dass Emotionen oft überwältigen, darf lernen, sich mehr Halt zu geben, achtsamer zu werden, bevor man sofort reagiert.
Mein Buch soll dabei eine erste, sanfte Einladung sein. Es zeigt, worauf man achten kann, ohne gleich zu tief zu graben, wo es vielleicht noch wehtut. Der eigentliche Prozess beginnt aber danach – in der Praxis, im Üben, im Dranbleiben. Die im Buch enthaltenen Übungen sind ein erster Schritt dabei, das Gelesene wirklich ins Handeln zu bringen – und wer weiß, was sich daraus ergibt. Emotionale Kompetenz bleibt immer ein Tun. Kein Buch der Welt macht jemanden vom Lesen allein zum Experten. Aber es kann Mut machen, einen Anfang zu finden, sich selbst besser zu verstehen – und dann mit kleinen Schritten zu spüren, wie viel sich verändern kann.