Friedrich List –
ein Klassiker der deutschen Wirtschaftswissenschaft in neuem Licht
- Wie kann die aktuelle Krise der Wirtschaft überwunden, die Zukunft gestaltet werden?
- Wie stark sollte der Staat in die wirtschaftliche Entwicklung eingreifen, wie intensiv sollte er Wachstumspolitik, Industriepolitik, Standortpolitik, Forschungs- und Technologiepolitik betreiben?
- Wie kann die Handelspolitik in einer Zeit voller Konflikte, in der ein hochrangiger amerikanischer Politikberater (Jake Sullivan) zur geoökonomischen Lage sagt: The game is not the same, sinnvoll agieren?
Fragen über Fragen …
Es lohnt sich, in dieser Lage die Schriften von Friedrich List erneut zu lesen. Er hielt eine aktive staatliche Wirtschaftspolitik für unabdingbar. Die „politische Ökonomie“ war für ihn eine Realität. Der Homo oeconomicus existierte in seinen Augen nur in betriebs- und volkswirtschaftlichen Lehrbüchern.
Für List war das „geistige Kapital“ der entscheidende Wirtschaftsfaktor: das heißt Bildung und Wissenschaft, aber auch kluge politische Weichenstellungen, die freies Erfolgsstreben mit sozialer Teilhabe verbinden, eine stabile Rechtsordnung, funktionierende Institutionen.
Roland Brecht, Leiter des Grundsatzreferats im Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus in Baden-Württemberg, hat ein sehr spannendes Buch über Friedrich List geschrieben. Eine Biografie, aber auch eine Diskussion wirtschaftspolitischer Grundannahmen und Strategien. Wir haben folgendes Interview mit ihm geführt:
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Herr Brecht, kurz gesagt: Was ist das Besondere an Friedrich List?
Mit Friedrich List stand am Beginn der industriellen Moderne in Deutschland ein Mann, der ausgesprochen klug und weitsichtig war, noch dazu als Sohn der einst Freien Reichsstadt Reutlingen ein „demokratischer Vorkämpfer“ gewissermaßen von Hause aus. Er hat die Zeichen seiner Zeit erkannt, wirtschaftlich und politisch. Seine damaligen „Visionen“ haben sich nicht, wie die manch anderer geistiger Größen, in Luft aufgelöst, sondern sind nach und nach so gut wie alle Realität geworden. Leider haben die Deutschen die ungute Neigung, ausgerechnet ihre Besten zu vergessen.
Friedrich List war Journalist, Unternehmer und Realpolitiker. Er war ein bodenständiger Reformer, ein Praktiker durch und durch. Er war der seltene Fall eines deutschen Intellektuellen, der nicht von der Idee, sondern von der Wirklichkeit ausging. Was können wir heute noch von ihm lernen?
Friedrich List hat Wirtschaftspolitik zu einer öffentlichen Angelegenheit und damit auch populär gemacht. Die politische Beteiligung der Bürgerschaft war ihm aus seiner reichsstädtischen Herkunft und Sozialisation etwas Selbstverständliches. So hat er auch seine historische Großtat, die Kampagne zum Aufbau eines deutschen Eisenbahnwesens, gestartet. Man könnte sagen, er hat damals das, was wir heutzutage als Public-Private-Partnership bezeichnen und was er im amerikanischen Exil schon hautnah erlebte, in Deutschland eingeführt. List, immer engagiert, überaus sachkundig und agil, war ein Netzwerker von hohen Graden. Im Grunde sind wir heute in einer ganz ähnlichen Lage: alle großen wirtschaftlich-technologischen Herausforderungen der Zeit können nur durch ein möglichst kluges Zusammenspiel öffentlich-staatlicher und privater Kräfte bewältigt werden.
Welche Einstellung hatte Friedrich List zur klassisch-liberalen Wirtschaftstheorie?
List beneidete England um seine Offenheit, seine bürgerlichen Freiheiten und seine parlamentarische Tradition. Aber er erkannte auch den mitunter eklatanten Widerspruch zwischen liberaler Ideologie einerseits und dem pragmatischen politischen Handeln andererseits. Alles allzu theoretisch Abstrakte weckte ohnehin sein Misstrauen. Im Prinzip hat sich an der Grundkonstellation bis heute nicht viel geändert: Während die klassisch-liberale Theorie, sicherlich methodisch verfeinert und inhaltlich differenziert, doch in ihren Kernbotschaften weitgehend unverändert, die Lehre an den Universitäten und Akademien bis heute bestimmt, wird reale Wirtschaftspolitik à la List gemacht.
Das bewährte „Geschäftsmodell“ unserer Wirtschaft, das auf starker Globalisierung, offenen Märkten, preisgünstig verfügbarer Energie und einem großen Reservoir an qualifizierten Arbeitskräften beruhte, steht in Frage. Mit Kriegen, die enorme Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben können, hatte man nicht mehr gerechnet. Der erhoffte weltweite Sieg von Demokratie und Marktwirtschaft ist ausgeblieben oder zumindest in weite Ferne gerückt.
Kann uns die Erfahrungswelt eines Friedrich List da weiterhelfen?
List hat in seiner Jugend einen Epochenwechsel nicht nur hoffnungsfroh, sondern auch schmerzlich erlebt. Er wusste, was es heißt, wenn Dinge ins Rutschen kommen und allseits große Unsicherheit herrscht. Im Gegensatz zu heute hat es damals ein „deutsches Geschäftsmodell“ noch gar nicht gegeben. Es musste erst entwickelt werden, und man darf in List seinen Hauptprotagonisten sehen. Die Hoffnungen aller liberal-progressiven Kräfte, zu denen List zweifellos gehörte, waren auf den zu schaffenden Nationalstaat gerichtet. Nun sind wir heute in viel stärkerem Maße global verflochten, in Bündnisse, Allianzen und supranationale Ordnungen eingebunden. Aber das Grundbedürfnis ist dasselbe geblieben: Bürgerinnen und Bürger sind auf einen funktionierenden Wirtschaftsraum angewiesen, und sie erwarten effektiven Schutz vor feindlichen Einwirkungen. Es hat nicht den Anschein, dass dabei der Nationalstaat in absehbarer Zeit überflüssig werden könnte.
War List ein Befürworter des Freihandels oder ein Protektionist?
Friedrich List hat die Kernaussagen der liberalen Außenhandelstheorie nicht bestritten. Er hat aber dafür plädiert, dass Staaten, die zwar großes Potenzial, aber doch erhebliche Entwicklungsrückstände haben, den Freihandel – wenn auch nur gezielt und für bestimmte Zeit – einschränken sollten, um eigene „produktive Kräfte“ in den betreffenden Sektoren entwickeln zu können. Deshalb kann es ratsam sein, von einem Tauschoptimum abzuweichen und damit kurzfristige Nachteile in Kauf zu nehmen, um langfristige Vorteile zu erzielen. Nach List ist die Fähigkeit, Wohlstand zu generieren, wichtiger als der Wohlstand selbst. Japan, China oder auch Südkorea waren mit dieser Strategie erfolgreich. Kein Wunder, dass List dort an den Universitäten immer noch eine gewisse Rolle spielt. Im Übrigen, was in den USA etwa in Sachen Chips Act oder Inflation Reduction Act derzeit läuft und mit einigem Erfolg praktiziert wird, weist ebenfalls Bezüge zum List’schen Denken auf. Keine Frage: Wir leben in einer Welt wachsender Handelskonflikte. Wir erleben eine massive Repolitisierung alles Ökonomischen. Deshalb kann man sagen, dass die Theorie des internationalen Handels von David Ricardo, die Praxis aber von Friedrich List beschrieben wird.
Herr Brecht, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Das Interview führte Karin Burger aus dem Lektorat Geschichte/Politik.
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Roland Brecht
Friedrich List
Bürger, Patriot und Visionär
2023. 336 Seiten mit 25 Abb. Kart.
€ 25,–
ISBN 978-3-17-044031-9