Die Geschichte der Menschheit als Migrationsgeschichte

Migration ist gegenwärtig ein Reizthema, mit dem man Wahlen gewinnen oder verlieren kann. Heute, so glaubt man, gebe es mehr Migration als je zuvor. Migration gilt außerdem als Problem, das staatlich geregelt werden muss. Spätestens nach dem Attentat von Solingen Ende August 2024 dominiert auch jenseits konser­vativer oder populis­tischer Parteien das Bestreben, sie zu begrenzen. Zugleich hofft die Wirtschaft aber darauf, mit Migranten Fachkräfte­mangel und demografischen Wandel zu entschärfen.
Ein Blick in die Geschichte der Menschheit hilft, den aufgeregten Ton in der Debatte zu entschärfen. Seit Urzeiten erschließen Menschen neue Gebiete, wechseln ihre Aufenthalts­orte. Manche freiwillig, um ihre Lebens­situation zu verbessern, aus Neugier oder Abenteuer­lust, andere auf äußeren Druck. Tausende Jahre von Wander­schaft und Migration haben sich vielleicht mehr in unser Erbgut und unsere kulturellen Muster eingeprägt, als wir das aus „Bausparer­perspektive“ wahr­haben wollen. So sehr, sagt Alexander Rubel, dass die Kultur­geschichte der Menschheit als Geschichte der Migration erzählt werden muss.

Herr Rubel, wie blickt man als Historiker auf die Migrationsdebatten dieser Tage?

Ein wenig anmaßend würde ich sagen: mit dem sprich­wörtlichen „Lächeln der Auguren“. Bei jeder neuen Wanderungsbewegung wird so getan, als ob es sich um ein bevölkerungspolitisches Phänomen handeln würde, mit dem Gesell­schaften das erste Mal konfrontiert wären. Tagesz­eitungen titeln, dass Migration „das“ Problem der Gegenwart sei. Nun, es ist aus historischer Sicht kein Problem der Gegen­wart, nicht einmal der Moderne. Und mehr noch: Migration ist auch – in den meisten Fällen – kein „Problem“. Vielleicht eher sogar die „Lösung“.

Alexander Rubel
Prof. Dr. Dr. Alexander Rubel ist Direktor des Archäologischen Instituts der Rumänischen Akademie in Iași.

Auf jeden Fall ist die absichtl­iche Wanderung seit Urzeiten eine die Art homo kenn­zeichnende Verhaltens­weise. Unsere historisch-literarischen Über­lieferungen zeugen davon: Die Vertreibung aus dem Paradies (ein Fall von „Zwangsmigration“) oder die von lang­jährigen Aufent­halten geprägte zehn­jährige abenteuer­liche Wanderung des Odysseus durch den Mittel­meer­raum nach zehn Jahren Kampf­einsatz vor Troja (ein Fall von „Etappen­migration“) wären zwei Beispiele aus früher schrift­licher Über­lieferung. Archäo­logisch können wir massive Wanderungs­bewegungen noch weit früher konstatieren. Deswegen erscheint die aufgeregte Diskussion der Gegen­wart doch etwas übertrieben.
Diese Aufgeregt­heit ist historisch allerdings typisch. So hat einer der der Gründer­väter der USA, Benjamin Franklin, Ende des 18. Jahr­hunderts gegen die „pfälzischen Bauerntrampel“ (palatine boors) vom Leder gezogen (das war noch vor der amerika­nischen Erfindung der political correctness), die unverschämter­weise ihre Sprache und Sitten in Pennsylvania etablieren würden. Dadurch liefe Pennsyl­vania Gefahr, in wenigen Jahren zu einer deutschen Kolonie und damit „über­fremdet“ zu werden.

Wenn Migration also durch die ganze Menschheits­geschichte ein relativ normales Phänomen war, wann hat die Perspektive auf Migration als staatlich zu lösendes Problem angefangen?

Nun, schon in den frühsten Staats­wesen gab es das Bedürfnis, Kontrolle auszuüben. Sowohl die eigenen „Bürger“ wie auch Fremde sollten erfasst oder mindestens kontrolliert werden. In dieser Hinsicht sind die Stadttore von Babylon wie auch der freien Reichs­stadt Nürnberg und antike Häfen Kontrollpunkte, an denen man in geringem Ausmaß auch Migration steuern konnte. Aller­dings gibt es kaum antiken Quellen, die Migration als gesell­schaftliches Problem beschreiben. Als „Problem“ wurde Migration erst dann betrachtet, als sich im 19. Jahrhundert in Europa eine neue historische Meister­erzählung durchsetzte: Die „Mär“ von der verbindlichen Sesshaftigkeit des Menschen als zivilisato­rischem Ideal­zustand. Mit dem Aufstieg des Bürger­tums und der Entstehung der National­staaten ergab sich eine neue Perspektive auf die in früheren Zeiten geradezu alltägliche Migration, die etwa Handwerker quer durch das Römische Reich oder im Mittel­alter von Kathedrale zu Kathedrale führte.

Kathedrale von Canterbury
Von Arbeitsmigranten erbaut: der Chor der Kathedrale von Canterbury, das erste gotische Bauwerk in England (Foto: David Iliff, CC BY‑SA 4.0).

Nationalstaaten entstanden aus „stillgelegter Mobilität“ (J. Osterhammel). Die „Völker­wanderung“ brachte die „deutschen Stämme“ erst an die Orte, an denen dann beispielsweise die deutsche Nation als angeb­lich historischer Endzweck erwuchs. Wanderung wurde plötzlich zum Ausnahme­tatbestand, zur Abweichung von einer Norm, die zumindest für die bürger­lichen Schichten in einer an Eigen­tum gebundenen Orts­ansässigkeit bestand. Jeder hatte nun seinen festen Platz in der Welt und vor allem auch in der kleineren Welt des Bürgerkosmos.
Es ist eine grund­legende These meines Buchs, dass eben diese ganz moderne Vorstellung von Sesshaftig­keit als Norm und Idealzustand für unseren über­wiegend negativen Blick auf Migration verant­wortlich ist. Denn hier scheinen sich alle Seiten einig zu sein, sowohl die Befür­worter als auch die Gegner von Migration: Migration ist ein „Problem“, ein Ausnahme­tatbestand. Sie muss beendet werden, entweder durch Auswei­sung oder erneute Sesshaft­werdung, gefolgt von Integration. Wie Gesell­schaften mit dem alltäglichen Phänomen von Migration umgehen, ist keine Frage schicksal­hafter Fügungen. Migranten sind auch keine „Getriebenen“ ohne Handlungs­spielräume (agency). Der Umgang mit Migration ist eine Frage politischer Optionen. Denn nur seit der Mitte des 20. Jahrhunderts – eine weitere Grundthese meines Buches – gibt es die technischen Möglich­keiten, die Migration steuern oder verhindern könnten (Grenzregime, fälschungs­sichere Pässe – Pässe sind überhaupt eine ganz neue Erfindung –, Bevölkerungs­kontrolle, Video­überwachung usw.).
Welche Optionen wir ergreifen sollten, ist eine schwierige Frage. Glücklicher­weise habe ich als Historiker mit dem Blick auf die Vergangen­heit zu tun. Die Gegenwart und Zukunft überlasse ich gerne anderen.

Überblicksdarstellungen zur Migrationsg­eschichte haben oft einen Schwer­punkt auf der Neuzeit, die als „das“ Zeitalter der Migration gilt. Das ist in Ihrem Buch anders – warum?

Nur für die Neuzeit verfügen wir über statistisch auswertbare Daten. Erst seit dem 19. Jahr­hundert sind wir auf verhältnis­mäßig sicherem Terrain, was die Quantität von Bevölkerungs­bewegungen angeht: Auswanderer­briefe, Fracht­papiere, Passagier­listen der großen Dampfschiff­gesellschaften usw. Nur mit diesen Daten können wir in etwa errechnen, dass 55 Millionen Europäer im 19. Jahr­hundert (bis 1914) in die Amerikas ausgewandert sind.

Norddeutscher Lloyd
Der Norddeutsche Lloyd, seinerzeit eine der größten Reedereien der Welt, beförderte Ende des 19. Jhs. 42 % seiner Passagiere nach New York, aber nur 16,2 % von dort weg (Reklame von 1903).

Anhand solcher Berech­nungen zeigt sich, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hunderts etwa 14 % der Welt­bevölkerung „unter­wegs“ war. Heute listet die UN-Statistik etwa 3,5 % der Welt­bevölkerung als „inter­nationale Migranten“. Mit welchem Recht sprechen wir also von unserer Gegen­wart als dem „Zeitalter der Migration“ (so lauten mehrere aktuelle Buchtitel)? Und mit welchem Recht behaupten Neuzeit­historiker, dass Migration ein Phäno­men der beschleu­nigten Moderne sei, die mit der euro­päischen Expansion seit dem 16. Jahrhundert zunehmend globale Dimensionen annahm?
Es finden sich so viele Hinweise für intensivste Wande­rungen – kleinräumig wie weiträumig – in allen frühen Epochen, sogar in der quellen­losen Vor- und Frühgeschichte, dass die These keines­wegs statthaft ist, Migration sei in erster Linie ein Phänomen der kapitalis­tischen Moderne mit ihrer weiträumigen Arbeits­migration und frühere Epochen seien vor allem statisch gewesen. Im Gegen­teil: Ich zeige in meinem Buch detailliert auf, dass erst unsere Gegen­wart mit ihren modernen und effektiven Grenz­regimen Migration steuern und verhindern kann. Als die Vandalen und Alanen im Jahr 429 vom heutigen Spanien in die römische Provinz Africa übersetzten, gab es keine Frontex-Agentur, die das mit push­backs hätte verhindern können. Umgekehrt geht das nun durchaus. Migration war zu allen Zeiten und in allen ihren Formen, von Kolonisierung und Eroberung über Arbeits­migration bis zu Flucht und Vertreibung, nicht nur an der Tages­ordnung, sondern ein Phänomen, das als positive Neben­effekte Kultur­austausch und Wissens­vermittlung ermöglicht hat.

Gerade in der Forschung über die frühen Epochen tut sich durch neue, natur­wissenschaft­liche Methoden in den letzten Jahren einiges. Hat Sie etwas besonders überrascht?

Hier gibt es in der Tat sensationelle Neuig­keiten, die allerdings noch bei den wenigs­ten Sozio­logen und Neuzeit­historikern, die sich mit Migration beschäftigen, angekommen sind. Erst seit etwa zehn Jahren wissen wir durch die Analyse alter DNS (aDNA), dass – abgesehen von der Ausbrei­tung der Mensch­heit (des homo sapiens) über alle Kontinente beginnend vor etwa 70.000 Jahren (out of Africa) – zwei ganz große Wanderungs­bewegungen in Europa stattgefunden haben. Sie haben den „Genpool“ der alten Europäer völlig verändert und zeigen einen mindestens zeit­weiligen „Bevölkerungs­austausch“ an. Die entschei­dende Neuerung der Vor­geschichte war die Verbreitung des Ackerbaus (und auch der Viehzucht), die sogenannte „neolithische Revolution“, die vom frucht­baren Halbmond und Anatolien aus vor etwa 7.000 Jahren nach Europa kam. Bis vor kurzem waren sich die Archäo­logen noch uneins darüber, ob sie sich gewisser­maßen als „Idee“ verbreitete oder von Einwanderern mitgebracht wurde. Die neuen genetischen Unter­suchungen haben gezeigt, dass es anatolische Bauern waren, die mit ihren Kennt­nissen und ihren gezähmten Tieren nach Westen zogen. Hier haben sie die (offenbar recht kleinen) Jäger- und Sammler­populationen Alteuropas zumindest zahlen­mäßig verdrängt. Am Ende des Neolithikums mit der beginnenden Bronzezeit (ab ca. 2800 v. Chr.) ist eine neue Einwanderungs­welle nachweisbar, diesmal von mobilen Viehhirten (und Reitern) aus der eurasischen Steppe, die erneut zu einer auffälligen Veränderung der genetischen Signatur in Mittel­europa führte. Diese genetischen Verände­rungen in der Vorgeschichte lassen sich übrigens mit Verände­rungen im archäologischen Sachgut korrelieren.
Das ist in dieser kurzen Antwort alles sehr verein­facht und verkürzt, mehr Details finden sich im Buch. Diese neuen naturwissen­schaftlichen Erkennt­nisse werden aber nur diejenigen überraschen, die Migration über weite Räume hinweg für ein exklusives Phänomen der kapitalis­tischen und globalisierten Moderne gehalten haben.

„Die Kulturgeschichte der Mensch­heit ist eine Geschichte der Migration“ – ist das nicht etwas überspitzt?

Nun ja, hier darf ich Sie erinnern, dass der Vorschlag für den Titel vom Verlag kam … Aber in der Sache ist das ganz richtig. Gerade das Beispiel der Verbrei­tung von bedeutenden Kultur­techniken wie Ackerbau zeigt das. Es war eben keine abstrakte Information, die sich über Europa verbreitete. Es waren die Acker­bauern selbst, die ihre komplexen Erfah­rungen im Landbau in neuen Regionen anwandten und bisweilen lokale Nach­ahmer fanden. Techniken und Informa­tionen sind oft zu komplex, um mündlich und ohne Aus­bildung oder „Lehre“ vermittelt zu werden – gerade zu Zeiten ohne Medien. Sie wandern nur mit ihren Trägern. Migration erklärt somit Fortschritt. Und auch neue Formen von Kultur entstehen vor allem im Austausch über Kultur­grenzen hinweg.
Es waren eben nicht die Weinreben, die bereits der Gründer von Kapstadt, Jan van Riebeeck, 1652 nach Südafrika mitbrachte, welche die bis heute berühmte Weinbau­kultur des Landes begründeten. Sie gingen kläglich ein oder brachten wenig Ertrag, weil sie von malayischen Sklaven kultiviert wurden, die sich mit Wein nicht auskannten. Es waren die wenigen fachkundigen hugenottischen Familien aus Frankreich, die sich eine Generation später am Kap ansiedelten. Bis heute ist Franschhoek (Franzoseneck) die Lage mit den besten Weinen des Landes. Bereits für die Bronzezeit haben wir archäo­logische Beweise für weiträumige Austausch­netzwerke im Mittelmeer­raum und darüber hinaus. Metalle aus Spanien und Britannien wurden beispiels­weise bis nach Griechen­land und Kleinasien gehandelt. Mit den Waren reisten auch Menschen, die neues Wissen mitbrachten.

Das Schiff von Uluburun
Das Schiff von Uluburun sank im 14. Jh. v. Chr. vor der Südwestküste der Türkei. Seine Fracht demonstriert die Globalisierung der Bronzezeit (Foto: Panegyrics of Granovetter, CC BY‑SA 2.0).

Auch für die Schöpfung von Neuem, von Kultur­synthesen, ist der kultur­übergreifende Austausch durch Migration entscheidend. Ein eigenes Kapitel habe ich der Entstehung des Jazz in den USA gewidmet. Diese neue Musik, die unseren gesamten modernen Popmusik zugrunde liegt, hat sich aus dem Zusammen­prall und der folgenden Verschmel­zung von europäischen Musik­traditionen mit denen der als Sklaven nach Amerika verschleppten (West-)Afrikaner entwickelt. Die Musik der missbrauchten und misshandelten Sklaven ist die rhythmische Konterbande, zu der die Nachfahren der Sklaven­halter verzückt das Tanzbein schwingen. Migrations­bedingte Kultur­synthese versinn­bildlicht somit unter Umständen auch den Sieg des Schönen über das Niederträchtige.

Dann noch eine letzte Frage: Sie sind ja selbst vor gut zwanzig Jahren nach Rumänien gegangen, um in Iași eine Zweigstelle des Goethe-Instituts aufzubauen. Welche Berei­cherungen haben Sie aus Ihrer persön­lichen Migrations­geschichte gezogen?

Migrationserfahrung kann ganz unter­schiedlich sein. Der Kriegs­flüchtling aus der Ukraine wird seine Wanderungs­geschichte ganz anders begreifen als der russische Oligarch die seine in seiner Villa an der Côte d’Azur. Anders wiederum vielleicht der Flücht­ling Thomas Mann in seinem wunder­schönen Haus unter Palmen in Pacific Palisades. Meine Aus­wanderung vor über zwanzig Jahren war natür­lich freiwillig und nur für einen überschau­baren Zeitraum von etwa drei Jahren geplant. Eine Rück­kehr war also vorgesehen – auch das ist sehr typisch für Migration. Aber persön­liche Gründe und die Möglich­keiten einer Karriere, die in Deutsch­land vielleicht ganz anders verlaufen wäre, haben meine dauer­hafte Emigration bestimmt, die sich letztlich „einfach so ergeben“ hat. Im Gegen­satz zu Ovid, der vor über 2.000 Jahren an die Küste des heutigen Rumäniens verbannt worden war, finde ich Land und Leute ganz wunder­bar und bleibe gerne auch weiterhin hier. Ich war zwischen­durch aber auch für ein Jahr als Gastwissen­schaftler in England. In der akademischen Welt sind Ortswechsel und weiträumige Wanderungs­bewegungen ja ganz normal, übrigens schon seit dem Mittel­alter. Erasmus von Rotterdam oder Thomas von Aquin haben weitaus vielfältigere Migrations­erfahrungen gemacht. Ganz sicher bin ich mir aber, dass mein Lebens­weg mein Interesse an dem Thema in entschei­dendem Maße bestimmt hat. Also ist das Buch, das Sie vor sich haben, letztlich auch ein Produkt von Kultur­kontakt und inter­nationaler Migration.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview mit Prof. Dr. Dr. Alexander Rubel führte Dr. Julius Alves aus dem Lektorat Geschichte/Politik/Gesellschaft.

Alexander Rubel
Migration
Eine Kulturgeschichte der Menschheit

2024. 332 Seiten mit 30 Abb. Kart.
€ 35,–
ISBN 978-3-17-044528-4

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