Als Projektmitarbeiter am Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung forscht Dr. Hannes Weber zur strukturellen, sozialen und kulturellen Integration von Kindern von Migranten. Nun legte er mit „Der demographische Wandel. Mythos – Illusion – Realität“ eine neue Monographie vor, die sich diesem gesellschaftlich relevanten und hoch aktuellen Thema unaufgeregt und informativ widmet.
Was versteht man genau unter dem „demographischen Wandel“?
Zu Bismarcks Zeiten brachte die durchschnittliche Frau in Deutschland noch sechs Kinder zur Welt – aber nicht weniger als jedes dritte starb in den ersten Lebensjahren. In den letzten 50 Jahren dagegen wurden nur noch 1,5 Kinder je Frau geboren, aber 99% davon durften bis ins Erwachsenenalter überleben. Das ist der „demographische Wandel“. Weniger Kinder und höhere Lebenserwartung – dadurch verändert sich die Gesellschaft natürlich extrem in ihrer Zusammensetzung. Heute dominieren die 45- bis 65-Jährigen den Altersaufbau, und in den kommenden Jahren werden diese starken Jahrgänge nach und nach in den Ruhestand treten. Das ist die zentrale Herausforderung der demographischen Entwicklung.
Das Buch trägt den Untertitel „Mythos – Illusion – Realität“. Was ist einer der Mythen beim demographischen Wandel? Und schreiben Sie gegen einen solchen Mythos an oder ist er berechtigt?
Der demographische Wandel an sich ist natürlich real, und er hat reale Konsequenzen in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Aber in manchen eben auch weniger. Beispielsweise wird oft von einem demographisch bedingten Fachkräftemangel gesprochen. Dass dahinter die Demographie stecke, ist ein Mythos. In den letzten 20 Jahren wurde die Studienanfängerquote verdoppelt, das ist der Grund für die sinkende Nachfrage nach Ausbildungsberufen. Gleichzeitig verharren in staatlich kontrollierten Berufsfeldern, etwa in Pflege und Erziehung, trotz enormen Bedarfs an Arbeitskräften die Gehälter auf niedrigem Niveau. Und an den Universitäten bauten die Länder trotz des sich abzeichnenden Ärztemangels nicht die Studienplätze in Medizin aus, sondern die in Geistes- und Sozialwissenschaften. Bei alldem sind die Folgen natürlich absehbar, und mit der demographischen Entwicklung hat das kaum etwas zu tun.
Was sind Chancen und Risiken des demographischen Wandels?
Wir sind uns wahrscheinlich alle darin einig, dass es ein zivilisatorischer Fortschritt ist, dass heute ein durchschnittliches Elternpaar nicht mehr zwei seiner Kinder im Säuglingsalter beerdigen muss, und stattdessen die meisten Menschen ein längeres und gesünderes Leben erwarten dürfen. Dass die Geburtenraten unter solchen Vorzeichen nicht auf dem Niveau voriger Jahrhunderte bleiben, erscheint dann natürlich sinnvoll, wenn man als Gesellschaft nicht exponentiell wachsen will. Und wenn die Bevölkerung nicht mehr wächst, kann das Entlastung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, beim Verkehr und für die Umwelt bedeuten. Natürlich gibt es auch die weithin bekannten Risiken. Das umlagefinanzierte Rentensystem wird ohne weitere Zuschüsse oder Reformen nicht überleben können. Für die Pflege der zunehmenden Zahl Hochbetagter braucht es neue Lösungen. Aber das sind die unvermeidlichen Kosten des genannten zivilisatorischen Fortschritts, den wohl niemand rückgängig machen will. Den „demographischen Wandel“ stattdessen bekämpfen zu wollen, stellt die positiven Aspekte in Frage und ändert meist wenig an den negativen.
Der demographische Wandel ist in der öffentlichen Wahrnehmung eher negativ besetzt, Sie zeigen aber durchaus positive Aspekte auf. Wie ist diese Diskrepanz zu erklären?
Wahrscheinlich vor allem dadurch, dass die Folgen der Demographie für Wirtschaft und Gesellschaft häufig missverstanden werden. Wenn man dann das zehnte Mal in der Zeitung liest, die demographische Entwicklung stürze das Land in die Krise, dann glaubt man es meist irgendwann. Man muss aber auch anmerken, dass sich die öffentliche Meinung zu dem Thema stark geändert hat. Noch in den 1980er Jahren zeigten Umfragen, dass die Europäer einen Bevölkerungsrückgang eher begrüßt hätten als einen weiteren Anstieg. Seitdem ist die Menschheit in jedem Jahr um die Einwohnerzahl Deutschlands gewachsen, der Verkehr hat sich vervielfacht, der Klimawandel an Fahrt aufgenommen, wir konsumieren mehr als die Erde reproduzieren kann – aber irgendwie scheint man sich auf den Standpunkt geeinigt zu haben, dass unsere Zahl damit nichts zu tun hat und wir stattdessen lieber unserem „Vergreisen“ oder gar „Aussterben“ entgegenwirken sollten.
Ist die demographische Entwicklung Deutschlands vergleichbar mit anderen europäischen Ländern?
Insgesamt ja, wobei wir, was die Dauer und Konstanz der niedrigen Geburtenraten in Westdeutschland seit 1972 angeht, alle anderen europäischen Länder übertreffen. In Süd- und Osteuropa hat der Geburtenrückgang deutlich später eingesetzt. Und in Frankreich oder Skandinavien gab es ihn nie so stark wie hierzulande. Unsere Politiker hatten also am längsten Zeit, sich auf die absehbaren Folgen vorzubereiten.
Am Ende Ihres Buches stellen Sie Handlungsoptionen vor. Was ist Ziel dieser Handlungsoptionen und wie sollten sie am besten umgesetzt werden?
Man muss sich zunächst auf grundlegende Ziele einigen; darauf, wohin die Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten hinsteuern soll. Man kann nicht alles haben: Eine wachsende Bevölkerung, gleichzeitig weniger Flächen- und Ressourcenverbrauch, trotzdem genug bezahlbarer Wohnraum – das widerspricht sich beispielsweise. Es gibt Zielkonflikte und man muss Priorisierungen treffen. Erst wenn klar ist, was genau bezweckt werden soll in der Demographiepolitik, können auch die Handlungsoptionen bewertet werden. Und dann sind natürlich viele Maßnahmen etwa zur Stabilisierung der Rentenkassen in der Diskussion, aber nicht alle sind auch wirksam. Viele Menschen denken beispielsweise, die Rente ist in Gefahr, weil so wenige Kinder geboren werden, also besteht die Lösung darin, die Geburtenrate zu erhöhen. Es spricht wirklich vieles dafür, in Deutschland die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern und dadurch mehr Paaren ihren Kinderwunsch zu ermöglichen, aber auf das Verhältnis zwischen Ruheständlern und Erwerbsfähigen hätten hierzulande selbst deutliche Erhöhungen der Geburtenrate auf Jahrzehnte hin kaum einen merklichen Effekt. Wir brauchen also andere Lösungen, die vor allem auf den Finanzierungsmix der Rente abzielen sollten.
Wagen Sie einen Blick in die Zukunft. Wie wird sich die Demographie in Zukunft gestalten?
Natürlich weiß niemand, was die Zukunft bringt. Aber demographische Prognosen sind meist verlässlicher als etwa ökonomische oder politische. Über die Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2050 wissen wir schon viel, weil die Mehrzahl davon schon heute lebt. Nur falls unvorhersehbare Ereignisse mit katastrophalen Folgen in Dimensionen wie der Pest oder des Dreißigjährigen Krieges eintreten sollten, wird diese Aussage falsch sein. Ansonsten ist die Migration der größte Unsicherheitsfaktor. Aber insgesamt ist es recht wahrscheinlich, dass auch um 2050 noch so viele Menschen in Deutschland leben werden wie heute. Es ist sogar durchaus ein weiterer Anstieg der Bevölkerung im Bereich des Möglichen. In vielen Ballungsgebieten ist das sogar recht sicher. Ganz sicher ist hingegen, dass die Alterung weiter voranschreiten wird – egal wie sich Geburten und Migration in nächster Zeit entwickeln. 2035 wird das kritische Jahr für die Rente sein. Bis dahin sollten wir uns dringend etwas überlegen.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Zeit.
Das Interview führte Dr. Peter Kritzinger.