Seit dem SommerÂsemester 2022 wird deutschlandÂweit der neue Bachelor- und MasterÂstudiengang „PsychoÂtherapie“ angeboten. Die große Bedeutung von pharmaÂkologischem Wissen in der psychoÂtherapeuÂtischen Behandlung ist hingegen nicht neu. Wie wurden die pharmakoÂlogischen Aspekte bislang im Studiengang Psychologie behandelt?
Frau Prof. Stingl: Wie in den meisten medizinÂnahen Fächern spielten pharmakoÂlogische Aspekte im StudienÂgang Psychologie bisher eine eher unterÂgeordnete Rolle. Dies liegt zum einen daran, dass PsychoÂlogie natürlich eine viel breitere AusÂrichtung hat und gar nicht jeder Absolvierende später psychoÂtherapeutisch arbeitet. Zum anderen wird die ArzneiÂmittelÂtherapie zunehmend als etwas betrachtet, das die PatientInnen beeinÂträchtigen oder zumindest Fragen aufwerfen könnte. Wir haben heute 60 % mehr ArzneiÂmittelÂverschreibungen als noch vor 20 Jahren und gerade ältere Menschen nehmen eine große Anzahl an ArzneiÂmitteln täglich ein. Da können NebenÂwirkungen oder Ängste bezüglich WirksamÂkeit und SicherÂheit der MedikaÂmente durchaus GegenÂstand der psychoÂtherapeuÂtischen BehandÂlung sein. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass die meisten Erwachsenen ArzneiÂmittel einnehmen, das gehört zum modernen Menschen dazu. Deshalb haben wir dieses Buch herausÂgebracht, welches angelehnt an das CurriÂculum des neuen StudienÂganges die wichtigsten aktuellen Inhalte der pharmakoÂlogischen Lehre vermittelt.
Wie Sie bereits angesprochen haben, nehmen viele PatientInnen, insbesonÂdere ältere, oftmals zahlÂreiche Medikamente parallel ein, die miteinÂander in WechselÂwirkung treten und sowohl unerwünschte wie auch unerwarÂtete NebenÂwirkungen hervorÂrufen können. Selbst für AltersÂmedizinerInnen ist es schwierig, hier den ÃœberÂblick zu behalten. Gibt es besonders häufig eingenommene MedikaÂmente bzw. MedikamentenÂgruppen, auf deren Wirkung und NebenÂwirkung PsychotherapeutInnen unbedingt vorbeÂreitet sein sollten?
Frau Dr. Just: Zumindest gibt es Beschwerden oder BeeinÂträchtigungen, die mit den ArzneiÂmitteln zu tun haben können, die jemand einnimmt. Die erste SchwierigÂkeit in der Betreuung von PatientInnen, die viele ArzneiÂmittel gleichzeitig einnehmen, ist mitzuÂbekommen, dass NebenÂwirkungen auftreten. Oftmals werden NebenÂwirkungen gar nicht als solche erkannt und es werden noch mehr ArzneiÂmittel verschrieÂben oder andere Therapien eingeÂleitet, anstatt die bestehende ArzneimittelÂtherapie zu reduzieren. Um konseÂquent und für das PatientenÂwohl zielführend reagieren zu können, bedarf es einer guten interÂprofessionellen KoopeÂration und einer engen ZusammenÂarbeit unterÂschiedlicher GesundheitsÂberufe, die PatientInnen betreuen. Da viele ArzneiÂmittel psychische NebenÂwirkungen besitzen, die auch als SympÂtome einer psychischen ErkranÂkung fehlgedeutet werden können, ist es zum Beispiel wichtig, dass auch PsychoÂtherapeutInnen solche Symptome erkennen und richtig einordnen können.
Nun richtet sich Ihr Lehrbuch in erster Linie an Studierende des PsychoÂtherapie-Studiengangs, denen die Erfahrung in der psychoÂtherapeutischen BehandÂlung bislang fehlt. Können Sie ihnen aus Ihrer Erfahrung berichten, ob es üblich ist, dass PatientInnen zu Beginn der Therapie offen von eingenommenen MedikaÂmenten bzw. Sucht-/GenussÂmitteln berichten? Oder werden diese in der Regel eher verschwieÂgen, sodass Ihre jungen KollegInnen diese Themen unbedingt im HinterÂkopf haben sollten?
Herr Dr. Paulzen: Am Anfang einer jeden Psychotherapie steht die ausÂführliche Anamnese. Dies bedeutet, dass auch die durch PsychoÂtherapeutInnen gestellten Fragen nach eingenomÂmenen Medikamenten bzw. Sucht- und Genussmitteln nicht unbeantÂwortet bleiben sollten. Erst wenn sich PsychoÂtherapeutInnen auch darüber im Klaren sind und einen entspreÂchenden ÃœberÂblick haben, ermögÂlicht dies den Einstieg in eine langÂfristige und vertrauensÂvolle therapeuÂtische Beziehung. Wenn PsychoÂtherapeutInnen eine gewisse pharmakoÂlogische Expertise mitbringen, gelingt es, deutlich mehr SicherÂheit auch in der therapeuÂtischen Beziehung einzubringen. Genau hier setzt unser Buch an, das das pharmakoÂlogische Wissen speziell für PsychoÂtherapeutInnen aufbereitet.
Frau Prof. Stingl: Thematisch spielt auch die Frage von PsychoÂtherapeutInnen nach Wirkungen oder NebenÂwirkungen eingenommener MedikaÂmente oftmals eine gewichtige Rolle. TatsächÂlich haben wir in einer PatientenÂbefragung zu NebenÂwirkungen herausÂbekommen, dass viele PatientInnen VorÂbehalte haben, ihrem/ihrer ÄrztIn die NebenÂwirkungen mitzuteilen, da sie keine schlechte RückÂmeldung über die Therapie geben wollen. Hier kann eine interÂprofessioÂnelle Zusammenarbeit die KommuniÂkation und WachsamÂkeit gegenüber unerwünschÂten Wirkungen stärken – oft können NebenÂwirkungen ja durch einfache TherapieÂanpassungen vermieden werden.
Was möchten Sie den Studierenden gerne mitgeben, bevor sie Ihr Buch aufschlagen und lesen?
Frau Dr. Just: In erster Linie die Hemmung vor dem auf den ersten Blick etwas unüberÂsichtlichen Fach PharmakoÂlogie mit den zum Teil fremden BegrifflichÂkeiten nehmen. Und im zweiten Schritt sensibiÂlisieren für Situationen, die ihre psychoÂtherapeutische Tätigkeit beeinÂflussen können und im Kontext der ArzneimittelÂtherapie eines/einer PatientIn zu sehen sind.
Herr Dr. Paulzen: Seien Sie mutig, sich Wissen anzueignen, das auf den ersten Blick nur ein RandÂgebiet der psychoÂtherapeutischen Arbeit berührt. Auf den zweiten Blick aber werden Sie merken, dass ein gewisses pharmakoÂlogisches GrundÂverständnis ein ganz wichtiger GrundÂpfeiler und auch eine vertrauensÂbildende Maßnahme in der psychoÂtherapeutischen Arbeit ist.
Frau Prof. Stingl: Arzneimittel gehören mittlerweile zum Alltag der meisten Menschen dazu und haben einen großen Einfluss auf unsere psychische und körperÂliche GesundÂheit. Daher halte ich es für eine wichtige FertigÂkeit, dass PsychoÂtherapeutInnen GrundÂkenntnisse zur ArzneimittelÂwirkung beim Menschen haben, so dass sie auf arzneimittelÂverursachte Probleme bei ihren KlientInnen mit Kompetenz und Fachwissen eingehen können.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit und Ihre Mühe!
In der achten Folge des Podcasts „FaszinÂation Medizin“ (September 2021) der UniÂklinik RWTH Aachen erläutert Frau Prof. Stingl, warum die klinische PharmaÂkologie partiziÂpative Forschung braucht und die PatientInnen Manager ihrer eigenen Therapie werden müssen.
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Stingl/Just/Paulzen (Hrsg.)
Klinische Pharmakologie in der psychotherapeutischen Arbeit
Ein patientenzentriertes Lehrbuch für Studium, Ausbildung und Praxis
2023. 228 Seiten. Kart.
€ 36,–
ISBN 978-3-17-043060-0