Psychosomatik

Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert

Im folgenden Interview gibt das Herausgeberteam Einblicke in die Besonderheiten der 2. Auflage ihres Standardwerks. Sie erläutern, wodurch sich ihre Herangehens­weise von anderen Werken zur Psychosomatik unterscheidet und welche Rolle die neurobiologische Fundierung und Evidenzbasierung spielen. Außerdem diskutieren sie die Chancen und Heraus­forderungen des Fachgebiets sowie Zukunfts­konzepte wie „Psychosomatik 4.0“ und „5.0“.

Umschlagabbildung des Buches

Egle/Heim/Strauß/von Känel (Hrsg.)
Psychosomatik
Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert

Ein Lehr- und Handbuch

2., erw. und überarb. Auflage 2024
906 Seiten mit 148 Abb. und 101 Tab. Fester Einband
€ 159,–
ISBN 978-3-17-041384-9

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Die Herausgebenden (v. l. n. r.): Prof. Dr. Ulrich T. Egle, Prof. Dr. Christine Heim, Prof. Dr. Bernhard Strauß, Prof. Dr. Roland von Känel

Bereits ein Jahr nach Erscheinen der 1. Auflage in 2020 gab der Erfolg Ihres Lehr- und Handbuchs Anlass, die 2. Auflage zu planen, die wir nun präsentieren dürfen. Worauf basiert der Erfolg Ihres Werkes, worin bestehen dessen Besonderheiten? Welche Ergänzungen und Verbesserungen bietet die 2. Auflage?

Wir glauben, dass der Erfolg unseres Handbuchs ganz wesentlich auf die nicht ohne Grund im Untertitel aufgeführten beiden Charakteristika „neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert“ zurückzuführen ist. Da alle vier Heraus­geber sehr viele Jahre an Universitäts­abteilungen tätig sind bzw. waren und als Dozierende viel Austausch mit Studierenden und mit Weiter­bildungs­teilnehmern und -teilnehmerinnen haben, wussten wir, dass es diesbezüglich Defizite bzw. für viele einen erheblichen Nachhol­bedarf hinsichtlich der wissen­schaft­lichen Fundierung des Fachgebiets Psycho­somatik gibt. Dies bewog uns dann, über einen Zeitraum von sechs Jahren die Herausgabe der 1. Auflage sorgfältig vorzubereiten. Ermutigt hat uns dabei auch die ganz überwiegend positive Resonanz seitens der als Autorinnen und Autoren angesprochenen Kolleginnen und Kollegen mit hoher Expertise in ihrem jeweiligen Spezial­gebiet – insgesamt mehr als 150. Trotz ihren zeitintensiven Tätigkeiten in Forschung und Lehre und teilweise auch noch der Kranken­versorgung unterstützten sie unsere moderne Herangehens­weise an dieses Buchprojekt – ein großer Teil mit viel Enthusiasmus! Diese Bereit­schaft der zahlreichen Mitwirkenden, die Konzeption unseres Werks zu unterstützen, erklärt ganz wesentlich den Erfolg der 1. Auflage.
Obwohl wir uns bereits ein Jahr nach Erscheinen der 1. Auflage an die Planung der 2. Auflage machten, wurde für alle Kapitel ein wissenschaftliches Update durchgeführt und einige Kapitel wurden ganz neu verfasst. Weitere Beiträge zu neuen Themen (assoziative Lern- und Gedächtnis­prozesse, Posttraumatische Belastungs­störung, Atemwegs­erkrankungen, Typ-2-Diabetes sowie Placebo und Nocebo-Wirkung) kamen hinzu, so dass das Buch jetzt 100 Kapitel umfasst. Auch wurde das Layout deutlich leser­freundlicher gestaltet.

Wodurch unterscheidet sich Ihr Lehr- und Handbuch von den bislang im deutsch­sprachigen Raum erschienenen Werken zur Psychosomatik?

Die meisten anderen Psychosomatik-Bücher sind von einer Psycho­therapie­schulen-spezifischen Sicht (v. a. Psychoanalyse und Verhaltens­therapie) auf psychosomatische Zusammenhänge geprägt, d. h., sie stammen oft aus einer Zeit, in der die Grundlagen der Psycho­somatik vorwiegend von meta­psychologischen Theorien geprägt wurden und dadurch der Bezug zu neuen und evidenz­basierten Forschungs­befunden der modernen Kognitions- und Neurowissen­schaften, Evolutions­biologie und Sozial­wissen­schaften nicht hergestellt wurde. Dies hat dann auch Auswir­kungen auf die bei den verschie­denen Krankheits­bildern propagierten Behandlungsstrategien.

Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Besonderheiten der Psychosomatik zu anderen Fachdisziplinen?

Leider steht bei vielen medizinischen Fach­disziplinen immer noch ein bio-medizinisches Krankheits­verständnis im Vordergrund. Psychische und soziale Einfluss­faktoren werden oft erst im Rahmen rehabilitativer Maßnahmen berück­sichtigt – und das meist additiv und nicht integrativ. Dabei könnte man eine Chronifi­zierung von Krank­heiten oft verhindern oder ihr Ausmaß zumindest erheblich einschränken, wenn bei der Akut­behandlung bereits psychosoziale Kontext­faktoren hinreichend berücksichtigt würden und im Rahmen einer Sekundär­prävention nicht nur biomedizinische Faktoren im Mittel­punkt stünden.

Warum ist der „psychosomatische Blick“ in der Gesundheits­versorgung so wichtig?

Die Berücksichtigung bio-psycho-sozialer Zusammenhänge „von der Wiege bis zur Bahre“ würde enorme Kosten­einsparungen mit sich bringen. Allein die in der Gesundheits­versorgung fehlende Berück­sichtigung aversiver psychosozialer Einfluss­faktoren in Kindheit und Jugend kostet in Deutsch­land jährlich 3,4 % – ein dreistelliger Milliarden­betrag! – und in der Schweiz 2,8 % des Bruttoinlands­produkts (BIP). Hinter diesen ökonomischen Zahlen verbirgt sich individuell viel Leid und Leiden, die durch eine Umsetzung dieser Zusammenhänge in der Primär- und Sekundärprävention verhindert werden könnten.

Die Psychosomatische Medizin deckt ein extrem breites Spektrum unter­schiedlichster Krankheitsbilder ab. Auf welchem dieser Gebiete gibt es aktuell besonders interessante und relevante Entwicklungen?

Das Buch stellt eine Vielzahl interessanter und relevanter Entwick­lungen für ein modernes psycho­somatisches Verständnis und Behandlungs­konzept vor, die den Leserinnen und Lesern in jedem Kapitel leicht zugänglich gemacht werden. Ein besonderes Merkmal unseres Buches ist, dass es störungs­übergreifende Konzepte und Mechanismen ausführ­lich darstellt, die diagnos­tische Grenzen überschreiten und über Regulations­systeme hinweg wirksam sind, so z. B. die Folgen früher aversiver Lebens­erfahrungen für eine Vielzahl von Erkrankungen oder übergreifende Regulations­mechanismen wie neuro-immun-metabolische und epigenetische Prozesse.

Worin bestehen in naher und ferner Zukunft die größten Chancen, aber auch die größten Heraus­forderungen der Psychosomatik?

Die größten Heraus­forderungen für die Psycho­somatik bestehen unseres Erachtens in der Umsetzung der wissen­schaftlichen Erkenntnisse zu den bio-psycho-sozialen Wechsel­wirkungen bei der Entstehung von Krankheit und Bewahrung von Gesundheit in Präventions­maßnahmen ebenso wie in bio-psycho-soziale Behandlungs­strategien, welche in der breiten Versorgung umgesetzt werden. Die große Chance liegt in einer effektiveren und letztlich kosten­günstigeren Gesundheitsversorgung.

Was verstehen Sie unter „Psycho­somatik 4.0“? Ist bereits eine Weiter­entwicklung der „Psycho­somatik 4.0“ in Aussicht, sozusagen eine „Psycho­somatik 5.0“? Was könnten deren Merkmale sein?

Die Postulierung einer „Psychosomatik 4.0“ beinhaltete für uns bei der Planung der 1. Auflage, dass es ganz wesentlich um eine wissen­schaftliche Evidenz­basierung und neurobiologische Fundierung im Hinblick auf wissenschaft­liche Grundlagen des Fachgebiets und beim Verständnis patho­genetischer Mechanismen geht. Dies muss nun zunächst in der Praxis von Ärzten, Psycho­logen und anderen im Gesundheits­wesen tätigen Berufs­gruppen ankommen und umgesetzt werden. Ob wir dies dann als Teil einer Psychosomatik 4.0 verstehen oder „Psycho­somatik 5.0“ nennen, wird die nächste Generation zu entscheiden haben. Für diese haben wir zusammen mit den Verantwort­lichen beim Kohlhammer Verlag dieses Hand- und Lehrbuch-Projekt als eine wissen­schaftliche Bestands­aufnahme konzipiert.

Was möchten Sie dem Nachwuchs im Bereich der Psycho­somatischen Medizin mit auf den Weg geben?

Seien Sie neugierig, versuchen Sie tradierte Vorstellungs­modelle von Psycho­therapieschulen zur Psycho­somatik beiseitezulegen und lassen Sie sich auf die „neue“ Psycho­somatik ein! Es wird Aufgabe Ihrer Generation sein, wissen­schaftlich fundierte bio-psycho-soziale Behandlungs­konzepte zu entwickeln, zu evaluieren und in der Praxis wirksam zur Anwendung zu bringen.

Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!

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