Psychosomatik
Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert
Im folgenden Interview gibt das Herausgeberteam Einblicke in die Besonderheiten der 2. Auflage ihres Standardwerks. Sie erläutern, wodurch sich ihre Herangehensweise von anderen Werken zur Psychosomatik unterscheidet und welche Rolle die neurobiologische Fundierung und Evidenzbasierung spielen. Außerdem diskutieren sie die Chancen und Herausforderungen des Fachgebiets sowie Zukunftskonzepte wie „Psychosomatik 4.0“ und „5.0“.
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Egle/Heim/Strauß/von Känel (Hrsg.)
Psychosomatik
Neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert
Ein Lehr- und Handbuch
2., erw. und überarb. Auflage 2024
906 Seiten mit 148 Abb. und 101 Tab. Fester Einband
€ 159,–
ISBN 978-3-17-041384-9
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Bereits ein Jahr nach Erscheinen der 1. Auflage in 2020 gab der Erfolg Ihres Lehr- und Handbuchs Anlass, die 2. Auflage zu planen, die wir nun präsentieren dürfen. Worauf basiert der Erfolg Ihres Werkes, worin bestehen dessen Besonderheiten? Welche Ergänzungen und Verbesserungen bietet die 2. Auflage?
Wir glauben, dass der Erfolg unseres Handbuchs ganz wesentlich auf die nicht ohne Grund im Untertitel aufgeführten beiden Charakteristika „neurobiologisch fundiert und evidenzbasiert“ zurückzuführen ist. Da alle vier Herausgeber sehr viele Jahre an Universitätsabteilungen tätig sind bzw. waren und als Dozierende viel Austausch mit Studierenden und mit Weiterbildungsteilnehmern und -teilnehmerinnen haben, wussten wir, dass es diesbezüglich Defizite bzw. für viele einen erheblichen Nachholbedarf hinsichtlich der wissenschaftlichen Fundierung des Fachgebiets Psychosomatik gibt. Dies bewog uns dann, über einen Zeitraum von sechs Jahren die Herausgabe der 1. Auflage sorgfältig vorzubereiten. Ermutigt hat uns dabei auch die ganz überwiegend positive Resonanz seitens der als Autorinnen und Autoren angesprochenen Kolleginnen und Kollegen mit hoher Expertise in ihrem jeweiligen Spezialgebiet – insgesamt mehr als 150. Trotz ihren zeitintensiven Tätigkeiten in Forschung und Lehre und teilweise auch noch der Krankenversorgung unterstützten sie unsere moderne Herangehensweise an dieses Buchprojekt – ein großer Teil mit viel Enthusiasmus! Diese Bereitschaft der zahlreichen Mitwirkenden, die Konzeption unseres Werks zu unterstützen, erklärt ganz wesentlich den Erfolg der 1. Auflage.
Obwohl wir uns bereits ein Jahr nach Erscheinen der 1. Auflage an die Planung der 2. Auflage machten, wurde für alle Kapitel ein wissenschaftliches Update durchgeführt und einige Kapitel wurden ganz neu verfasst. Weitere Beiträge zu neuen Themen (assoziative Lern- und Gedächtnisprozesse, Posttraumatische Belastungsstörung, Atemwegserkrankungen, Typ-2-Diabetes sowie Placebo und Nocebo-Wirkung) kamen hinzu, so dass das Buch jetzt 100 Kapitel umfasst. Auch wurde das Layout deutlich leserfreundlicher gestaltet.
Wodurch unterscheidet sich Ihr Lehr- und Handbuch von den bislang im deutschsprachigen Raum erschienenen Werken zur Psychosomatik?
Die meisten anderen Psychosomatik-Bücher sind von einer Psychotherapieschulen-spezifischen Sicht (v. a. Psychoanalyse und Verhaltenstherapie) auf psychosomatische Zusammenhänge geprägt, d. h., sie stammen oft aus einer Zeit, in der die Grundlagen der Psychosomatik vorwiegend von metapsychologischen Theorien geprägt wurden und dadurch der Bezug zu neuen und evidenzbasierten Forschungsbefunden der modernen Kognitions- und Neurowissenschaften, Evolutionsbiologie und Sozialwissenschaften nicht hergestellt wurde. Dies hat dann auch Auswirkungen auf die bei den verschiedenen Krankheitsbildern propagierten Behandlungsstrategien.
Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Besonderheiten der Psychosomatik zu anderen Fachdisziplinen?
Leider steht bei vielen medizinischen Fachdisziplinen immer noch ein bio-medizinisches Krankheitsverständnis im Vordergrund. Psychische und soziale Einflussfaktoren werden oft erst im Rahmen rehabilitativer Maßnahmen berücksichtigt – und das meist additiv und nicht integrativ. Dabei könnte man eine Chronifizierung von Krankheiten oft verhindern oder ihr Ausmaß zumindest erheblich einschränken, wenn bei der Akutbehandlung bereits psychosoziale Kontextfaktoren hinreichend berücksichtigt würden und im Rahmen einer Sekundärprävention nicht nur biomedizinische Faktoren im Mittelpunkt stünden.
Warum ist der „psychosomatische Blick“ in der Gesundheitsversorgung so wichtig?
Die Berücksichtigung bio-psycho-sozialer Zusammenhänge „von der Wiege bis zur Bahre“ würde enorme Kosteneinsparungen mit sich bringen. Allein die in der Gesundheitsversorgung fehlende Berücksichtigung aversiver psychosozialer Einflussfaktoren in Kindheit und Jugend kostet in Deutschland jährlich 3,4 % – ein dreistelliger Milliardenbetrag! – und in der Schweiz 2,8 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Hinter diesen ökonomischen Zahlen verbirgt sich individuell viel Leid und Leiden, die durch eine Umsetzung dieser Zusammenhänge in der Primär- und Sekundärprävention verhindert werden könnten.
Die Psychosomatische Medizin deckt ein extrem breites Spektrum unterschiedlichster Krankheitsbilder ab. Auf welchem dieser Gebiete gibt es aktuell besonders interessante und relevante Entwicklungen?
Das Buch stellt eine Vielzahl interessanter und relevanter Entwicklungen für ein modernes psychosomatisches Verständnis und Behandlungskonzept vor, die den Leserinnen und Lesern in jedem Kapitel leicht zugänglich gemacht werden. Ein besonderes Merkmal unseres Buches ist, dass es störungsübergreifende Konzepte und Mechanismen ausführlich darstellt, die diagnostische Grenzen überschreiten und über Regulationssysteme hinweg wirksam sind, so z. B. die Folgen früher aversiver Lebenserfahrungen für eine Vielzahl von Erkrankungen oder übergreifende Regulationsmechanismen wie neuro-immun-metabolische und epigenetische Prozesse.
Worin bestehen in naher und ferner Zukunft die größten Chancen, aber auch die größten Herausforderungen der Psychosomatik?
Die größten Herausforderungen für die Psychosomatik bestehen unseres Erachtens in der Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den bio-psycho-sozialen Wechselwirkungen bei der Entstehung von Krankheit und Bewahrung von Gesundheit in Präventionsmaßnahmen ebenso wie in bio-psycho-soziale Behandlungsstrategien, welche in der breiten Versorgung umgesetzt werden. Die große Chance liegt in einer effektiveren und letztlich kostengünstigeren Gesundheitsversorgung.
Was verstehen Sie unter „Psychosomatik 4.0“? Ist bereits eine Weiterentwicklung der „Psychosomatik 4.0“ in Aussicht, sozusagen eine „Psychosomatik 5.0“? Was könnten deren Merkmale sein?
Die Postulierung einer „Psychosomatik 4.0“ beinhaltete für uns bei der Planung der 1. Auflage, dass es ganz wesentlich um eine wissenschaftliche Evidenzbasierung und neurobiologische Fundierung im Hinblick auf wissenschaftliche Grundlagen des Fachgebiets und beim Verständnis pathogenetischer Mechanismen geht. Dies muss nun zunächst in der Praxis von Ärzten, Psychologen und anderen im Gesundheitswesen tätigen Berufsgruppen ankommen und umgesetzt werden. Ob wir dies dann als Teil einer Psychosomatik 4.0 verstehen oder „Psychosomatik 5.0“ nennen, wird die nächste Generation zu entscheiden haben. Für diese haben wir zusammen mit den Verantwortlichen beim Kohlhammer Verlag dieses Hand- und Lehrbuch-Projekt als eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme konzipiert.
Was möchten Sie dem Nachwuchs im Bereich der Psychosomatischen Medizin mit auf den Weg geben?
Seien Sie neugierig, versuchen Sie tradierte Vorstellungsmodelle von Psychotherapieschulen zur Psychosomatik beiseitezulegen und lassen Sie sich auf die „neue“ Psychosomatik ein! Es wird Aufgabe Ihrer Generation sein, wissenschaftlich fundierte bio-psycho-soziale Behandlungskonzepte zu entwickeln, zu evaluieren und in der Praxis wirksam zur Anwendung zu bringen.
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch!