Paola Gerr, Dipl. Sozialpädagogin, ist Integrationsmanagerin und Geschäftsführerin von Paola Gerr – Integrationsmanagement Administration Deutschland. Sie vermittelt ausländische Pflegekräfte aus Osteuropa. Zusammen mit Margita Snel-Zivanovic hat Sie das Werk „Deutsch-Serbisch/Serbisch-Deutsch für Pflege und Medizin – Wörterbuch für die Ausbildung und Praxis“ veröffentlicht.
Im Interview erzählt Sie von den Möglichkeiten und Hürden, die ausländische Pflegekräfte haben, um in Deutschland, dem Land des Pflegekräftemangels, einer pflegerischen Tätigkeit nachzugehen, und was die Sprache dazu beitragen kann.
Paola Gerr/Margita Snel-Zivanovic
Deutsch-Serbisch/Serbisch-Deutsch für Pflege und Medizin
Wörterbuch für die Ausbildung und Praxis
2020. 392 Seiten. Kart. € 20,–
ISBN 978-3-17-036394-6
Aus der Reihe „Pflegekompakt“
Frau Gerr, Sie bereiten ausländische Pflegekräfte in Deutschland auf die Anerkennungsprüfung vor. Dabei geht es darum, dass die Qualifikationen, welche die Pflegenden in Ihrer Heimat erworben haben, auch in Deutschland anerkannt werden, sodass diese hier als Fachpflegekräfte tätig werden können. Was sind dabei die größten Hürden, denen sich die Pflegenden stellen müssen?
Die größten Hürden sind 1. die sprachliche, 2. die administrative, 3. die fachsystemische und 4. die psycho-soziale.
Ich will das darlegen an Pflegekräften, die aus den BKMS-Staaten kommen. Ausländische Pflegekräfte aus anderen Kontinenten kämpfen dazu noch mit der kulturellen Hürde, die Pflegekräfte aus den BKMS- oder Balkan-Staaten wesentlich leichter überwinden können als Pflegekräfte aus Asien oder Mittelamerika.
Der Pflegekräftemangel in Deutschland ist öffentlich bekannt. Die Bundesregierung versucht seit einigen Jahren in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit über die Initiative Triple-Win, Pflegekräfte aus dem Ausland zu gewinnen. Halten Sie das für den richtigen Weg?
Nein. Fragwürdig ist bereits, dass auch die GIZ (Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit GmbH) ein gewinnbringendes Unternehmen ist und zugleich quasi verlängerter Arm des Arbeitsministeriums. Das ist ein fragwürdiges Modell. In Serbien und Bosnien-Herzegowina hatte die GIZ bis Juli 2013 ein Monopol auf die Vermittlung von Gesundheits- und Krankenpflegekräften. Das war rechtlich grenzwertig. Gleichzeitig verfolgte niemand aus der GIZ, wie es mit den vermittelten Fachkräften in Deutschland weiterging. Eine Kontrolle der deutschen Arbeitgeber gab es nicht. Daraus erwuchs Schindluder. Die Unternehmen brachen oft die gesetzlichen Vorgaben eines Mindestlohns für Fachkräfte aus Serbien und Bosnien-Herzegowina. Auch kümmerten sie sich schwer bis gar nicht um den Abschluss des Anerkennungsverfahrens, obwohl auch dies gesetzlich geregelt war und ist. Auch war es verboten, Fachkräfte aus Serbien und Bosnien-Herzegowina in der Personalüberlassung zu beschäftigen. Das ist aber mit Fachkräften, die von der GIZ vermittelt wurden, passiert und wurde dann auch geahndet, sofern das ans Licht kam. Die GIZ unterlag unzureichender Kontrolle. Es gab und gibt auch keine Kontrolle, wie die GIZ ihre Kandidaten zum Mindestsprachniveau B1 führte. Oft genug waren die Verträge mit den akkreditierten Sprachschulen in den Ursprungsländern maximal kostenminimierend ausgehandelt, sodass renommierte Sprachschulen mit der GIZ deswegen nicht mehr kooperieren wollten. Gleichzeitig wurde die GIZ im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales wie auch vom Außenministerium bei der Visa-Erteilung ihrer vermittelten Fachkräfte bevorzugt behandelt. Das alles hat einen Beigeschmack. Personalvermittlungen müssen auf Einhaltung gesetzlicher Vorgaben kontrolliert werden. Das nicht oder nicht ausreichend zu tun, öffnete mit der Balkanregelung aus Oktober 2015 kriminellen Personalvermittlungen auf dem Balkan (mit starker Vernetzung nach Deutschland) Tür und Tor. Dies ging und geht heute noch einher u. a. mit Dokumentenfälschungen sowohl der Berufsabschlüsse als auch der Sprachzertifikate. So gesehen war die GIZ das kleinere Übel. Der goldene Schnitt wäre, die Personalvermittlungen grundsätzlich zu prüfen, zu kontrollieren, zu zertifizieren und eindeutige Maßstäbe als Vorgabe zu machen, denen alle Personalvermittlungen unterliegen. Der Bereich der Integration ist nach wie vor völlig unterbelichtet und unterliegt keinen Kontrollen.
Die Sprache ist der entscheidende Motor zur Integration. Wie werden die ausländischen Pflegekräfte auf die sprachlichen Herausforderungen, die insbesondere das Verstehen und Anwenden von medizinischen Fachbegriffen mit sich bringt, vorbereitet?
Sie werden klassisch durch die ortsansässigen Sprachschulen für Deutsch vorbereitet. Hier gibt es verschiedene Modelle beginnend mit allgemeinem Deutsch als Fremdsprache bis hin zu fachbezogenem Deutsch, wie es telc mit B1/B2 Pflege anbietet. Es gibt etliche online-Kurse und Kanäle auf youtube für die sprachliche Vorbereitung. Ich selbst arbeite mit telc-lizenzierten Sprachschulen und ergänze es mit Hinweisen auf qualitativ gute Youtube-Kanäle. Bezogen auf die medizinischen Fachbegriffe ist Deutschland in der Semantik eine internationale Ausnahme. Die Pflegekräfte lernen medizinische Begriffe auf Latein. In Deutschland sind die lateinischen Begriffe eingedeutscht. Hier liegt eine Hürde, die alle Fachkräfte aus dem Ausland betrifft. Aus meiner Sicht brauchen wir mehr Literatur für die ausländischen Fachkräfte in einfachem Deutsch, um das Verstehen und Anwenden leichter zu machen. Dazu gehört auch das besondere Verständnis für geriatrische Erkrankungen und der Umgang mit demenziell erkrankten Menschen. Hier gibt es auch eine Lücke in der Ausbildung der Pflegekräfte aus dem Ausland. Eine Trennung von Gesundheits-, Kranken- und Altenpflege gibt es in diesen Ursprungsländern nicht. Somit ist auch das Angebot an Fachliteratur mit Schwerpunkt Geriatrie oder Gerontopsychiatrie in diesen Ländern im Vergleich zu Deutschland eher dünn. Hier wartet noch Arbeit auf uns mit der Herausgabe entsprechender Literatur für diese Länder. Das wäre zum Beispiel auch eine gute Synergie zwischen den ausgewanderten Fachkräften und ihrer Heimat: die dortige Ausbildung mit den Erkenntnissen aus Deutschland zu erweitern. Bezogen auf die weitere Vorbereitung der ausländischen Pflegekräfte sind weitere Sprach- und Fachschulungen in Deutschland mit ihrem Arbeitsbeginn erforderlich. Mit dem Abschluss des Anerkennungsverfahrens ist die fachliche Integration noch lange nicht beendet. Diese dauert i. d. R. mindestens zwei weitere Jahre, bis eine Fachkraft vollkommen selbstständig als Fachkraft arbeiten kann.
Zusammen mit Margita Snel-Zivanovic, die Professorin für Deutsche Philologie an der Philosophischen Fakultät in Novi Sad in Serbien ist, haben Sie sich dazu entschlossen, das Wörterbuch zu veröffentlichen. Warum halten Sie dieses für notwendig? An wen richten Sie sich genau mit diesem Angebot?
Das Angebot richtet sich an Pflegekräfte und Mediziner, die nach Deutschland kommen möchten. Es richtet sich auch an Lehrkräfte, die Deutsch lehren und ebenfalls an Personen, die durch internationale Zusammenarbeit, wie durch internationale Kongresse, viel mit deutschen Kolleg*innen interdisziplinär arbeiten und kommunizieren. Das Wörterbuch ist ein Teil der interkulturellen Kommunikation für sozialmedizinische Fachkräfte auf breiter Ebene. Das Interesse an Partizipation der Entwicklungen innerhalb der Medizin und Pflege in Deutschland ist seitens der Fachleute aus den BKMS-Staaten sehr groß. So ist Deutschunterricht an der medizinischen Fakultät in Novi Sad traditionell ein Teil des Medizinstudiums. Die Multikulturalität in der Vojvodina zeichnet sich insbesondere durch die Vielsprachlichkeit aus, dadurch gehört Deutsch traditionell zur wichtigsten Fremdsprache in dieser Region.
Die serbische Regierung hat die Teilnahme am Triple-Win-Programm im Februar dieses Jahres überraschend ausgesetzt. Wie schätzen Sie die Situation ein? Hat die Entscheidung auch Auswirkungen auf Pflegekräfte, die bereits in Deutschland waren und kurz vor ihrer Anerkennung standen?
Die Aussetzung ist das Ergebnis dreier Faktoren:
Hat die aktuelle Pandemiesituation Einfluss auf die Einreise und Integration von Pflegefachkräften aus den BKMS-Staaten?
Ja, definitiv. Durch den Lockdown und der zögerlichen Öffnung der Behörden stagnieren alle Verfahren. Wir haben enorme Bearbeitungszeiten seitens der deutschen Behörden; es betrifft alle Verfahren: Anträge auf berufliche Anerkennung, Anträge für die Arbeitserlaubnis, Anträge für die Visa-Erteilungen, Einreisen nach Deutschland, Einreisen nach Serbien. Schulschließungen aller Schulen national und international (Sprachschulen für Deutschkurse, Fachschulen für die Fachprüfungen für den Abschluß des Anerkennungsverfahrens). Und das zeitgleich mit Wirksamkeit des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes. Die Pandemiesituation ist prekär. Hinzu kommen die Verzögerungen mit den Urkundenerteilungen, damit Verzögerungen der Visa-Verlängerungen, damit Verzögerungen von Familienzusammenführungen, Verzögerungen bei der Wohnungsfindung etc. Es gibt keinen Lebensbereich, der nicht von der Pandemie betroffen ist. Auch sind sehr viele Menschen in Warteschleifen für das Bewerbungsverfahren. Bei mir z. B. kommen die Bewerberinnen zwingend zur Hospitation zu den künftigen Arbeitgebern. Das ist gegenwärtig nicht möglich. Darüber hinaus wird in Serbien psychischer Druck auf die Pflegekräfte aufgebaut. Wer jetzt in der Pandemie trotzdem auswandern will, muss sich dem Vorwurf stellen, für das eigene Volk nicht da sein zu wollen. Patriotismus wird gerade jetzt täglich betont und wer sich nicht als Patriot offenbart, gilt als „Vaterlandsverräter“. Damit stagniert auch die gesamte administrative Integrationsarbeit. Die psychosoziale Betreuung dagegen gewinnt gegenwärtig massiv an Bedeutung sowohl in Deutschland als auch in den Ursprungsländern. Damit zeigt uns auch die Pandemiesituation, wie es um unsere Integrationsarbeit bestellt ist. Wir selbst können die Schwächen unserer Definition „Integration“ nun klar erkennen und die sich nun aufgetane Chance einer Weiterentwicklung der „Integration“ beim Schopfe packen. Durch die Pandemie bekamen wir auch zeitliche Ressourcen „geschenkt“, über Integration neu nachzudenken und entsprechend zu handeln. Viel zu sehr denken wir in den Integrationsprozessen technisch. Viel zu fremd ist uns dagegen der psychosoziale Bereich der Integration. Der Lockdown der administrativen Integration führte dazu, dass der technische Part der Integration aktuell zusammengebrochen ist. Der psychosoziale Bereich aber nicht. Doch hier klafft eine große Lücke in unserer Bewusstheit. Vermittlung von Fachkräften ist eben kein „Menschenhandel“. Vermittlung von Fachkräften ist zwingend auch soziale Arbeit. Und hier haben wir reichlich nachzubessern.
Wir danken Frau Gerr vielmals für dieses aufschlussreiche Interview. Dieses Interview stammt von kohlhammer-pflege.de.
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