Die Dynamik von Geschwisterbeziehungen

Interview mit Meike Watzlawik

Geschwister konkurrieren und spielen mitein­ander, gehen einander auf die Nerven und unterstützen sich: Geschwister können sich in ganz unter­schiedlichen Rollen und Funktionen begegnen. Die Beziehungen zu ihnen sind häufig die längsten unseres Lebens – und mitunter durch starke Widersprüch­lichkeiten geprägt.

Umschlagabbildung des Buches

Meike Watzlawik/Holger von der Lippe (Hrsg.)
Geschwisterbeziehungen
Herausforderungen und Ressourcen für die Entwicklung

2024. 202 Seiten mit 6 Abb. und 6 Tab. Kart.
€ 39,–
ISBN 978-3-17-043528-5

Liebe Frau Watzlawik, wie kommt es, dass Beziehungen zu Geschwistern häufig so ambivalent sind?

Geschwister verbringen, wenn sie im gleichen Haushalt wohnen, sehr viel Zeit mitein­ander. Je ähnlicher die Kinder im Alter sind, desto höher die Wahr­scheinlichkeit, dass sie in ähnlichen Kontexten unterwegs und mit vergleich­baren Entwicklungs­aufgaben konfrontiert sind. Dies bietet zum einen die Möglich­keit, miteinander und voneinander zu lernen, zum anderen müssen sich Geschwister aber auch voneinander abgrenzen und ihre eigenen Nischen finden. Wie gut dies gelingt, ist von vielen Faktoren abhängig, wie etwa dem Geschlecht der Kinder, Persönlichkeits­eigenschaften, Hilfebedarf, aber auch der Eltern­beziehung. So suchen Eltern beispiels­weise aktiv nach Unter­schieden zwischen den Kindern und weisen aktiv Rollen zu, wie „die Vernünftige“ und „der Emotionale“, was dann wiederum die Geschwister­beziehung mit prägen kann. Geschwister bewegen sich also in einem Spannungs­feld von verschiedenen Anforderungen.

Kluge Erstgeborene, vernach­lässigte Sandwich-Kinder und rebellische Nest­häkchen: Zur Geschwister­position und ihren Auswirkungen auf die Persönlichkeit existieren viele Stereotype und Mythen. Wie wirkt sich die Position unter den Geschwistern tatsächlich aus? Gibt es bestimmte Wesens­züge, die bei einzelnen Geschwister­positionen häufiger zu beobachten sind?

Wie eben schon angedeutet, kann man Geschwister­beziehungen und deren Einfluss auf die individuelle Entwicklung nur verstehen, wenn man sie eingebettet in das gesamte Familien­system betrachtet. Die Geschwister­position lässt sich dabei schwerlich isolieren. Dennoch gab es in der Forschung spätestens seit Alfred Adlers Hypothese, dass das erste Kind durch das zweite entthront werde und dass sich dies maß­geblich auf die Entwick­lung auswirke, ein großes Interesse für diese Frage. Die Antwort fällt jedoch recht klar und für manche evtl. desillusio­nierend aus. So resümieren Neyer und KollegInnen in unserem Buch die Zusammen­schau relevanter Forschungsergebnisse wie folgt: „Wir können davon ausgehen, dass es zumindest für die Persönlich­keit im Erwachsenen­alter, und damit langfristig gesehen, fast irrelevant erscheint, in welcher Geschwister­position jemand aufwächst“. Spannend verbleibt die Frage, wie sich die Geschwister­position im Kindesalter auf die Geschwister­dynamik auswirkt. So übernehmen ältere Kinder allein durch den Entwicklungs­vorsprung häufiger anleitende und betreuende Funktionen.

Geschwisterbeziehungen können auch stark belastet und Gegen­stand von Psycho­therapien sein. Was sind zentrale Themen, wenn PatientInnen Geschwister­konflikte in einer Therapie ansprechen?

Ein mögliches Thema kann die Ungleich­behandlung durch die Eltern sein, die sich bis ins Erwachsenen­alter fortsetzt und als belastend und selbstwert­schädigend empfunden wird. Was hat mein Geschwister, was ich nicht habe? Bin ich weniger liebens­wert? Teilweise wird dies sogar noch nach dem Tod der Eltern spürbar, wenn das Testament verlesen wird. Auch kann der Kontakt­abbruch zwischen den Geschwistern, wie Wempe aus syste­mischer Sicht im Buch deutlich macht, ein Thema im therapeu­tischen Setting sein. Hier kann es um die Frage gehen, wie dieser zustande gekommen ist, ob ein erneuter Schritt aufeinander zu möglich ist, und – wenn nicht – wie die Trauer um die verlorene Beziehung verarbei­tet werden kann. Dies sind aber nur zwei Beispiele von vielen. Spannend ist für die Therapie nicht nur die direkte Thema­tisierung der Geschwister­beziehung durch die Hilfe­suchenden, sondern auch die Reflektion derselben angeregt durch die TherapeutInnen. So kann es interessant sein, der Frage nachzu­gehen, ob sich in aktuellen Beziehungen Muster aus den früheren Geschwister­beziehungen wiederholen.

In Patchwork-Familien ergeben sich mit Stief- und Halbgeschwistern ganz neue Geschwister­konstellationen. Wie unterscheiden sich diese von denen in „traditionellen“ Familien?

Hinter dem Begriff Patchwork-Familie verbergen sich die unterschied­lichsten Konstellationen. Eine Heraus­forderung, die sich speziell für Stiefgeschwister ergibt, ist die Neuorgani­sation des Familien­gefüges. Wenn sich Erwachsene, die jeweils eigene Kinder mitbringen, dazu entschließen, zusammen zu ziehen, müssen Rollen neu verhandelt und Zuständig­keiten geklärt werden. Auch kann die weitere Beziehungs­pflege, aber auch der Kontakt­abbruch zu bisher zuständigen Bezugs­personen ein relevantes Thema sein. Dies gilt auch für Halb­geschwister. Insgesamt ziehen Entleitner-Phleps und Kolleginnen in unserem Buch das folgende Fazit: Obwohl sich die Beziehungen zwischen Halb- und Stief­geschwistern im Durch­schnitt durch weniger emotionale Nähe, aber auch weniger Konflikte als bei Voll­geschwistern auszeichnen, „können ‚gewonnene‘ Geschwister auch als Ressource gesehen werden, vor allem wenn dies die einzige Möglich­keit ist, Geschwister­schaft im Leben zu erfahren.“

In Ihrem Buch gehen Sie auch auf besondere Geschwister­beziehungen ein, wie Geschwister von chronisch erkrankten Kindern oder von Kindern mit Behinderungen. Wie wirken sich diese Besonder­heiten auf Kinder und deren Entwicklung aus?

Chronische Erkrankungen und Behinde­rungen sind vielseitig, gleiches gilt für die Auswirkungen auf die Geschwister­beziehungen, so dass es auch hier nicht eine, sondern viele Antworten gibt. Um die Geschwister optimal fördern zu können, ist es wichtig, den Entwicklungs­stand, die Entwicklungsmöglichkeiten und Bedarfe beider Kinder zu berücksichtigen. Wie kann dafür gesorgt werden, dass beide optimal gefördert werden? In wie weit können externe Hilfe­angebote hierbei unterstützen? Welche Rolle spielen Scham und Schuld­gefühle? Aber auch: Wie kann mit Vorurteilen und Berührungs­ängsten aufgeräumt werden. Anregungen dafür finden die Lesenden in unserem Buch.


Prof. Dr. Meike Watzlawik, Dipl.-Psych., ist Leiterin des Lehrstuhls für Entwicklung. Bildung und Kultur, des Departments Psychologie sowie des Master­studiengangs Klinische Psychologie an der Sigmund Freud Privat­universität Berlin. Sie hat ihre Habilitation über Geschwister­beziehungen im Jugendalter verfasst.
Prof. Dr. Holger von der Lippe, Dipl.-Psych., ist Professor für Entwicklungs­psychologie mit Schwer­punkt Erwachsenen­alter und Familien­psychologie an der MSB Medical School Berlin im Bachelor- und Master­studiengang Psychologie und Psychotherapie. Sein zentrales Interessensgebiet ist seither die vergleichende Beziehungsforschung im Rahmen von familien­systemischen Netzwerk­ansätzen in der Psychologie.