In den letzten Jahren ist die Zahl psychischer Diagnosen rasant gestiegen: DeutschlandÂweit werden doppelt so viele PsychoÂtherapien wie noch vor 15 Jahren durchÂgeführt. Sind wir alle krank – oder stimmt etwas nicht mit dem System PsychoÂtherapie? Darüber haben wir mit unserem Autor Holger Richer anlässlich seines neuen Buchs „Jenseits der Diagnosen“ gesprochen.
Holger Richter
Jenseits der Diagnosen
Fallstricke der Psychotherapie
2024. 266 Seiten mit 2 Abb. Kart.
€ 39,–
ISBN 978-3-17-044358-7
Herr Dr. Richter, Ihr Buch „Jenseits der Diagnosen“ befasst sich mit den Fallstricken der PsychoÂtherapie. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Buch zu schreiben, das die traditionellen Diagnosen hinterfragt?
Die Idee hat sich in meinem PraxisÂalltag entwickelt. Nach fast 30 Jahren in der PsychoÂtherapie saß ich eines Tages vor dem siebten TherapieÂantrag einer Patientin, die im Laufe ihrer BehandÂlungen immer mehr Diagnosen bekommen hatte, ohne dass sich ihr Zustand wesentÂlich gebessert hätte. Da dachte ich: Was ist hier eigentlich los? Trotz aller FortÂschritte und der vermehrten Anzahl an PsychoÂtherapien scheint sich die ProblemÂlage vieler Patienten nicht wirklich zu verbessern. Diese BeobachÂtungen und viele ähnliche Fälle haben mich dazu gebracht, darüber nachzuÂdenken, ob wir als TheraÂpeuten nicht manchmal zu sehr auf die Diagnosen fixiert sind und dabei das größere Bild aus den Augen verlieren.
Sie schreiben also aus persönlicher Erfahrung heraus?
Absolut. In meinem Buch erzähle ich 16 FallÂgeschichten, die aus meiner theraÂpeutischen Arbeit stammen. Ich wollte zeigen, dass sich Diagnosen oft als SackÂgassen entpuppen können. Die wirkÂlichen Probleme liegen häufig jenseits dieser Label. Diagnosen haben ihren Platz, aber sie sind keine LandÂkarte für das eigentliche Leben eines Menschen. In meinen Geschichten geht es um Fälle, bei denen die Diagnose nicht wirklich weiter hilft. Und dabei geht es nicht nur um die Patienten, sondern auch um uns Therapeuten und unsere oft verdeckten BedürfÂnisse, die das Helfen manchÂmal verkomplizieren.
Ihr Buch besteht aus zwei Teilen: einem theoretischen Teil und einem erzählenden. Was hat Sie dazu bewegt, diese Form zu wählen?
Ich bin ein Geschichtenerzähler. Ich glaube fest daran, dass Geschichten Dinge oft viel plastischer und verständÂlicher machen als eine rein theoretische Abhandlung. Der erste Teil des Buches ist eher analytisch, da bespreche ich den Weg der PsychoÂtherapie und die DiagnosenÂinflation – eine EntwickÂlung, die vielen von uns TheraÂpeuten KopfÂzerbrechen bereitet. Aber der zweite Teil besteht aus Geschichten, die zeigen, wie Diagnosen in der Praxis oft nicht weiterhelfen. Die GeschichÂten illustrieren, wie vertrackt Therapie sein kann, und dass der Kern eines Problems oft nicht in der Diagnose steckt, sondern in einem individuellen Muster, das man im gemeinÂsamen Prozess entschlüsseln muss.
Sie sprechen von „Diagnoseninflation“ – heißt das Ihres Erachtens, dass darunter gar nicht so viele „echte“ Diagnosen sind?
Ja, in etwa würde ich das sagen. Auskünfte über psychische Phänomene sind SelbstÂauskünfte. Es gibt keinerlei LaborÂnachweis für eine Depression. Natürlich kann man manches beobachÂten, aber in der Praxis wird sich eher auf das vom Patienten Berichtete verlassen. Und dabei fällt auf, dass die klassischen psychiatrischen Diagnosen wie SchizoÂphrenie und schwere somaÂtisierte Depression nicht ansteigen, andere Diagnosen aber ungleich stärker – mit denen dann auch geprahlt wird, die nicht mehr verborgen werden und die auf eine perverse Art neue IdentiÂtät ermöglichen, verstärkt durch den AusÂtausch über die Sozialen Netzwerke. Der starke Anstieg an diagnostiÂziertem ADHS, Autismus und Gender Dysphoria ist hier beispielhaft zu nennen.
Es wird auch beklagt, dass die VersorÂgung der psychisch Kranken zu schlecht sei. Könnte es dann nicht sein, dass bestimmte Diagnosen den Zugang für die wirklich schwer Kranken verstopfen?
Ja, jedes Jahr lassen sich 2.000 PsychoÂtherapeuten in Deutschland mehr nieder. Die Ausgaben für PsychoÂtherapie insgesamt sind mittlerÂweile der größte EinzelÂposten in der gesetzlichen KrankenÂversicherung im ambuÂlanten Bereich. Ich habe ca. 8.000 PsychoÂtherapieÂanträge gelesen, auf die ich meine ErkenntÂnisse im Buch aufbaue. Es fällt auf, dass es eine Menge Patienten gibt, die ihre dritte oder vierte Therapie machen, jedes Mal eine Diagnose hinzuÂkommt, sie sich aber nicht bessern, aber der nächste TheraÂpeut dennoch wieder mit dem gleichen TherapieÂplan anfängt.
Das klingt nach einer ziemlichen HerausÂforderung für den theraÂpeutischen Alltag. Was bedeutet das für Therapeuten und Patienten?
Für uns Therapeuten heißt das, dass wir sehr wachÂsam sein müssen, um nicht in diese Falle zu tappen. Wenn wir immer nur auf Diagnosen und Manuale setzen, laufen wir Gefahr, das eigentliche Drama eines Lebens zu übersehen. Diagnosen können ein StartÂpunkt sein, aber die eigentliche Arbeit beginnt oft erst, wenn wir hinter die SympÂtome schauen. Es geht darum, herausÂzufinden, welche Dynamiken und Muster tatsächlich hinter dem Verhalten des Patienten stehen.
Für Patienten kann die Diagnose zur Last werden, wenn sie dazu führt, dass sie sich selbst in einem bestimmten Schema sehen und ihre Rolle darin verfestigen. Ich zeige in meinem Buch, dass es oft die verdeckten BedürfÂnisse und das ZusammenÂspiel von Biografie, sozialen Einflüssen und persönlichen Konflikten sind, die den entscheiÂdenden UnterÂschied machen.
Sie haben selbst viele Jahre als PsychoÂtherapeut und Gutachter gearbeitet. Welche persönÂlichen ErfahÂrungen haben Sie in das Buch einfließen lassen?
Da gibt es natürlich unzählige. Die spannendsten Momente in meiner Arbeit sind die, wenn eine Therapie nicht weitergeht – dann fängt es an, wirklich interessant zu werden. Ich habe gelernt, dass gerade diese Momente, in denen man denkt, man drehe sich im Kreis, oft die sind, in denen der DurchÂbruch kommt. Manchmal muss man als Therapeut den Mut haben, das Manual beiseite zu legen und sich auf die Dynamik einzuÂlassen, die im Raum entsteht.
Ihr Buch kann man mitunter auch als starke Kritik an der PsychoÂtherapie sehen, dabei sind Sie selbst seit fast 30 Jahren als PsychoÂtherapeut und Supervisor, auch als Dozent und Gutachter tätig. Sie sind leitender PsychoÂloge eines psychiaÂtrischen KrankenÂhauses in Dresden.
Ja, das mag so ankommen. Aber ich halte es mit meinem Vorbild Klaus Grawe, der sagte, wer die PsychoÂtherapie liebt, muss sich ihrer oft schämen. Es ist nicht verwerflich, sich in Frage zu stellen und nicht nur Hypothesen zu bestätigen. WissenÂschaft ist FalsifiÂkation, aber ich habe den Eindruck, mittlerÂweile sind PsychoÂlogen für alles da. Es wird in TherapieÂanträgen als TherapieÂziel „ScheidungsÂbegleitung“, „BerufsÂeinstieg“, „TrauerÂverarbeitung“ angegeben, Dinge mit denen Menschen auch ohne Therapie zurecht kommen sollten. Die Rolle der PsychoÂlogen in ihrer Versorgungs- und BestätigungsÂart möchte ich in Frage stellen. Wir tun auch Patienten nichts Gutes, wenn sie für alles eine Begleitung brauchen, sie bleiben unmündig – und wenden sich beim nächsten Stressor wieder an die Therapeutin.
Zum anderen finde ich erhebliche erkenntnisÂtheoretische Probleme in der PsychoÂtherapie, die auch in der wissenÂschaftÂlichen PsychoÂlogie kaum diskutiert werden. So heißt es immer „Wir müssen unseren Patienten glauben“, aber es gibt in Therapie so viele WiderÂsprüche, so viele Vorteile, die durch eine Diagnose entstehen können, man kann sich Drogen auf Rezept durch eine Diagnose verschreiben lassen, man bekommt mehr Urlaub, es gibt auch ohne jurisÂtische Beweise Gelder aus dem Opferfonds … Im somaÂtischen Bereich wissen wir von AbrechnungsÂbetrug durch Ärzte. Warum sollte das nicht bei PsychoÂtherapeuten auch so sein? Nur ist Psychotherapie ein höchst subjektives Geschehen, das der SchweigeÂpflicht unterliegt, niemand kann hineinsehen. Das Einzige sind die GutachterÂberichte, und diese werden von Therapeuten in der Regel verteufelt.
Nun hat ihr Buch zwei Teile, im ersten beschrieben Sie den Zustand der PsychoÂtherapie und fragen sich, wohin die PsychoÂtherapie geht. Was passiert im zweiten Teil?
Der zweite Teil ist unterÂhaltsame PsychoÂtherapie: In 16 Fallgeschichten erzähle ich von ungewöhnÂlichen Fällen, bei denen die Diagnose nicht sagt, was los ist. BehandÂlungen drehen sich im Kreis, es kommen immer mehr Diagnosen und Therapien hinzu. „Die schwarze Königin“, „Die anonymen Briefe“ oder „Der SelbstmordÂattentäter“ erzählen davon, dass es TheraÂpeuten schwerfällt, ihre eigenen Anschauungen in Frage zu stellen. In kurzen NachÂbetrachtungen werden die KnackÂpunkte erfasst und der Therapieplot entwickelt, um dem Dilemma des „Immer Mehr“ an Therapie zu entkommen.
An wen richtet sich das Buch?
Ich möchte Menschen, die mit psychisch Kranken arbeiten, eine andere Sicht auf Diagnosen und den gesellÂschaftÂlichen Einfluss darauf zeigen. Es richtet sich zuerst an AuszuÂbildende in PsychoÂtherapie, aber auch erfahrende Therapeuten, die in einer WeitwinkelÂsicht über Diagnosen und Therapien nachdenken. Aber auch an die Psychologie-interessierte Leserin, den gebildeten Leser, der gesellÂschaftliche ZusammenÂhänge verstehen möchte. Psychologie ist in aller Munde.
Zum Abschluss: Wenn Sie sich selbst eine „Diagnose“ für Ihre Arbeit als Therapeut ausstellen müssten – welche wäre das?
Wahrscheinlich „Chronischer Zweifler“. Ich stelle immer wieder die Frage: Was wissen wir eigentlich wirklich? Jede Therapie ist anders, und in diesem Sinne wäre meine „Diagnose“ wohl eher eine CharakteriÂsierung meines ständigen HinterÂfragens. Aber mal ehrlich, das HinterÂfragen gehört doch zu unserem Beruf dazu, oder? Wie heißt es so schön: Wer nichts mehr hinterÂfragt, hat aufgehört, wirklich zu verstehen!
Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch, Herr Dr. Richter
Dr. Holger Richter ist leitender Psychologe des St.-Marien-Krankenhauses Dresden. Er arbeitet seit nahezu dreißig Jahren als Psychotherapeut mit den Schwerpunkten Gruppenpsychotherapie und Persönlichkeitsstörungen.
Als Dozent und Supervisor in der Ausbildung zum Psychotherapeuten ist er u.a. an der Psychologischen Hochschule Berlin, der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie und der IAP-Dresden tätig. Er wurde von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als Therapiegutachter bestellt.
Der Autor war Mitglied der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Psychologie zur Aufarbeitung der Psychologie der DDR.