Gewalt am Arbeitsplatz – ein Interview mit Frau Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl
Es sind alarmierende Zahlen, die der DGB Baden-Württemberg in seiner Pressemitteilung vom 24.06.2025 nennt.
Zwei Drittel der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst haben demnach in den vergangenen Jahren Gewalt in Form von verbalen Beleidigungen, psychischem Druck oder körperlichen Übergriffen erlebt. Die Dunkelziffer ist sehr groß, geschätzt 70 Prozent der Betroffenen melden die Vorfälle nicht.
Gewalt am Arbeitsplatz betrifft nicht nur die öffentliche Verwaltung oder den ÖPNV, sondern auch Krankenhäuser.

Dienstbühl/Litty/Richter
Sicherheit in Krankenhäusern, Verwaltungen und öffentlichen Institutionen
Aktiver Gewaltschutz und Implikationen für ein sicheres Arbeitsumfeld
2025. 84 Seiten.
€ 24,50
Frau Prof. Dr. Dienstbühl, Sie sind Professorin für Kriminalistik an der Hochschule der Polizei in Brandenburg und forschen unter den unterschiedlichsten Aspekten zum Thema Gewalt.
Welche Formen von Gewalt am Arbeitsplatz gibt es eigentlich?
Wir können bei der Unterscheidung von Gewalt zunächst in die Art einteilen, also in physisch, psychisch, sozial und ökonomisch. Physische Gewalt meint Schlagen, Treten, Schubsen, Anspucken und das Hantieren mit allen Arten von Waffen und waffenähnlichen Gegenständen. Psychische Gewalt ist sehr vielfältig und geht über unterschiedlichste Formen von Drohungen, Beleidigungen, Nachstellung. Sowas kann auch innerhalb des Arbeitsplatzes stattfinden, ebenso wie soziale Gewalt, wie beispielsweise Mobbing durch sozialen Ausschluss und Isolation. Unter wirtschaftlicher Gewalt können wir faktisch im Kontext Arbeit strukturelle Ungleichheit in der Bezahlung von Männern und Frauen zählen. Dies ist im öffentlichen Dienst durch Tarife aber meist weniger ein Thema.
Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen von gewalttätigen Übergriffen am Arbeitsplatz?
Es gibt situative Faktoren, die Aggressionen und damit Gewalt fördern können. Regelmäßig handelt es sich hierbei um Stressoren und alles, was das Wohlbefinden stört, wie z.B. Hitze, Zeitdruck, Menschenmassen, eine geringe Aussicht auf Erfolg, üble Gerüche, Lärm, Verständnisbarrieren, technische Probleme etc. Sowas kennen wir alle.
Dann gibt es noch erlernte Verhaltensweisen und Reaktionsmuster, in denen Gewalt eine Rolle spielt. Wenn Menschen lernen, dass sie mit Gewalt schneller das bekommen, was sie wollen und das Risiko, dafür belangt zu werden gering ausfällt, dann trägt das zu einer allgemeinen Steigerung der Aggressivität bei. Wenn ich beispielsweise merke, dass ich mich aufgrund meines aggressiven Verhaltens an anderen Wartenden vorbei vordrängeln darf oder schneller meinen Bescheid erhalte, dann lerne ich, dass Gewalt zum Erfolg führt.
Und es gibt Menschen, die aufgrund von Substanzen, ihrer psychischen Erkrankung und multiplen Faktoren plötzlich aggressiv und gewalttätig auftreten.

Was macht das mit den Mitarbeitenden?
Es löst Angst und Stress aus. Wie stark hängt nicht nur vom Ereignis, sondern natürlich auch von der Person, die es erleben musste, ihrem Grad der Betroffenheit und auch dem Umgang damit am Arbeitsplatz ab. Deswegen ist es wichtig, seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit solchen Situationen nicht alleine zu lassen.
Wie kann man sich als Mitarbeitender auf solche Situationen vorbereiten und sich schützen?
Zunächst einmal ist der Arbeitgeber in der Verantwortung, seine Mitarbeitenden zu schützen. Natürlich kann und sollte man selbst überlegen, was dazu beiträgt, dass man sich selbst besser geschützt fühlt, z.B. durch solche Fragen: Was fällt mir in der Einrichtung auf, wie stehen die Büromöbel? Kann und sollte hier etwas verändert werden? Ist das kurzfristig möglich? Auch die eigene Wahrnehmung, der persönliche „Gefahrenradar“ kann trainiert werden. Je sicherer ich mich in meiner Einschätzung fühle, desto besser kann ich mit eskalativen Situationen umgehen. Und natürlich hat jeder in der Hand, wie er den Menschen begegnet und ob sein Auftreten freundlich, professionell und die Antworten im Grunde transparent sind. Allerdings - und das ist mir ganz wichtig zu sagen: Auch wenn das nicht immer optimal ist, hat kein Mensch das Recht, einem anderen Menschen Gewalt anzutun. Niemals.
Frau Prof. Dr. Dienstbühl, Sie publizieren auch zu diesem Thema. Vor kurzem ist im Deutschen Gemeindeverlag ein Leitfaden für Krankenhäuser, Verwaltung und öffentliche Institutionen erschienen, zusammen mit Iris Litty, Kanzlerin der Evangelischen Hochschule Rheinland Westfalen-Lippe (EvH) in Bochum und Frank Richter, Polizeipräsident a.D.
Welche Verantwortung trägt der Arbeitgeber und was ist für Sie das Allererste, was Arbeitgeber veranlassen sollten, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden?
Wir sprechen in unserem Leitfaden ganz bewusst öffentliche Institutionen und Krankenhäuser an, also solche Arbeitgeber, die nicht nur den entsprechenden Publikumsverkehr haben, sondern die auch aus der öffentlichen Hand (mit)finanziert werden. Gerade hier erwarte ich, dass Menschen, die für Menschen arbeiten, entsprechend geschützt werden. Das fängt damit an, dass man diesem Thema oberste Priorität einräumt und nicht den politisch relevanten Quartalszahlen. Wenn eine vorgesetzte Person unsicher ist, wie sie mit dem Thema umgehen kann und was es in ihrem Haus, ihrer Abteilung oder ihrem Team braucht, empfehle ich auch, sich den Blick von außen einzuholen, denn wir alle leiden in einem gewissen Maße an Betriebsblindheit im eigenen Bereich. Hier kann es unheimlich hilfreich sein, jemanden mit einem geschulten Auge auf die Gegebenheiten vor Ort schauen zu lassen. Achten Sie nur einfach darauf, dass der Anbieter für Sie passt und auf die Bedarfe der Mitarbeitenden eingeht. Aus großen Beraterunternehmen ein teures Komplettpaket zu buchen, was dann u.a. für ein oder zwei Tage Mitarbeitende in eine Liegenschaft im Landkreis entsendet, geht oft schief, weil die Sprache einfach eine andere ist. Hier empfehle ich den Austausch mit Kollegen und Kolleginnen im gleichen Betätigungsfeld. So sind beispielsweise die Leitungen von Hochschulen miteinander vernetzt und können sich austauschen, mit wem sie gute Erfahrungen gemacht haben. Bei Jobcentern funktioniert sowas ebenso. Einige Krankenhäuser haben Kooperationen mit der örtlichen Polizei, die ihnen weiterhelfen konnten, usw. Und bilden Sie sich selbst fort, damit Sie Situationen und Bedarfe besser einschätzen können.
Was empfehlen Sie Arbeitgebern, wenn ein Fall von Gewalt am Arbeitsplatz bereits vorgefallen ist?
Sich zunächst persönlich ein Bild von der Lage und von den betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu machen. Wenn Menschen Gewalt erfahren, erfahren sie regelmäßig Ohnmacht: Weder wollten sie die Situation und häufig konnten sie sich nicht dagegen wehren. Es ist also wichtig, persönlich einzuschätzen, wie es den Betroffenen geht – und das nicht nur unmittelbar danach, sondern unbedingt noch Wochen später. Es tut den Betroffenen gut, wenn sie spüren, dass sich die vorgesetzte Person um sie kümmert, dass es nicht nur um ihre Arbeitsleistung, sondern um sie als Menschen geht. Was man immer fragen kann, ist: „Was brauchen Sie?“ Regelmäßig benötigt man Zeit und muss wirklich darüber nachdenken, um für sich Antworten zu finden. Auch diese sollte man den Betroffenen geben, sowie die Möglichkeit, sich zu melden, wenn sie ein Anliegen haben. Also kurz gesprochen: Weder zu sehr in Watte packen noch ignorieren. Lassen Sie die Personen wieder in ihre Kraft kommen und begleiten Sie sie dabei ein Stück. Hier kann man unheimlich gute Erfahrungen machen, die einem selbst mehr geben, als man je gedacht hätte.
Führungskräfte sind ja in diesem Zusammenhang besonders gefordert – welche Fähigkeiten und Kompetenzen sind wichtig?
Echtes Interesse an den Menschen, die für die Institution ihre Arbeit leisten, die Fähigkeit, zuzuhören, Verantwortungsbewusstsein sowie den Willen, den Arbeitsplatz sicherer zu gestalten und selbst immer dazuzulernen.
Frau Prof. Dr. Dienstbühl, was liegt Ihnen persönlich bei dem Thema „Gewalt am Arbeitsplatz“ besonders am Herzen?
So einiges: Erstens dürfen Probleme dieser Art nicht mehr totgeschwiegen werden. Die Gewalt ist real und sie wird im Alltag zu häufig als selbstverständlich betrachtet, wenn nicht gerade ein Mensch getötet oder lebensgefährlich verletzt wurde. Ich kenne das selbst aus der Zeit, als ich in Jobcentern gearbeitet habe. Was sich gerade die Kollegen am Empfang zum Teil anhören und gefallen lassen müssen, ist eine Frechheit. Solange keine Presse da ist, wird immer noch sehr viel unter den Teppich gekehrt. Und hier appelliere ich an die Führungskräfte: Ihre Mitarbeitenden, Ihre Verantwortung – dafür sind Sie in der Position, in der Sie sind.
Ich wünsche mir daher Arbeitgeber, die eines ganz klar und deutlich machen: „Wer jemanden von uns angreift, der greift uns alle an!“ und genauso damit umgeht.
Ich sehe zudem hier den Staat und die Justiz in der generellen Pflicht, Menschen, die meinen, mit Gewalt gegen andere Menschen schneller an ihr Ziel zu kommen, die Grenzen aufzuzeigen. Dazu bedarf es aus meiner Sicht keiner Gesetzesverschärfungen, sondern den Willen und hier und da mehr Aufmerksamkeit für die Betroffenenperspektive.
Was ich mir ganz besonders wünsche, ist, dass wir alle, jeder Einzelne, mehr Solidarität mit Opfern von Gewalt zeigen. Jeder von uns kann etwas dazu beitragen, dass Menschen, die Gewalt erleben mussten, gestärkt aus jeder noch so schlimmen Erfahrung herausgehen. Gerade am Arbeitsplatz bieten sich Chancen dafür, aber auch überall sonst. Und es fängt damit an, dass wir nicht mehr den Opfern die Schuld oder Mitschuld dafür geben, dass sie zu Opfern geworden sind.
Frau Prof. Dr. Dienstbühl, wir danken für das angenehme Gespräch.