Blackbox Psychotherapie

Ein Interview mit unserem Autor Dr. Christian Rupp

Rund um die Psycho­therapie existieren zahlreiche Irrtümer, die zu falschen Vorstellungen auf Patienten­seite und Fehl­vermitt­lungen durch z. B. Haus­ärztinnen führen. Dr. Christian Rupp, Autor des Sach­buchs „Blackbox Psycho­therapie“, berichtet im Interview, welchen Fehl­annahmen er in seinem therapeu­tischen Alltag begegnet, warum psychisch erkrankte Menschen häufig so lange auf einen Therapie­platz warten müssen und was sich ändern müsste, um die psycho­therapeutische Versorgungs­lage insgesamt zu verbessern.

Umschlagabbildung des Buches

Christian Rupp
Blackbox Psychotherapie
Von Irrtümern, Missständen und Lösungsansätzen

2024. 213 Seiten. Kart.
€ 29,–
ISBN 978-3-17-043244-4

Leseprobe Buch kaufen

Lieber Herr Dr. Rupp, Sie leben und arbeiten als Psycho­therapeut in einer ländlichen Gegend in Schleswig-Holstein. Psychotherapie ist für viele Menschen nach wie vor eine Art „Blackbox“. Welches Vor­urteil begegnet Ihnen in Ihrem Alltag am häufigsten?

Portrait von Prof. Dr. Christian Dechêne
Dr. rer. nat. Christian Rupp

Nun, tatsächlich begegnet mir natür­lich noch ab und zu (aber bei Weitem nicht so häufig, wie man vielleicht erwarten würde) der Irrtum, nur „Bekloppte“ bzw. „Verrückte“ würden zum Psycho­therapeuten gehen, was in viel­fältiger Weise nicht stimmt, jedoch einen kleinen wahren Kern hat – nämlich den, dass Psycho­therapie in Deutsch­land den Menschen (und nur denen) vorbe­halten ist, die eine behandlungs­bedürftige Problematik in Form einer Diagnose aufweisen. Das wiederum hat nichts mit „bekloppt“ oder „verrückt“ zu tun, zumal man die wenigsten Probleme, deret­wegen Menschen einen Psycho­therapeuten aufsuchen, den Betroffenen von außen ansehen kann. Die meisten Probleme – z. B. die meisten Angst­störungen aber auch im Allgemeinen Depressionen – kann man den Menschen nicht ansehen. „Blick­diagnosen“, wie sie früher in der Psychiatrie üblich waren, sind zurecht nicht mehr leitlinien­gerecht – man muss die Betroffenen daher sehr viel fragen. Die andere, mindestens genauso irre­führende Fehl­annahme über Psycho­therapie ist allerdings in geradezu para­doxer Weise diejenige, dass Psycho­therapie etwas für alle ist, die „irgendetwas Psychisches“ haben. Auch das stimmt in zweierlei Weise nicht: Erstens ist nicht jede psychische Belastung, aus der heraus vielleicht einem Patienten vor der Hausärztin die Tränen kommen, gleich ein Anlass, ihn zur Psycho­therapie zu überweisen (auch wenn es sicher­lich gut gemeint ist), und zum anderen ist Psycho­therapie bei Weitem auch nicht für all jene, die tat­sächlich eine behandlungs­bedürftige Störung haben, das richtige Behandlungs­angebot. Das wiederum liegt daran, dass eine Psycho­therapie, um wirken zu können, gewisse Voraus­setzungen braucht, u. a. eine Problem­einsicht, die Fähig­keit über Gefühle und Gedanken Auskunft geben zu können, und – sehr wichtig – eine tatsäch­liche Änderungs­motivation. Und nicht zuletzt begegnet mir sehr häufig die mit letzterem Punkt verknüpfte Fehl­annahme, Psycho­therapie sei dazu da, sich „einfach mal was von der Seele zu reden“. Auch das ist, wie ich in meinem Buch ausführ­lich darlege, eine unvoll­ständige und auch am Kern der Sache vorbei­gehende Sichtweise. Alle hier beschriebenen Irrtümer haben derweil eine Gemeinsam­keit: Sie führen zu Fehlern bei der Zuweisung von Patientinnen zur Psycho­therapie und tragen zu den Miss­ständen in der psycho­therapeutischen Versorgung bei, und zwar dadurch, dass letzt­lich zu häufig nicht diejenigen Patienten behandelt werden, bei denen die besten Voraus­setzungen dafür gegeben sind, dass die Psycho­therapie auch etwas bewirken kann – ein Zustand, den wir uns in diesen Zeiten der Unter­versorgung einfach nicht leisten können.

Fehlannahmen wie die eben genannte – Psycho­therapie sei nur etwas für „Bekloppte“ – halten sich bei manchen Menschen hartnäckig. Woran liegt es, dass psychische Erkrankungen oftmals noch eine „Sonder­stellung“ einnehmen und anders wahr­genommen werden als somatische Erkrankungen?

Ich würde tatsächlich in weiten Teilen der Aussage wider­sprechen, dass diese Fehl­annahmen sich hartnäckig halten. Auch hier im ländlichen Schleswig-Holstein kann ich in positiver Hinsicht von einer sehr hohen Inanspruch­nahme von Psychotherapie und einer ziemlich weit verbreiteten Aufgeschlossenheit der Menschen dahingehend berichten. Das gilt z. B. auch für eine Offenheit seitens Arbeit­gebern: Ich kenne viele positive Beispiele, in denen Arbeitgeber ihre Angestellten ohne „Murren“ für die Therapie­termine freistellen und es ihnen so über­haupt ermöglichen, die Therapie zu machen. Nun ist es aber natür­lich auch klug, wenn ein Arbeit­geber erkennt, dass ein Arbeitnehmer durch die Psycho­therapie seine Gesundheits­situation verbessert und somit einer Arbeits­unfähig­keit vorbeugt. Auch unter den zuweisen­den Ärztinnen erlebe ich mit wenigen Ausnahmen (natürlich gibt es immer noch „alte Hasen“, die alles Psychische für „Quatsch“ halten, aber die sind eine kleine Minderheit) eine hohe Bewusst­heit für psychische Probleme und ihre Behandlung. Wie ich schon bei der letzten Frage sagte, haben wir es dahingehend heutzutage sogar manchmal mit einem „Zuviel des Guten“ zu tun, d. h. mit vorschnellen oder unsinnigen Über­weisungen, die dazu beitragen, dass bei uns Psycho­therapeuten nicht selten „die Falschen“ landen. Das „Zuviel des Guten“ schlägt sich seitens ärztlicher Kolleginnen in meiner Wahr­nehmung außer­dem immer häufiger darin nieder, dass eine psycho­somatische Erklärung für ein Problem, sagen wir Schlaf­störungen oder Schwindel, nicht nur mitbedacht wird (was wünschenswert ist), sondern oft viel zu früh (und bevor über­haupt eine vernünftige somatische Diagnostik stattgefunden hat) als Ursache fest­geschrieben wird. Viel zu oft erleben Patienten mit einer akten­kundigen psychischen Störung egal welcher Couleur, die mit körperlichen Symptomen zum Hausarzt gehen, dass diese der akten­kundigen psychischen Störung zugerechnet werden und mit dieser Begründung gar keine weitere Diagnostik mehr stattfindet – was fatal enden kann. Das ist, wenn Sie mich danach fragen, heutzu­tage aus meiner Sicht sogar die häufigste Form, in denen Menschen mit einer psychischen Störung eine Stigmatisierung und somit unmittel­bare Nachteile erfahren. Die Stigma­tisierung durch die Gesell­schaft per se erlebe zumindest ich aktuell erfreulicher­weise als rückläufig.

Welche Rolle spielt die Emotion Scham rund um eine Psychotherapie?

Scham spielt bei der (Nicht-)Inanspruchnahme von Psycho­therapie natürlich eine große Rolle, wobei ich auch diese als rückläufig bezeichnen würde, was man an dem Umstand erkennt, dass die Menschen ja de facto in Scharen kommen – bzw. nach Terminen fragen. Sonst hätten wir ja kein Unter­versorgungsproblem. Bedenken Sie hierbei aber, dass ich natürlich eine verzerrte Sichtweise hierauf habe: So wie niemand Aussagen über das nicht beobacht­bare Universum treffen kann, kann ich nicht für die Menschen sprechen, die mich, z. B. aus Scham, gar nicht aufsuchen. Von denen, die dies tun, berichten vor allem die älteren Menschen (60 Jahre aufwärts), dass sie lange mit sich gerungen haben, ob sie diesen Schritt gehen sollen. Ob es mehr Scham oder eher Angst vor dem Unbekannten ist, kann ich nicht sicher sagen – in jedem Fall kommt hierdurch insbeson­dere in dieser Alters­gruppe eine Hemmung zustande. Umso stolzer bin ich, dass ich auch ein paar Patientinnen jenseits der 80 habe – die älteste wird in diesen Tagen 86 Jahre alt.

Sie betonen in Ihrem Buch auch die Bedeutung des Humors in der Interaktion mit Patienten. Warum ist er aus Ihrer Sicht so wichtig in einer Psychotherapie?

Oh ja, und ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig. Das ist aber auch eine Typfrage – sowohl hinsicht­lich der Persönlich­keit des Psycho­therapeuten als auch der Patientin. Damit will ich sagen: Wem eine humorvolle Herangehens­weise nicht liegt, der soll es bitte nicht nur deshalb probieren, weil jemand wie ich das sagt. Psycho­therapie ist aus meiner Sicht ja eben kein Set universeller Werkzeuge, die von jeder Psycho­therapeutin gleich gut angewendet werden können und bei jedem Patienten gleichermaßen wirken. Mit anderen Worten: Mit Humor kann man Menschen abholen, wenn man selbst als Psycho­therapeut welchen hat und wenn das Gegenüber sich davon abholen lassen möchte. Daher möchte ich nur für mich sprechen, als der solche aber sagen, dass ich einen humorvollen Zugang zu den ja nun ohnehin schon aus­reichend belasten­den Problemen, mit denen Menschen zu mir kommen, als unglaub­lich entlastend und erleichternd erlebe. Meine Haltung dazu ist die, dass ich doch Dinge, die sowieso schon schwer zu ertragen sind, durch eine betont ernste Herangehens­weise nicht noch schwerer machen muss, als sie bereits sind. Humor hingegen nimmt einen Teil der Schwere weg, und in dem Moment, in dem man auch mal über sein Problem lachen kann, hat man sofort auch eine Distanz zum Problem geschaffen – und dadurch wird es bearbeitbar.

Neben interessierten Laien richtet sich Ihr Buch auch an angehende Psycho­therapeutInnen. Was können diese aus dem Buch für ihre berufliche Praxis mitnehmen?

Nun, ich hätte die Hoffnung und den Wunsch, dass angehende Psycho­therapeutinnen und -therapeuten aus meinem Buch vor allem zweierlei mitnehmen können: Erstens vielleicht etwas Entlastung von dem typischer­weise in der Ausbildung zum Psycho­therapeuten mehr oder weniger direkt vermittelten Druck aufgrund der unzu­treffenden Annahme, es gäbe „den einen Weg“ wie „man“ Störung X und Y „richtig“ behandelt – und der entgegen der wissen­schaftlichen Befund­lage gerichteten Fokussierung auf das Erlernen von speziellen Inter­ventionen, was fürchterlich unfrei macht und keinen Raum für Kreativität sowie die Nutzung von gesundem Menschen­verstand und Intuition lässt. Ich möchte den psycho­thera­peutischen Nach­wuchs einfach gerne ermuntern, das ihnen vermittelte Wissen nicht als in Stein gemeißelt zu betrachten und so früh wie möglich über den Tellerrand der realitätsfernen Welt zu blicken, die ihnen in einem typischen Ausbildungs­institut begegnet.

Viel diskutiert werden in den letzten Jahren auch die langen Warte­zeiten und die schlechte Versorgungs­lage. Teilweise warten psychisch erkrankte Menschen ein halbes Jahr oder länger auf einen Therapie­platz. Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Gründe für diese Misere?

Nun, hier verweise ich vor allem auf das fünfte Kapitel in meinem Buch, das nicht ohne Grund das längste Kapitel geworden ist und sich sehr tief­gehend mit dieser Frage beschäftigt. Daher hier nur so viel: Die Gründe sind komplex und umfassen aus meiner Sicht zum einen eine falsche Kosten-Nutzen-Analyse seitens gesundheits­politischer Instanzen, die außer Acht lässt, dass die Zulassung von deutlich mehr Psycho­therapeutinnen weitaus weniger Kosten verursacht als die Nicht-Behandlung von Millionen psychisch erkrankten Menschen. Zum anderen gibt es (in geringerem Maße) Gründe, die eher auf Seiten der Psycho­therapeuten liegen. Hier geht es z. B. um eine Minder­heit an Kolleginnen und Kollegen, die ihren Versorgungs­auftrag nicht erfüllen, aber noch viel mehr um das bereits angerissene Problem, dass Psycho­therapie zu oft Menschen angeboten wird, bei denen gar nicht die Voraus­setzungen dafür gegeben sind, dass diese wirken kann, obwohl die Psychotherapie-Richtlinie hierfür sehr klare Regeln definiert. Von tatsäch­lichen Fällen einmal abgesehen, in denen Psychotherapie real für falsche Zwecke miss­braucht wird, z. B. um einen Antrag auf Erwerbs­minderungs­rente „durchzu­bekommen“. Für diesen Umstand sind aber nicht die Psycho­therapeutinnen alleine verantwortlich, sondern auch zuweisende Ärzte und Elemente des Gesundheits­systems, allen voran die Termin­servicestellen.

Kurzfristige Lösungen gibt es vermutlich nicht. Was müsste sich ändern, um die Situation mittel- und langfristig zu verbessern?

Ich denke, hierzu müssten mehrere Dinge passieren. Natürlich braucht es deutlich mehr Zulassungen, damit mehr Psycho­therapeuten sich nieder­lassen können – basierend auf einer Zur Kenntnis­nahme der vorlie­genden wissenschaftlichen Daten, die belegen, dass diese Investition sich durch eine Senkung der Gesundheits­kosten mehr als auszahlt. Das wäre aus meiner Sicht übrigens auch deshalb gut, weil dadurch mehr Konkurrenz herrschen und die Qualität auf dem psycho­therapeu­tischen Markt dadurch vermut­lich verbessert würde. Aber man darf es nicht auf diese Maßnahme verkürzen: Genau so muss jegliche Form von Miss­brauch von Psycho­therapie bekämpft werden, und es braucht eine stärkere Bewusst­heit unter Psycho­therapeuten und zuweisenden Ärztinnen darüber, Psycho­therapie wirklich gezielt denjenigen zukommen zu lassen, bei denen es klare Zeichen dafür gibt, dass diese auch etwas bewirken kann, d. h. eine bessere Zuordnung von Menschen zu dieser Form von Behandlung. Alles andere ist sowohl unfair gegen­über den vielleicht besser für Psycho­therapie geeigneten Menschen, die viel zu lange auf einen Behandlungs­platz warten, als auch gegenüber allen Menschen, die in die gesetzlichen Kranken­kassen einzahlen. Denn diese zahlen sonst für wirkungs- und aussichts­lose Behandlungen, was mit dem Sozial­gesetzbuch V nicht vereinbar ist.


Dr. rer. nat. Christian Rupp ist Psychologischer Psycho­therapeut mit Fachkunde Verhaltens­therapie. Als solcher ist er nieder­gelassen in eigener Praxis in Schleswig-Holstein. Auf seinem Blog „psycholography“ verfasst er seit 2013 Artikel zu psycho­logischen und psycho­therapeutischen Themen für interessierte Laien.

Bleiben Sie auf dem Laufenden –
Abonnieren Sie den Kohlhammer Newsletter