Herr Mertens, die Psychoanalyse ist die älteste und am gründlichsten erforschte Psychotherapieform. Und obwohl das psychoanalytische Denken für das menschliche Erleben und Handeln zentral ist, werden dieser Methode so viele Widerstände entgegengebracht. Können Sie kurz erläutern, warum das so ist?
Sie sprechen jetzt die Psychoanalyse als ein Therapieverfahren an. Ich möchte nur noch einmal kurz an die Unterscheidung der Psychoanalyse als eine Theorie unbewusster Vorgänge und als Therapieverfahren erinnern. Als Theorie hat die Psychoanalyse alle Bereiche unseres kulturellen Lebens durchdrungen, angefangen von der Kritik an schädlichen Formen der Erziehung, über die Auseinandersetzung mit unterdrückenden, autoritären Strukturen und Staatsformen, die Reflexion darüber, was ein lebenswertes Leben ermöglicht oder verhindert bis hin zu zahlreichen Literatur- und Filminterpretationen, in denen sich menschliche Schicksale in einer bestimmten Kultur und historischen Epoche widerspiegeln. Hierbei ist der Einfluss der Psychoanalyse unbestritten.
Die Widerstände richten sich mehr gegen das Anliegen der Psychoanalyse, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. So sträubt sich beispielsweise jemand dagegen, seine eigenen Konflikte in einer Partnerschaft anzuerkennen und sucht die Ursachen dafür stattdessen bei seiner Freundin oder seiner Ehefrau. Oder wenn jemand Arbeitsstörungen und körperliche Symptome wie Kopf- oder Rückenschmerzen aufweist und damit zum Arzt geht, um sich ein schmerzstillendes Medikament verschreiben zu lassen. Dann fällt es ihm schwer, sich beispielsweise mit seinen zu hoch gesteckten Zielen, mit seiner Arbeitsunlust und mit weiteren psychischen Problemen, die in den Kopf- und Rückenschmerzen zum Ausdruck kommen, zu befassen. Und unser medizinisches System kommt ihm hierbei permanent entgegen. Denn in der immer noch vorhandenen Spaltung zwischen Soma und Psyche ist es auf den ersten Blick viel einfacher, den körperlichen Anteil der Probleme mit Chemie einzulullen und das Psychische lediglich als Anhängsel des Körpers zu betrachten.
Sobald man also psychoanalytisches Denken auf sich selbst anwenden soll, werden die Widerstände dagegen erheblich. Denn es gibt in jedem von uns eine „Angst vor der Wahrheit“, wie der britische Psychoanalytiker Wilfred Bion es bezeichnet hat. Wir alle wollen uns von den emotionalen Komplikationen unseres Lebens schnell und möglichst schmerzlos befreien; diese nur allzu verständliche Regung verstellt aber den Zugang zu unserer persönlichen Wahrheit. Nicht wenige Menschen nehmen deshalb lieber heftige körperliche Schmerzen in Kauf, als die seelischen Abläufe anzuschauen, welche die Konfrontation mit den problematischen Aspekten der eigenen Persönlichkeit mit sich bringen würde.
Wenn wir nun noch von der individualpsychologischen Ebene zur sozialpsychologischen Betrachtungsweise wechseln, taucht die Frage auf, warum es im 20. Jahrhundert trotz der Aufklärung so schwer gefallen ist, die erreichte Mutation des Bewusstseins verstetigen zu können? Warum derartige Einbrüche des Irrationalen in Form von unvorstellbaren Grausamkeiten stattgefunden haben, ohne dass eine reflexive Vernunft dem Einhalt gebieten konnte? Psychoanalytiker haben auch darauf eine Antwort zu geben versucht.
Ist die Psychoanalyse aus diesem Grund noch so aktuell? Warum bleibt die Psychoanalyse auch im 21. Jahrhundert unverzichtbar?
Da die Psychoanalyse als Therapieverfahren eine Suche nach Wahrheit darstellt, wird sie ebenso wie das philosophische Fragen nie ihre Bedeutung für unser Leben verlieren. Denn uns Menschen ist es eigentümlich, dass wir nach der Bedeutung unserer Handlungen fragen und uns dabei nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden geben können. Erst wenn wir Bedeutungen gefunden haben, die tiefer, d.h. umfassender sind, weil sie unser eigenes Gewordensein, unsere kulturelle Geprägtheit und unsere historische Situierung berücksichtigen, können wir uns zufrieden geben. Dies ist aber eine Aufgabe, die uns letztlich nie zur Ruhe kommen lassen wird. Dies ist auch gut so, denn die Suche nach der Bedeutung unserer Handlungen macht unsere Lebendigkeit aus, weil sie uns mit unserer inneren Lebensorganisation in Verbindung bringt. Ansonsten bestünden wir nur aus einer Aneinanderreihung von relativ sinnlosen und unzusammenhängenden Verhaltensweisen. Oder würden uns von einem modischen Trend zum nächsten treiben lassen, was in unserer konsumorientierten Gesellschaft ohnehin eine ständige Versuchung darstellt. Psychoanalysieren erinnert uns daran, dass unsere Psyche nach emotionaler Wahrheit verlangt, so wie unser Organismus Nahrungsmittel benötigt. Verweigern wir diese Suche nach emotionaler Wahrheit, werden oder bleiben wir psychisch krank.
Immer wieder steht im Raum die Psychoanalyse sei nicht ausreichend erforscht. Herr Mertens, was können Sie aus Ihrer Sicht dazu sagen?
Dies ist natürlich blanker Unsinn, der von Menschen behauptet wird, die entweder die Psychoanalyse nur vom Hörensagen kennen oder die ihr aus Konkurrenzgründen schaden wollen. Tatsächlich gehört die Untersuchung psychoanalytischer Hypothesen im 20. Jahrhundert zu den am häufigsten beforschten Fragestellungen der Humanwissenschaft. Und die Untersuchung der Psychoanalyse als Therapieverfahren begann in Deutschland bereits im Jahr 1930, als Otto Fenichel in Berlin 700 analytische Behandlungen untersuchte. Im Jahr 1967 konnte Annemarie Dührssen in einer groß angelegten Studie den Nachweis erbringen, dass analytische Therapien wirkten, dass zum Beispiel Patienten die sich einer Psychoanalyse unterzogen hatten, deutlich weniger Krankheitstage aufwiesen als vor der Therapie. Dieses Ergebnis führte in Deutschland zur Einführung der psychoanalytisch fundierten Therapien als Kassenleistung, was eine enorme humane Errungenschaft darstellt.
Und zwei Göttinger Wissenschaftler Falk Leichsenring und Sven Rabung haben jüngst eine Metaanalyse analytischer Langzeittherapien durchgeführt, die unwiderlegbar für den Erfolg dieser Therapieverfahren spricht. Was indes noch wichtiger ist: Es gibt Hinweise zum Beispiel aufgrund der Münchner Therapie-Studie von Dorothea Huber und Günther Klug, dass die psychoanalytischen Therapieverfahren nachhaltigere Effekte zeitigen als kognitiv behaviorale Therapien. Die zeitliche Dauer von Langzeittherapien ist hierbei kein überflüssiger Luxus, sondern aufgrund der Beschaffenheit unseres Gehirns, das aus Billionen von Verknüpfungen besteht, absolut notwendig, wie auch Hirnforscher, beispielsweise Gerhard Roth, bestätigen.
In Ihrem Buch „Psychoanalyse im 21. Jahrhundert“ befassen Sie sich im Kapitel 6.6 sehr satirisch mit der Therapieforschung. Können Sie uns kurz erläutern, warum Sie da die Psychotherapieforschung so kritisch sehen?
Dieses Kapitel richtet sich natürlich nicht generell gegen Psychotherapieforschung, sondern gegen eine bestimmte Auffassung von manchen Gesundheitsfunktionären, aber auch Laien, Menschen mit seelischen Erkrankungen könnten mit  schnellen und kurzen Therapien wieder auf Vordermann gebracht werden, um die Solidargemeinschaft nicht allzu sehr zu belasten.
Diese Vorstellungen von Therapie ähneln aber eher den guten Vorsätzen, die man sich in der Silvesternacht vorgenommen hat und die spätestens nach ein bis zwei Wochen wieder vergessen werden, weil sie in der Routine der Gewohnheiten untergegangen sind. Seelische Veränderungsprozesse brauchen Zeit, benötigen ein dialogisches Gegenüber, erfordern einen  nicht unerheblichen seelischen Aufwand. Mitunter bringen sie sogar einen sehr schmerzlichen Prozess mit sich, der keineswegs nach normierten Zeitvorstellungen zu bewältigen ist, an dessen Ende dann aber auf jeden Fall ein befreiteres und wahrhaftigeres Leben steht.
Immer häufiger wird aber der Ruf laut, dass Therapien kurz sein müssen, dass es überhaupt keinen Sinn mache, sich mit unbewussten Prozessen aufwändig auseinander zu setzen und dass vielleicht sogar ein sprechender Computer den Menschen ersetzen könne. Josef Weizenbaum, ein deutsch-US-amerikanischer Informatiker und Gesellschaftskritiker, der an der Entwicklung eines derartigen Computers namens „Eliza“  maßgeblich beteiligt war, ist aus diesem Forschungsprojekt ausgestiegen. Als er nach seinen Gründen dafür gefragt wurde, antwortete er: „Wir Menschen sind das Ergebnis unserer Geschichte. Die Art und Weise, wie wir die Dinge verstehen, ist eine Konsequenz der gesamten Lebenserfahrung. Der Geruch der Mutter, den ein Säugling wahrnimmt, werde Rechnern und Robotern immer fehlen“.
Die Unzulänglichkeit von Maschinen illustrierte Weizenbaum gern mit einer Kurzgeschichte von Hemingway, die aus lediglich fünf Wörtern besteht: „Babyschuhe zu verkaufen, nie benutzt.“ Um die Traurigkeit darin zu spüren, muss man viel vom Leben wissen.“
Und warum ist Psychotherapieforschung dennoch wichtig und richtig?
Wie schon gesagt, selbstverständlich ist Psychotherapieforschung wichtig, weil ein Forscher, der nicht in das therapeutische Geschehen selbst  involviert ist, mit einem Blick von außen, die Prozesse studiert, die zwischen dem Analytiker und seinem Patienten ablaufen. Man hat dies auch als eine triangulierenden Perspektive bezeichnet, die mit der Beobachtung der Interaktion zwischen Mutter und Kind seitens eines Vaters vergleichbar ist.
Die praktische Erfahrung, die emotional dichte Situation zwischen Analytiker und Patient, ist nicht nur der Ausgangspunkt für die psychoanalytische Konzeptbildung, sondern auch für die empirische Validierung, die dann wiederum als Wissen in die Praxis zurückfließt und dort einen stillschweigenden Hintergrund bildet. Mit meiner Kollegin Susanne Hörz-Sagstetter habe ich in den zurückliegenden zwölf Jahren in München ein Forschungsprojekt durchgeführt, bei dem wir insbesondere den analytischen Prozess sehr intensiv beforscht haben, um Aussagen darüber treffen zu können, wie hilfreiche Therapeut- Patienten Interaktionen beschaffen sind. Es sind dabei nicht so sehr bestimmte therapeutische Techniken ausschlaggebend, sondern viel eher das Zusammenspiel von zwei Menschen, wobei der Therapeut in der persönlichen Wahrheitsfindung ein Stück weiter gekommen sein sollte als sein Patient.
Für Ihre Zeit und Mühe bedanken wir uns sehr herzlich.
Das Interview führte Joanna Amor.
Weitere Werke von Professor Dr. Wolfgang Mertens:
Wolfgang Mertens ist Mitherausgeber der Reihe Psychoanalyse im 21. Jahrhundert.