Anlässlich des Erscheinens des Bandes Galileo Galilei führten wir mit dem Autor Professor Dr. Klaus Fischer, Universität Trier, das folgende schriftliche Interview.
Zu Galileos Leben scheint bereits alles gesagt zu sein, neues findet sich eigentlich nicht. Davon abzuheben haben Sie den Untertitel Biographie seines Denkens gewählt, was hat es damit auf sich?
Die Zahl der Perspektiven auf ein großes Ereignis oder eine große Figur der Wissenschaftsgeschichte ist niemals abgeschlossen. Selbst wenn keine grundlegenden Neuigkeiten gefunden werden, kann man die bekannten Fakten auf neue Weise verbinden. Plötzlich sehen wir das Leben eines Forschers auf eine ungewohnte Weise und kommen zu neuen Einsichten. So hatten wir bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts Galilei zunächst unter der Perspektive des Induktivisten und Empirikers, etwas später unter der des Rationalisten und Platonisten gesehen. Danach kamen Galilei der „Experimentator“ und Galilei der „Ketzer“ ins Spiel. Die neuesten Varianten zeigen uns Galilei den „Höfling“ und Galilei den „Ingenieur“. Diese Aufzählung ist nicht vollständig. Manche sahen Galilei auch kritisch, etwa aus der Perspektive des Glaubens oder der Perspektive der modernen Umweltzerstörung, für die die neue Wissenschaft des 17. Jahrhunderts mit haftbar seien. Andere sahen in ihm den Aufklärer und den Befreier der Wissenschaft aus der Klammer der Religion. Das sind in meiner Sicht spezifische Sichtweisen, keine davon ist falsch, aber jede zeigt nur einen Teil des ganzen Bildes. Und ich bin sicher, dass sich die Zahl der Perspektiven auch in der Zukunft noch vergrößern wird. Warum? Der „Diskurs“ braucht neue Nahrung und sucht sich seinen Weg auf der Basis des aktuellen Zeitgeistes, der wandelbar ist wie das Wetter.
Dass nichts Neues gefunden wird, ist im Übrigen nicht richtig. Erst vor wenigen Jahrzehnten fand man in einem Florentiner Archiv über lange Jahre geführte und immer wieder ergänzte handschriftliche Blätter aus der Feder Galileis, die den messenden und experimentierenden Forscher Galilei zeigen. Diese Seite Galileis war uns vor fünfzig Jahren noch nicht so detailliert bekannt.
Der Titel „Biographie seines Denkens“ soll darauf hinweisen, dass Galileis Denken eine Geschichte hat, die weit hinter seine Geburt zurückreicht. Das betrifft sowohl das alte Weltbild, das man das aristotelisch-ptolemäische nennt, als auch die Argumente und Traditionslinien, die bei Galilei zusammenflossen und schließlich – im Verbund mit Experimenten und Fernrohrbeobachtungen – das überkommene Paradigma zusammenbrechen ließen.
Ist Galileo tatsächlich dieser übergroße Gelehrte der beginnenden Vormoderne, ohne den es die heutige Physik so nicht gäbe oder ein begabter, zeitgenössischer Gelehrter, kurzum handelt sich bei Galileo um einen „Menschen der Moderne“?
Galilei ist ein Mensch seiner Zeit, der in die wissenschaftlich-religiösen Konflikte seiner Zeit verwickelt war. Seine große intellektuelle Neugier, die Unzufriedenheit mit den zu seiner Zeit vorherrschenden mechanischen und astronomischen Theorien, die aufgrund seiner Begabung und durch unermüdliche Arbeit erzielten Forschungsergebnisse und seine Bemühungen um deren Anerkennung katapultierten ihn ins Zentrum eines der großen Wandlungsprozesse der Wissenschaft, die wir heute die wissenschaftliche Revolution der Neuzeit nennen. Insofern dieser Wandlungsprozess zur Befreiung der Wissenschaft von der Bevormundung durch die Religion führte, ist Galilei ohne Zweifel ein Wegbereiter der Moderne. Gleichwohl hat Galilei selbst die Wissenschaft nie als Gegnerin der Religion, sondern eher als deren spirituelle Ergänzung oder Komplement verstanden – nach dem berühmten Diktum, dass uns die Wissenschaft sagt, wie sich die Himmel bewegen, dass wir aber die Religion brauchen, um zu erfahren, wie man in den Himmel kommt. Dass die Entwicklung der Physik ohne ihn anders verlaufen wäre, ist eine plausible Vermutung. Da uns die Geschichte jedoch nur in einem einzigen Exemplar zur Verfügung steht, wissen wir nicht, worin sich die Evolution der klassischen Physik unter dieser Bedingung von ihrer tatsächlichen Evolution unterschieden hätte. Wir wissen aber, dass solche Entwicklungsprozesse an bestimmten Punkten chaotische Momente aufweisen, sogenannte Bifurkationspunkte, und die sind immer für Überraschungen gut. Wir können also nicht unbesehen davon ausgehen, dass das Ergebnis ungeachtet des unterschiedlichen Weges das gleiche gewesen wäre.
Logik, Vermutung, These und Experiment sind die heutigen Eckpfeiler moderner Wissenschaft. War Galileo ein Wegbereiter dieser modernen Wissenschaft? Ein Ketzer und Revolutionär, der gegen das gottgegebene Bild von der Himmelsmechanik opponierte?
Die Wissenschaft ist schon immer (jedenfalls seit Aristoteles) nach der Methode von Analyse und Synthese (lateinisch Resolution und Komposition) vorgegangen. Das heißt, auf der Basis einer Problemlage analysiert man ein Phänomen, einen Prozess oder ein komplexes Objekt, weil man die wesentlichen Faktoren, den Kern, die Ursache herausfinden will. Dabei werden alle zufälligen Eigenschaften und Umstände ausgeblendet. Der synthetische Schritt fügt dann die Teile des Puzzles wieder zusammen, aber so, dass alles Unwesentliche, Nebensächliche, Kontingente draußen bleibt. Zurück bleibt das „reine Phänomen“, der idealtypische Prozess oder das perfekte Objekt, wenn man so will: das „Gerüst der Welt“. Dieser Methode folgte auch Galilei.
Der Erfolg ist dabei nicht garantiert. Es kam in der Geschichte der Wissenschaften oft vor, dass die Phänomene so komplex zu sein schienen, dass eine Herausarbeitung der dahinterstehenden realen Zusammenhänge nicht gelang. In diesen Fällen behalf man sich mit der Bildung von Modellen, aus denen man zwar die Phänomene logisch ableiten, letztere aber nicht in ihrer gesetzmäßigen Struktur aufklären konnte. Beispiele hierfür waren die ptolemäische Astronomie und die aristotelische Mechanik.
Was Galileis Methode von der seiner Zeitgenommen oder früherer Forscher unterscheidet, ist die starke Betonung des quantitativen Experiments. Wie Platon oder die Pythagoreer ging Galilei davon aus, dass das „Buch der Natur“ in der Sprache der Mathematik geschrieben ist. Folglich muss man die Buchstaben dieser Sprache zu entziffern versuchen, und das – hier trennt sich Galilei von den Genannten – geht nur durch Messung und Quantifizierung, nicht durch rein intellektuelle Erfassung von „Ideen“. Allerdings reicht das noch nicht aus, um Galileis Erfolg zu erklären. Galilei war immer auf der Suche nach dem Neuen, nach dem, was unser Wissen erweitern könnte. Wie jeder gute Wissenschaftler war er neugierig. Er wusste, dass neue Erkenntnisse alte Sicherheiten gefährdet konnten, aber er war bereit, dieses Risiko in Kauf zu nehmen. Er lehnte es ab, alte Lehrmeinungen zu verteidigen, nur weil sie schon lange bestanden, von hochgeschätzten Autoritäten vertreten und scheinbar durch Sätze der Bibel gestützt wurden.
Was halten Sie persönlich für die größte Errungenschaft bzw. Entdeckung Galileis?
Dies war die Entdeckung des Potentials eines neuen Instruments, das man Fernrohr nannte. Galilei hat das Fernrohr nicht erfunden, aber er hat es als „philosophical instrument“ – wie man es später im Umkreis der Royal Society in London nannte – etabliert. Was ist ein philosophisches Instrument? Ein philosophisches Instrument ist eine technische Erweiterung unserer natürlichen Wahrnehmungsfähigkeiten, die dazu führt, dass auf einen Schlag Dinge und Phänomene in den Blick kommen, die vorher verborgen waren. Durch diese Erweiterung unserer Sehfähigkeit werden in kurzer Zeit Fragen beantwortet und Kontroversen entschieden, über die Philosophen und Spezialisten zweitausend Jahre ergebnislos debattiert haben konnten. Im Falle Galileis und des Fernrohrs betrifft dies die Frage nach der Struktur des Sonnensystems und nach den Eigenschaften der Sonne, der Planeten und Monde. Andere philosophische Instrumente dieser Epoche waren das Mikroskop, das Barometer und die Luftpumpe. Das klingt heute trivial, aber diese Instrumente enthüllten wie das Mikroskop ungeahnte neue Welten oder beantworteten die von Aristoteles bis ins 17. Jahrhundert hinein verneinte Frage nach der Existenz des leeren Raumes (Vakuums) in positivem Sinn – und machten damit eine völlig neue Kosmologie und Mechanik möglich.
Möchten Sie dem Leser noch etwas sagen, bevor er das Buch anfängt zu lesen?
Er soll sich nicht entmutigen lassen, wenn er nicht alles auf Anhieb versteht. Verstehen ist immer eine Frage des Grades; es ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Selbst wenn man ein gutes Buch schon dreimal gelesen hat, sorgen die Selektivität der Wahrnehmung und der zwischenzeitlich veränderte Wissensstand dafür, dass man wieder Überraschendes entdeckt und dass manche Information, die man vorher für zentral hielt, möglicherweise trivial oder weniger wichtig erscheint.
Wir danken Ihnen für Ihre Mühe und Ihre Zeit.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn.