Anlässlich des Erscheinens des Bandes Die arabische Welt im 20. Jahrhundert von Professor Dr. Udo Steinbach führten wir mit dem Autor das folgende schriftliche Interview:
Die arabische Welt umfasst große Teile der Erde, von Nordwestafrika über den Nahen und den Mittleren Osten bis hin zu den Inseln der Komoren im Indischen Ozean. Lässt sich die arabische Welt überhaupt auf einen Nenner bringen?
Eine Reihe von Ländern am Rande der arabischen Welt, die Teil meines Buches sind, sind aus sehr durchsichtigen Gründen (hauptsächlich finanzieller Vorteile wegen) Mitglieder der Arabischen Liga geworden. Aber die Gesellschaften von Marokko bis Jemen und Oman am Indischen Ozean sind durch ein tiefes Gefühl der „Arabität“ geprägt. Bei allen Unterschieden der Dialekte (und die sind erheblich) wird die arabische Hochsprache – mit geringen Veränderungen durch die Jahrhunderte ist das die Sprache des heiligen Koran – überall gesprochen und nicht zuletzt heute in den Medien geschrieben. In Mekka, einem Ort auf der Arabischen Halbinsel, wurde der Islam geboren, der Ausgang einer wirkungsmächtigen Geschichte und hohen Kultur „der Araber“ geworden ist. Auf diese große Vergangenheit empfinden auch viele arabische Christen Stolz; sie ist die Quelle der Solidarität innerhalb der arabischen Welt. Es sind christliche Araber gewesen, die im 19. Jahrhundert im Raum Syriens und des Libanon den Glanz des Arabertums unter dem Schutt der Geschichte wieder ausgegraben und somit die Grundlagen für den arabischen Nationalismus gelegt haben.
Die arabische Welt ist im Aufruhr, nicht erst seit 2010 wie man glauben könnte, das ganz 20. Jahrhundert steht im Schatten von Gewalt, Religion und Machtausübung: Warum fällt es diesen Staaten so schwer, Staatlichkeit aufzubauen und zu garantieren?
Nach viereinhalb Jahrhunderten osmanisch-türkischer Herrschaft haben die Araber mit dem Ende des Osmanischen Reiches (1918) die Chance politischer Unabhängigkeit gehabt. Sie hatten eigene Ideen, was die Zukunft ihrer Gesellschaften betraf. Ihre Verwirklichung aber ist ihnen von den europäischen Kolonialmächten, namentlich England, Frankreich und Italien verwehrt worden. In diesem Jahr (2016) erinnern wir uns der willkürlichen Grenzziehungen des „Sykes-Picot-Abkommens“ (1916). Als diese Staaten nach dem Ende des 2. Weltkriegs in die Unabhängigkeit traten, sahen sich die Eliten komplexen Herausforderungen gegenüber: Auf arabischem Boden entstand mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft ein neuer – weder arabischer noch islamischer – Staat: Israel. Wie sollte man darauf reagieren? Die neuen Eliten, die in den fünfziger und sechziger Jahren an die Macht kamen, hatten keine Erfahrung im Umgang mit Demokratie; so herrschten sie autokratisch und rivalisierten heftig miteinander. Dies geschah unter den politischen Bedingungen des Ost-West-Konflikts, der die Stabilität von Regimes unterminierte. Der Westen schließlich instrumentalisierte die politischen Führungen im Nahen Osten nicht zuletzt um seiner Öl- und Gas-Interessen willen.
Was kennzeichnet die arabische Welt jenseits von Terror und Fragen der Religion?
Terror und Religion sind nicht wesenhaft Bestandteile der „arabischen“ Politik. Der zeitweilige politische Terror z. B. der Palästinenser ist Ausdruck der Tatsache, dass sich über Jahrzehnte niemand um ihre politischen Rechte ernsthaft gekümmert hat. Und religiöse Gewalt ist erst in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten an der Tagesordnung. Sie ist die Folge des Scheiterns eben jener Kräfte, von denen oben gesprochen wurde. Was die arabische Welt seit dem 19. Jahrhundert eigentlich kennzeichnet, ist das Ringen um die Antwort auf die Herausforderung, in der modernen Welt einen eigenständigen und geachteten Platz zu finden. Dabei liegt das Problem eben darin, dass es schwer fällt, eine Synthese zu finden, in der sich erfolgreiche Entwicklungskonzepte westlicher Herkunft und eine mit diesen kompatible Interpretation der islamischen Religion verbinden.
Was finden Sie an der Geschichte der arabischen Welt im 20. Jahrhundert besonders spannend?
Die Suche der arabischen Eliten nach politischen Lösungen von Gegensätzen. Auf der Ebene der Politik: das ständige Oszillieren zwischen politischen Entscheidungen im real existierenden einzelnen arabischen Staat auf der einen und dem Gefühl, Teil einer gesamtarabischen Gemeinschaft zu sein, auf der anderen Seite. Auf der Ebene der Religion: Individuell als gläubiger Muslim zu leben (was sich als einfach erweist) auf der einen und der Religion im Gemeinwesen einen Stellenwert zu geben, der bürgerliches Zusammenleben ermöglicht, es also quasi auf eine säkulare Grundlage stellt (was sich als schwierig erweist) auf der anderen Seite. Auf der Ebene der internationalen Beziehungen: In nationaler Eigenständigkeit zu entscheiden und zugleich im internationalen Rahmen Bündnisse zu schmieden, die der Durchsetzung von staatlichen Interessen förderlich sind.
Was möchten Sie dem Leser Ihres Bandes mit auf den Weg geben?
Das Verständnis dafür, dass die chaotische Lage der Gegenwart ihre Wurzeln in der neueren Geschichte des Nahen Ostens hat; dass also nachvollziehbare politische Fehlentwicklungen, nicht aber eine gleichsam inhärente Unfähigkeit, sich stabile und von den Bürgern legitimierte Ordnungen zu geben, dahin geführt haben. Dieses „konjunkturelle“ Verständnis der Gegenwart gibt der Hoffnung Raum, dass sich die arabische Welt als stabile Nachbarschaft Europas zu organisieren vermag. Die Ausgangslage 1918 in Europa auf dem Boden der zusammengebrochenen Jahrhunderte alten Ordnung war der Ausgangslage der Völker auf dem Boden der gleichzeitig zusammengebrochenen osmanischen Ordnung vergleichbar. Europa ist danach für Jahrzehnte in die größte Katastrophe seiner Geschichte gestürzt. Und auch in der Gegenwart tun sich noch (wieder?) Brüche auf. Wir müssen das erkennen, um uns selbst als Ergebnis eines Prozesses zu verstehen. Das ist die Voraussetzung einer künftigen Partnerschaft zwischen Europa und seiner arabischen (nahöstlichen) Nachbarschaft.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Zeit.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn