Anlässlich des Erscheinens des Werkes „Autismus und Gesundheit“ führten wir mit der Autorin Dr. Christine Preißmann das folgende schriftliche Interview.
Frau Dr. Preißmann, nach „Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus“ geht es in Ihrem neuen Buch nun um das Thema „Gesundheit“. Sie sind selbst Ärztin und erhielten im Alter von 27 Jahren die Diagnose Asperger-Syndrom – inwieweit hat dies die Wahl der Themen im Buch beeinflusst?
Das Thema Gesundheit war mir schon lange ein wichtiges Anliegen, weil ich immer wieder merke, dass es hier noch sehr viele Hürden und Schwierigkeiten für die Betroffenen gibt. Im Hinblick auf Schule, Arbeit und Beruf, Wohnen oder den Freizeitbereich gibt es viele gute und ermutigende Ansätze, die Gesundheitsversorgung aber wurde bislang überhaupt nicht thematisiert, und die derzeitige Situation ist ziemlich ernüchternd:
- Viele Menschen mit Autismus haben keinerlei Zugang zum allgemein-ärztlichen Gesundheitssystem, oft wurden über viele Jahre hinweg keine Ärzte aufgesucht, notwendige Impfungen oder Vorsorgeuntersuchungen nicht durchgeführt, weil die Hürden einfach zu hoch sind.
- Über wichtige Themen, die die Gesundheit betreffen, wissen Menschen mit Autismus oft kaum Bescheid: z. B. über Hygiene, gesunde Lebensführung und Sport, Stress und Entspannung, Vorsorgemaßnahmen oder das Gebiet der Sexualität.
- Es gibt keine wirklichen Konzepte, ihnen dabei zu helfen.
- Es gibt, obwohl sich in den letzten Jahren manches verbessert hat, noch immer viel zu wenige Möglichkeiten für Diagnostik und Therapie.
- Psychische Begleiterkrankungen, vor allem Angst und Depressionen, sind die Regel und nicht die Ausnahme, so hat man in Untersuchungen festgestellt, dass bei über der Hälfte der betroffenen Erwachsenen eine begleitende Depression vorlag, die behandlungsbedürftig war.
- Aber die meisten Ärzte in Praxen und Kliniken möchten sich eher nicht mit autistischen Menschen beschäftigen.
Nachdem ich auch selbst gerade in den letzten Jahren sehr schwierige Situationen auf diesem Gebiet erleben musste, war es mir sehr wichtig, nun Material auch für den Bereich der Gesundheit anzubieten.
Was bedeutet „Gesundheit“ für Sie?
In erster Linie denkt man dabei natürlich an Arzt-/Zahnarztbesuche oder Klinikbehandlungen (und die sind selbstverständlich auch im Buch ein großes Thema) – aber das ist längst nicht alles.
Ganz bewusst habe ich vielmehr auch die Lebensbedingungen in den unterschiedlichen Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen und Umwelt einbezogen, da ja das Wohlbefinden einen großen Einfluss auch auf die Gesundheit hat.
Kenntnisse zur gesunden Lebensführung, sportliche Möglichkeiten, Sexualität und Wahrnehmungsbesonderheiten autistischer Menschen werden also ebenso thematisiert wie das Erleben der Diagnose, therapeutische Möglichkeiten, häufige Begleiterkrankungen und Krisen, insbesondere in den Lebensübergängen wie Pubertät oder im höheren Lebensalter. Außerdem habe ich mögliche Maßnahmen zur Barrierefreiheit in den verschiedenen Lebensbereichen (Schule, Arbeit und Beruf, Wohnen, Alltag, Freundschaft etc.) aufgelistet, denn unsere Barrieren sind ja andere als die von körperlich eingeschränkten Menschen, da ist es mit Rollstuhlrampen oder Fahrstühlen eben nicht getan. Vieles aber ist ohne großen Aufwand realisierbar, wenn man erst um die Problematik und die Bedürfnisse weiß.
Warum ist der Zugang zu unserem Gesundheitswesen für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen erschwert?
Viele verschiedene Faktoren spielen hier eine Rolle:
- Der Arztkontakt erfolgt meist auf Veranlassung Dritter, nicht aus eigenem Antrieb; auch ist für den autistischen Menschen häufig keine eigene Arztwahl möglich, er wird beim Arzt der Eltern angemeldet.
- Generell bestehen ja Probleme beim Umgang mit fremden Menschen, es kommt dann zu Hilflosigkeit und Angst; auch fehlt das Vertrauensverhältnis, das für viele andere Menschen beim Arztkontakt so wichtig ist.
- Die Wartezimmersituation ist schwierig: Angst und Unruhe verstärken sich oft noch, weil man nicht weiß, was einen erwarten wird.
- Autistische Menschen können meist nicht gut beschreiben, was ihnen genau fehlt. Auch Schmerzen oder andere Befindlichkeitsstörungen können dann beispielsweise als aggressives Verhalten imponieren. Oft wäre es hier mit einfachen Mitteln möglich, Abhilfe zu schaffen, aber dazu muss man die körperliche Problematik erst einmal erkennen.
- Die Betroffenen brauchen außerdem oft ein bisschen länger als andere Menschen, um sich ausdrücken zu können und um ihr Anliegen darzustellen. In der Praxis bedeutet das, dass ein Arzt, der meist unter Zeitdruck arbeiten muss, mit einem Patienten konfrontiert wird, der mehr Zeit benötigt als andere. Das ist eine für beide Seiten schwierige Situation.
- Meist besteht eine andere Schmerz- und Körperwahrnehmung als bei anderen Menschen. Viele Betroffene haben eine reduzierte Schmerzwahrnehmung, so ist es auch bei mir, und das hat eben nicht nur Vorteile. Im vorletzten Jahr hatte ich eine schwere Erkrankung, die genau daraus resultierte.
- Es fällt den Betroffenen schwer, sich anfassen zu lassen, das macht v. a. die körperliche Untersuchung zur besonderen Herausforderung. Wenn man das nicht weiß und überfallartig z. B. den Bauch eines autistischen Menschen abtastet, ohne ihn vorher darüber zu informieren, bedeutet das in aller Regel massiven Stress für ihn – der sich dann eben manchmal auch in Wutausbrüchen oder Tätlichkeiten äußern kann. Dann ist die Basis für eine weitere Zusammenarbeit zerstört.
- Informationen, die nicht ganz eindeutig formuliert sind, können oft nicht verstanden werden. Gleichzeitig aber besteht das besonders große Bedürfnis nach Vorhersehbarkeit und Informationen. Das wörtliche Sprachverständnis ist hier oft ein weiteres Hindernis. Ein Arzt, der den autistischen Menschen etwa fragt, wo ihn denn „der Schuh drückt“, kann dann völlig missverstanden werden.
Was hat Ihnen persönlich geholfen, derartige Situationen zu meistern?
Wichtig ist zunächst die Information des Arztes über die Auffälligkeiten und die Schwierigkeiten. Das kann vorab in einem Brief oder einer E-Mail geschehen. Dort kann man dann auch gleich Lösungsvorschläge anbieten, z.B.:
- Man kann sich gezielt einen Termin zu Beginn oder am Ende der Sprechstunde geben lassen, wenn das Wartezimmer nicht so voll ist. Falls es doch zu längerer Wartezeit kommt, kann es sinnvoll sein, nochmals nach draußen zu gehen.
- Man sollte darum bitten, dass die notwendigen Maßnahmen in Ruhe erklärt werden.
- Man kann einen verlässlichen Menschen als Begleiter mitnehmen: Freund oder Freundin, Eltern, Geschwister oder auch Therapeuten.
- Wichtige Fragen sollte man sich aufschreiben, damit man sie in der Eile nicht vergisst.
- Hilfreich ist oft auch die Information an den Arzt, dass wir auch bei massiven Beschwerden objektiv manchmal nicht sehr beeinträchtigt wirken. Das kann leicht zu Fehlinterpretationen führen und gefährliche Folgen haben, wenn z. B. Schmerzen falsch eingeschätzt werden.
- Und es ist sinnvoll zu erklären, dass wir manchmal abweisend und schroff wirken, wenn wir aufgeregt sind. Das muss man nicht persönlich nehmen – aber es ist wichtig, dass man das weiß.
Diese und viele weitere Maßnahmen habe ich mit meiner Psychotherapeutin erarbeitet und damit sehr gute Erfahrungen gemacht.
In Ihrem Buch teilen Sie auch Erfahrungsberichte anderer Menschen mit Autismus. Waren Sie von einigen Erzählungen und Beispielen überrascht?
Es ist mir immer ein großes Anliegen, möglichst viele verschiedene Beispiele zu bringen, denn jeder betroffene Mensch ist ja ein bisschen unterschiedlich. So habe ich mich auch diesmal sehr gefreut, dass ich viele Zuschriften erhalten habe mit sehr guten Beiträgen über das, was im Hinblick auf die Gesundheit schwierig ist, aber auch über mögliche Hilfen, die jeder Einzelne für sich entwickelt hat. Viele Lösungen sind individuell und auch originell. Nicht alle Ideen sind für jeden geeignet, aber aus der Fülle an Vorschlägen lassen sich für jeden einzelnen Menschen individuelle Maßnahmen zur Unterstützung entwickeln.
Was können Menschen mit und ohne Autismus von Ihrem Buch lernen?
Sie erhalten natürlich ganz konkrete Tipps. Aber sie sollen vor allem entdecken, dass es Sinn macht, sich auf den anderen Menschen einzulassen, mit ihm zusammenzuarbeiten und die eigenen Bedürfnisse zu erfragen. Erst wenn ich weiß, wo es Schwierigkeiten gibt, erst wenn ich die Hintergründe verstehen kann, weshalb diese oder jene Situation problematisch ist, kann ich Lösungen entwickeln, die auch wirklich weiterhelfen. Und dann darf man doch oft die Erfahrung machen, dass sich vieles einfacher lösen lässt, als man es je erwartet hätte – allein deshalb, weil alle Beteiligten sich Mühe geben, einen Weg zu finden. Dazu möchte Menschen mit Autismus und ihr soziales Umfeld, aber auch Fachleute aus Medizin, Therapie oder Pädagogik ermutigen. An sie alle richtet sich deshalb mein Buch.
Wir bedanken uns recht herzlich für Ihre Zeit und Mühe!
Das Interview führten Annika Grupp und Laura Vicente Antunes.
Lesen Sie auch die bisher erschienenen Interviews mit Frau Dr. Preißmann zu den Themen:
„Psychotherapie und Beratung bei Menschen mit Asperger-Syndrom“ (16. Januar 2014)
„Glück und Lebenszufriedenheit für Menschen mit Autismus“ (11. November 2015)
Zum Thema „Psychotherapie und Asperger-Autismus“ sprach Christine Preißmann im Rahmen der 14. Fachtagung des Instituts für Verhaltenstherapie, Verhaltensmedizin und Sexuologie (IVS-Nürnberg) am 12. November 2016