Anlässlich des Erscheinens des Titels „Geflüchtete in der Schule. Vom Krisenmanagement zur nachhaltigen Schulentwicklung“ führten wir mit dem Herausgeber, Herrn Prof. Joachim Schroeder, folgendes Interview.
Wie haben Sie als Herausgeber die Auswahl getroffen, welche Beiträge in Ihrem Buch vereint werden sollen?
Wir haben einen Schwerpunkt auf Jugendliche und junge Erwachsene gelegt, weil sich für diese Altersgruppen der 14- bis 20-Jährigen der Zugang zum Bildungssystem als besonders schwierig darstellt. Und wir haben einen Schwerpunkt auf junge Geflüchtete gelegt, die nicht in das Gymnasium wollen, sondern die möglichst rasch eine berufliche Ausbildung absolvieren möchten oder dringend eine Arbeitsstelle suchen. Diese Gruppe stellt übrigens die große Mehrheit junger Geflüchteter dar. In den Beiträgen werden deshalb Konzepte aus der Schulpädagogik, der Sozial- und Sonderpädagogik, der Berufspädagogik und Erwachsenenbildung diskutiert und präsentiert, also aus jenen erziehungswissenschaftlichen Disziplinen, die für eine arbeitsweltorientierte Schulentwicklung im Handlungsfeld Flucht und Asyl besonders wichtig sind.
Warum ist es eine so große Herausforderung, Geflüchtete über zehn Jahren in das Bildungssystem zu integrieren?
Das Bildungssystem ist in Stufen organisiert, die aufeinander aufbauen: Die Grundschule erwartet, dass Kinder in einer deutschen Kita auf den Schulanfang vorbereitet werden. Die Sekundarschule erwartet, dass die Grundschule erfolgreich durchlaufen wird. Die Universität erwartet, dass das Gymnasium Jugendliche „fit“ macht für das Studium. Für so genannte „Quereinsteiger“ ist ein solches System fatal, weil sie diese institutionellen Erwartungen eben nicht so einfach erfüllen können. Die Sekundarschulen tun sich beispielsweise sehr schwer mit Jugendlichen, die in ihren Herkunftsländern noch nicht lesen und schreiben gelernt haben. Hinzu kommt, dass das deutsche Schulsystem extrem an zentralen Schulabschlüssen am Ende einer Stufe orientiert ist, junge Geflüchtete aber deutlich weniger Zeit haben, die verlangten schulischen Anforderungen zu erfüllen. Jahrzehntelange Forderungen, Schulabschlüsse zu modularisieren, konnten sich nicht durchsetzen. Anders als an den Universitäten, wo die „großen“ Abschlussexamina ja überwiegend abgeschafft sind, stattdessen die Studierenden im gesamten Studium Punkte sammeln, die in die Abschlussnote einfließen, findet sich dieser Ansatz weder im allgemeinbildenden noch im beruflichen Schulsystem. Dort beharrt man immer noch auf die standardisierten Abschlussprüfungen – nicht nur beim Abitur.
Sie schreiben, dass die Annäherung an die Biografien junger Geflüchteter eine zentrale Voraussetzung für eine gelingende Kommunikation sei. Können Sie dies näher erläutern?
Lehrkräfte an deutschen Schulen sind ganz überwiegend in Deutschland geboren und konnten, unterstützt durch das Bildungssystem, zumindest in die mittleren Einkommensgruppen der Gesellschaft gelangen. Die wenigsten haben jedoch eigene Migrationserfahrungen, und schon gar keine Fluchtbiografien. Wenn wir Geflüchtete in der Schule mit glaubwürdigen Bildungsangeboten auf das Leben in Deutschland vorbereiten möchten, dann müssen wir uns mit ihren biografischen Erfahrungen auseinandersetzen: Einen Job finden, das läuft für Geflüchtete völlig anders ab als für Deutsche; eine Wohnung finden, das ist bekanntlich für alle Ausländer schwierig; Schulen mögen nicht, wenn Schülerinnen ein Kopftuch tragen. Im Klassenzimmer treffen somit die gesellschaftlich etablierten und relativ reichen Lehrkräfte auf die relativ armen gesellschaftlichen Außenseiter. Diese sozialen Asymmetrien rahmen das Unterrichtsgeschehen, Lehrkräfte können sie nicht ändern, aber sie können verstehen, dass viele pädagogische Konflikte im Unterrichtsalltag hier ihre Ursachen haben und werden dann die Schuld nicht immer nur bei den Jugendlichen suchen.
Was möchten Sie angehenden Pädagoginnen und Pädagogen mit auf den Weg geben, die mit jungen Geflüchteten arbeiten?
An jungen Geflüchteten erkennen wir, dass es bislang nicht sonderlich gut gelungen ist, das „deutsche“ Schulsystem – nachhaltig – so zu gestalten, dass auch „Quereinsteiger“ aus anderen Ländern möglichst gute Chancen haben, ihren Platz in der deutschen Gesellschaft zu finden. Angehende Pädagoginnen und Pädagogen müssen erkennen, dass es ihre Aufgabe ist, Schulkonzepte zu entwickeln, die berücksichtigen, dass wir viele Schülerinnen und Schüler mit so genannten diskontinuierlichen Bildungsbiografien haben, auf die wir uns mit unseren Bildungsgegenständen und Organisationsformen einstellen müssen. Das macht einen Bruch mit einer pädagogischen Tradition erforderlich, die ausschließlich auf lineare Schulbiografien ausgerichtet ist. Die meisten Lehramtsstudierenden haben solche linearen Schulbiografien durchlaufen und einen entsprechenden Bildungshabitus erworben. Nun müssen sie lernen, Schule zu machen, die Bildungsverläufe diskontinuierlich denkt.