Anlässlich des Erscheinens des Bandes Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von Professor Dr. Guido Thiemeyer führten wir mit dem Autor das folgende schriftliche Interview:
Es scheint gerade ein Trend zu sein, das wirtschaftsstarke Deutschland als halben Hegemon darzustellen, der zwischen politischem Anspruch, internationaler Wahrnehmung und den Meinungen und Interessen der Bevölkerung zerrieben wird. Lässt sich dieses Bild aufrechterhalten oder ist es doch stark überzeichnet?
Der Begriff von der halbhegemonialen Stellung Deutschlands in Europa stammt vom Historiker Ludwig Dehio, der ihn mit Blick auf das Deutsche Reich von 1871 geprägt hat. Er meinte damit, dass das Deutsche Reich einerseits auf Grund seines wirtschaftlichen und militärischen Potentials eine Führungsrolle in Europa einnahm. Andererseits war das Reich zu schwach, um den Kontinent in einer von allen anderen Regierungen akzeptierten Weise zu führen. Hieraus, so Dehio, entstand die außenpolitische Versuchung für die Reichsleitung, aus der halben Hegemonie eine volle zu machen. Dies aber ist spätestens 1945 gescheitert, es endete mit der völligen Selbstzerstörung des Deutschen Reiches. Der Begriff ist insofern auch auf die Bundesrepublik Deutschland zutreffend, als dieser seit 1990 vor allem im wirtschaftlichen Bereich, aber auch in demographischer Hinsicht eine Führungsrolle in Europa zugewachsen ist. Verstärkt wurde diese nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes durch den Wegfall der Sowjetunion als dominanter Macht in Osteuropa und der US-amerikanischen Hinwendung in den Pazifik und Nahen Osten. Andererseits aber ist die Bundesrepublik Deutschland – im Gegensatz zum Deutschen Reich von 1871 – eingebunden in ein starkes Gefüge internationaler Organisationen, von denen die Europäischen Union und die NATO die wichtigsten sind. Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist daher von Beginn an darauf gerichtet, diese internationalen Strukturen zu erhalten und auszubauen, weil deutsche Interessen am besten in diesem Rahmen vertreten werden können.
Welche Vorteile bietet die Strategie der Internationalisierung und der Europäisierung der deutschen Politik und welche Nachteile können sich daraus ergeben, Stichwort Europamüdigkeit?
Die Europäisierung der Bundesrepublik bietet ihrer Bevölkerung und dem gesamten Europa einen bislang in der Geschichte unbekannten wirtschaftlichen Wohlstand. In politischer Hinsicht garantiert sie Stabilität und Berechenbarkeit im internationalen Staatensystem. Die Europäische Union ist ein Konfliktregelungsinstrument, das bisweilen sehr bürokratisch und umständlich ist, aber gerade dadurch berechenbar wird. Alltägliche Konflikte, die sonst eine gefährliche Dynamik entwickeln können, werden so in juristische und administrative Bahnen gelenkt, die die Komplexität des internationalen Systems reduzieren und es daher für die Akteure berechenbar machen.
Allerdings: Bis in die 1990er Jahre wurde die europäische Integration von einem breiten Konsens in der Bevölkerung getragen. Seither wird die EU von einer zunehmenden Anzahl von Menschen als kompliziert, undemokratisch und wirtschaftlich ineffizient angesehen. Die Einführung des Euro wurde zudem als Angriff auf die deutsche Identität wahrgenommen, die in starkem Maße durch die D-Mark repräsentiert wurde. Die deutsche Politik war daher seit 1990 immer mehr damit beschäftigt, innen- und außenpolitische Ziele miteinander zu in Einklang zu bringen. So wurde beispielsweise eine stärkere Beteiligung der Bundeswehr an Einsätzen der NATO von den NATO-Mitgliedern gefordert, während dies in der Bevölkerung mehrheitlich auf Ablehnung stieß. Es wird zunehmend schwerer, innen- und außenpolitische Interessen in Einklang zu bringen.
Wird diese Strategie auch in Zukunft von Bedeutung und erfolgreich sein oder wird es zu einem Politikwechsel kommen?
Es zeichnet sich in den letzten Jahren – beschleunigt, aber nicht verursacht durch die Flüchtlingskrise – ein Wandel der europäischen Parteiensysteme ab. Auch in der Bundesrepublik scheint sich mit der AfD eine Partei zu etablieren, die die Europa-Skepsis zum wesentlichen Teil ihres Programms macht. Das hat seine Ursache darin, dass seit einigen Jahren ein neuer gesellschaftlicher Bruch entstanden ist: Brüche dieser Art hat es immer gegeben, sie bezogen sich auf grundsätzliche Fragen wie kirchlich- nicht kirchlich, sozialistisch-marktwirtschaftlich, städtisch-ländlich, usw. Neu ist der Bruch europäisch-national. Das ist aber nicht allein ein deutsches Phänomen, es zeigt sich in nahezu allen europäischen Staaten. Dieser neue Gegensatz wird aus meiner Sicht für die Politik in Deutschland und den anderen europäischen Staaten in den kommenden Jahren prägend sein.
Das Buch liegt gut in der Hand, kann und soll jeder es lesen oder ist es für den universitären Einsatz gedacht?
Das Buch richtet sich ausdrücklich nicht nur an die Fachöffentlichkeit, sondern auch an Journalisten, Lehrer und Schüler der Oberstufe. Das Ziel war es, einerseits einen Überblick über die Forschung zur Europa- und Außenpolitik der Bundesrepublik zu geben andererseits aber auch auf die Konsequenzen der Europäisierung der Bundesrepublik aufmerksam zu machen.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Zeit.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn