Anlässlich des Erscheinens der 2. Auflage des Bandes Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung führten wir mit dem Autor Professor Dr. Bernd Schneidmüller das folgende schriftliche Interview:
Die Familie der Welfen lässt sich bis in die Karolingerzeit zurückverfolgen. Was machte diese Familie, die bis heute noch existiert, so erfolgreich?
Seit ihrer ersten Erwähnung gehörten die Welfen zur absoluten Spitzengruppe des Adels in Europa. Kreative Heiraten bahnten ihnen den Weg. Der erste bekannte Welfe war Schwiegervater eines Kaisers und eines Königs. Und so ging das über die Jahrhunderte weiter. Welfische Herren stiegen im Mittelalter zu Herzögen, zu Königen, ja einmal sogar bis zum Kaiser auf. Ihre Ehefrauen und Töchter sorgten für Verwandtschaftsnetze, die auch größere Krisen abfingen. So beruhten die Erfolge auf beständiger Flexibilität, Dynamik und Anpassungsfähigkeit. Im Bedarfsfall wechselten die Welfen rasch ihre Heimat. Nähe und Ferne zur Macht, strahlende Triumphe und tiefe Niederlagen lösten sich dabei ab. Doch niemals stürzte dieses Geschlecht in die Mittelmäßigkeit ab.
Die Welfen werden gerne als Gegenspieler der Staufer dargestellt, standen diese sich feindlich gegenüber oder war das schlechte Verhältnis an einzelne Personen geknüpft?
Der Konflikt zwischen Staufern und Welfen wurde und wird in der Geschichtswissenschaft gerne erzählt, weil sich hier Größe und Tragik besonders gut ausmachen lassen. Der Fußfall Friedrich Barbarossas vor Heinrich dem Löwen, die vergebliche Bitte des gestürzten Herzogs um kaiserliche Gnade – das sind Geschichten, die unmittelbar anrühren. Hinzu kam der Nutzen alter Fehden für die deutsche Nationalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Bismarck oder Hitler stigmatisierten die Welfen gerne als vaterlandslose Gesellen oder mittelmäßige Regionalpolitiker. Tatsächlich wissen wir jetzt, dass es den staufisch-welfischen Konflikt gar nicht gab. Vielmehr wechselten lange Phasen der Kooperation und der Konfrontation. Außerdem waren die führenden Persönlichkeiten im 12. Jahrhundert so eng miteinander verwandt, dass es ihnen schwer gefallen wäre, sich eindeutig als Staufer oder als Welfe zu identifizieren.
Was würden Sie als größte Leistung der Welfen im Mittelalter ansehen?
Den Welfen gelang im heutigen Norddeutschland eine einzigartige Herrschaftsbildung. Ihre Hauptstadt Braunschweig schmückten Heinrich der Löwe, seine Gemahlin, die englische Königstochter Mathilde und deren Nachkommen mit größter Pracht. In einem planmäßigen Kulturtransfer aus England oder dem Mittelmeerraum entstand der Prototyp einer fürstlichen Residenz. Sie bot Raum für Kultur und Wissenschaft. Hier kam eine herausragende Sammlung erstklassiger Kunst aus allen Teilen der Christenheit zusammen. Dieser Welfenschatz des Mittelalters erregt bis heute das Staunen der Menschen und steht mit seinen kostbarsten Reliquien, Goldschmiedearbeiten und Handschriften immer wieder in den Schlagzeilen.
Unterscheiden sich die Welfen von anderen mittelalterlichen Herrscherfamilien, oder was sind die Unterschiede zwischen „erfolgreichen“ und weniger „erfolgreichen“ Familien?
Die Welfen agierten seit dem früheren Mittelalter erfolgreich in der Spitzengruppe des europäischen Adels – so wie die Ottonen, die Salier oder die Staufer auch. Ihr besonderes Glück war aber die genealogische Dauer, und das macht sie unvergleichlich in der deutschen Geschichte. Die einzige Nachfolgekrise im 11. Jahrhundert wurde gemeistert. Danach hatten welfische Väter bis ins 21. Jahrhundert immer wieder das Glück regierungsfähiger Söhne, die das Haus in die Zukunft trugen. Während die meisten deutschen Fürstenfamilien des 12. Jahrhunderts noch im Mittelalter „ausstarben“, prägen die männlichen Nachfahren Heinrichs des Löwen bis heute den europäischen Hochadel.
Warum spielt das Gedenken und Andenken an verstorbene Mitglieder einer Familie eine so große Rolle, der Band lautet im Untertitel Herrschaft und Erinnerung?
Das menschliche Gedächtnis braucht Unterstützung, wenn es die lange Folge von Vorfahren herstellen oder erinnern will. Die unmittelbare Erfahrung geht in der Regel bis zu den Großeltern, allenfalls zu den Urgroßeltern zurück. Das Image einer langen welfischen Geschichte entstand im 12. Jahrhundert. Damals schrieben Geistliche die Hausgeschichte für ihre Fürsten zusammen. Aus der Fülle der Vorfahren wurde gezielt ausgewählt. Was man nicht mehr brauchen konnte, ließ man weg und vergaß es einfach. Anderes wurde dagegen gezielt zusammengefügt. So entstand das adlige Haus erst im historischen Bewusstsein. Hier waren die Welfen Vorreiter. Sie gehörten zu den ersten Adelsfamilien Europas, die überhaupt eine Hausgeschichte erhielten. Mit dem Wandel ihrer Herrschaft veränderte sich das, was sie aus der Geschichte gebrauchen konnten. Deshalb gehörten im Mittelalter Herrschaft als Gestaltung der Gegenwart und Erinnerung als Legitimation aus der Geschichte eng zusammen.
Was macht die Welfen so interessant, dass man das Buch unbedingt lesen muss?
Die Welfen waren Meister in der flexiblen Krisenbewältigung, in der Konstruktion nützlicher Vergangenheiten und in der Zurschaustellung ihrer Größe. Das alles war einzigartig. So ließen sich Wechselfälle von Geschichte gut aushalten. Mich bewegt am meisten, dass es selbst in der langen Dauer einer Dynastie immer wieder die einzelnen Menschen sind, deren Schicksale bis heute unmittelbar anrühren.
Wir danken Ihnen für Ihre Mühe und Ihre Zeit.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn.