Anlässlich des Erscheinens des Bandes Geschichte digital von Guido Koller führten wir mit dem Autor das folgende schriftliche Interview:
Die Digitalisierung erfasst nicht nur Industrie und Haushalt – Stichwort Internet der Dinge – sondern auch die Wissenschaft. Was sind hier die markantesten Veränderungen?
Die Vernetzung von Informationen bildet mittlerweile einen grundlegenden ProduktionsÂfaktor. Das trifft den Kern der Humanities: Das Arbeiten mit digitalen Quellen. Inskünftig wird es darum gehen, historische Welten digital zu vermessen und analog zu interpretieren.
Was heisst das konkret?
Digitale Medien und computerÂgestützte analytische Verfahren werden in den USA schon heute für die Produktion von historischen Wissens eingesetzt. Es handelt sich um eine Praxis, die sich an die Methoden der Digital Humanities anlehnt, sich aber auch aufgrund von eigenen Anforderungen konstituiert.
Wie sieht das in Deutschland aus?
In Deutschland, Österreich und der Schweiz prägen gegenwärtig vor allem Editionen und die Präsentation von Rechercheergebnissen die digital aufbereitete und vermittelte Geschichte. Hingegen werden computergestützte quantitative Analysen noch wenig gemacht. Das wird sich aber sehr bald ändern.
Das heißt, Datenbanken sind künftig die wichtigsten Quellen für Historiker?
Daten generell. Das können strukturierte Daten aus Datenbanken, aber auch digitalisierte Quellen sein, aufbereitete Text-Daten, die mit Hilfe von Text-Mining ausgewertet werden. Und dann werden bald auch halb-strukturierte Daten, das heisst digital gebildete Dokumente aus Geschäftsverwaltungssystemen wichtig sein. Die Quellenkritik wird ganz neue Formen annehmen – z.B. die Analyse von solchen Systemen, um zu prüfen, wer wie auf die Bildung von Dokumenten eingewirkt hat.
Und wie verändert sich die Vermittlung? Wird es noch historische Bücher geben?
Das Internet ist schon heute zentral für die Vermittlung von historischem Wissen, wie Wolfgang Schmale gezeigt hat. Es erschließt der Vermittlung ganz neue Möglichkeiten, wie zum Beispiel das tolle Alptransit-Portal zum neu eröffneten Gotthard-Tunnel oder The Valley the Shadow zum amerikanischen Bürgerkrieg zeigen. Das Buch bleibt aber wichtig. Es gibt kein besseres Medium für die Vermittlung von stabilisierten Informationen.
Ihr Buch will Historische Welten neu vermessen, was erfährt man über die Bedeutung der Digitalisierung hinaus?
Ich möchte zeigen, dass digitale Techniken eine kulturelle und historische Dimension aufweisen, die wir unbedingt verstehen lernen müssen. Denn sie transformieren die Realität, wie wir sie kennen, in einen Code, der diese Realität abbildet; das heißt, sie mediatisieren die Forschung und verändern ihr zugrundeliegende Episteme und Ontologien. Computer stehen zwischen uns und der Welt. Wenn wir Bruno Latour oder Vilém Flusser folgen, lösen RechenÂmaschinen sogar bis anhin gültige strukturelle Oppositionen wie die von Subjekt und Objekt, von Natur und Kultur auf.
Was heißt das für unsere Lebenswelt, aus der heraus Historiker ihre Fragestellungen entwickeln?
Globalisierung und Virtualisierung scheinen unser Verhältnis zu Zeit und Raum neu zu formieren. Folgen wir Reinhard Koselleck, so war die Moderne durch ein Zeitgefühl geprägt, das den Horizont für die Möglichkeiten der Zukunft frei machte. Fortschritt war möglich, weil das Vergangene in den Hintergrund gerückt wurde – in Archive und an Erinnerungsorte. Es entstand ein Bewusstsein für Veränderung und für eine kulturelle Distanz zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit als „einem fremden Land“. Und so entstand auch die Möglichkeit von Geschichte, die Beschäftigung mit dem, was einmal gewesen war und heute anders ist. Die Regeln für das Spiel von Nähe und Distanz und damit für die historische Sinnstiftung werden gerade neu definiert, wie z.B. Hans Ulrich Gumbrecht betont.
Hatten Sie beim Schreiben eine Vorstellung des künftigen Leser, was würden Sie ihm gerne sagen?
Die Kompetenz der Geisteswissenschaften liegt gerade darin, sich mit diesen Fragen und Widersprüchlichkeiten auseinanderzusetzen. Dies betrifft ganz besonders die Geschichte. Dieser Hybridisierung von Kultur und Geschichte müssen wir unbedingt vermehrt nachgehen.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Ihre Zeit.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn