Anlässlich des Erscheinens des Bandes Religion und Kult der Germanen von Prof. Dr. Alexander Rubel führten wir mit dem Autor das folgende schriftliche Interview:
Die Germanen werden häufig entweder als wilde Barbaren oder heidnische Römer dargestellt. Welches Bild haben Sie von den Germanen?
Das Bild er Germanen wurde in den letzten Jahrzehnten durch die archäologische Forschung stark verändert, die wilden Barbaren sind gewissermaßen passé, obwohl man sich von der Perspektive der Quellen, die ja von Römern verfasst wurden, nur schwer frei machen kann. Die Germanen waren demnach Angehörige einer überaus differenzierten Gruppe, die erst von den Römern gewissermaßen in einen Topf geworfen, bzw. in eine Schublade mit der Aufschrift „Germanen“ gesteckt wurden. Aber erst in der Interaktion mit den kulturell überlegenen Römern treten sie uns als „Germanen“ gegenüber. Ihre Eliten haben früh den Austausch mit dem römischen Reich gepflegt und sogenannte römische „Importe“, Gegenstände aus dem Imperium, denen die Germanen einen besonderen Wert zumaßen, finden sich in den Gräbern der germanischen Eliten in ganz Europa. Germanen, so könnte man sagen, sind ohne die Römer gar nicht denkbar, denn nur durch die Begegnung mit dem Imperium konnte die Ethnogenese der germanischen Großstämme wie der Allamannen oder Franken sich vollziehen.
Die Germanen haben keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen, wie können wir etwas über Kult und Religion der Germanen wissen?
Die Germanen haben in der Tat – abgesehen von wenigen Runeninschriften aus der Völkerwanderungszeit – keine zusammenhängenden schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Das Wissen über sie und ihre Kulte müssen wir den Fremdbeschreibungen durch Griechen und Römer und vor allem den archäologischen Hinterlassenschaften entnehmen. Glücklicherweise haben sich einige der Zeitgenossen für die Religion der Germanen interessiert. So etwa Tacitus, der besonders die kuriosen Dinge benennt, etwa die aus römischer Sicht „barbarische“ Sitte des Menschenopfers. Auch gibt es Zeugnisse aus einer sehr späten Entwicklungsstufe. Über die aus dem Mittelalter überlieferte nordische Mythologie lassen sich einige Informationen destillieren, dabei ist aber Vorsicht geboten, weil die einzigen erzählenden Quellen – und nur diese verbinden Informationen zu Sinnzusammenhängen – aus einer späten Zeit kommen, die bereits christlich geprägt war. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob wir die Skandinavier des 10. Jahrhunderts, auf die die isländische Überlieferung des 13. Jahrhunderts sich beruft, noch im gleichen Sinne als „Germanen“ angesprochen werden können, wie die Cherusker und Semnonen des 1. Jahrhunderts.
Warum ist Kult und Religion der Germanen noch heute ein wichtiges Thema, was können wir davon lernen?
Zum einen fasziniert der Komplex Religion, als Kern kultureller Traditionen, uns in einem kulturgeschichtlichen Kontext ganz allgemein, wie man an den großen Ausstellungen auch zu außereuropäischen Kulturen und deren Religionen (etwa die der Maya und Azteken) und dem Publikumserfolg von den Dokumentarformaten des Fernsehens ersehen kann. Mit den Germanen verbinden wir darüber hinaus – und das ist vor allem rezeptionsgeschichtlich relevant, weniger faktisch belegbar – eine eigene Herkunftslegende. Zwar sind die Ideen von „unseren Vorfahren“, wie noch das 19. Jahrhundert die Germanen in nationalistischem Überschwang, gedacht hatte, nicht mehr ideologisch markiert, bilden aber doch einen Fond in den Trümmern des deutschen Nationalbewusstseins. In jedem Fall haben wir es bei den Germanen aber mit den Bewohnern des Gebietes (zumindest im Kern) zu tun, das heute den Nationalstaat Deutschland bildet. Aus heutiger Sicht dürften auch die Elemente der Fremdheit, die die Religion der Germanen im Vergleich zu unseren modernen Vorstellungen kennzeichnet, auf Interesse stoßen.
Auch Frau Holle erwähnen Sie, steckt ein bisschen Germanentum in dieser Märchengestalt?
Es gibt die nicht ganz unplausible Theorie, dass Frau Holle und zu ihrem Kreis gehörige Sagengestalten sich entwicklungsgeschichtlich auf germanische Gottheiten zurückführen lassen. Ich referiere im Buch diese These, ohne sie mir wirklich zu Eigen zu machen. Diese Märchenfigur und ihr möglicher (aber nicht beweiskräftig nachweisbarer) Ursprung in einer germanischen „Muttergottheit“ dienen mir eher dazu, auf die Gefahren esoterischer Vereinnahmungen pseudo-germanischer Traditionen hinzuweisen. Denn in der New-Age Bewegung, aber auch in seltsamen rechtsnationalen Zirkeln werden krude Ideen über ursprüngliche und dem Christentum überlegene genuin germanische religiöse Traditionen kolportiert, die sich auf Halbwissen und Phantasie stützen, leider aber auch bisweilen Ergebnisse ernsthafter Forschungen aus dem Zusammenhang gerissen in ihre „Lehren“ einbauen. Solange diese Esoteriker auf den Mittelaltermärkten bleiben, ist alles in Ordnung. Ich will sie nur nicht in Clausnitz oder Bautzen auf Demos sehen.
Was möchten Sie dem Leser noch sagen, bevor er ihr Buch aufschlägt?
Das heutige Bild der Germanen ist – auch in der Darstellung in diesem Buch – letztlich nur Resultat von Reproduktionsversuchen einer durch Rezeptionsfilter gesteuerten Annäherung. Was wir über sie und ihre Religion zu wissen meinen, resultiert aus Beobachtungen durch die Brille der Römer, und auch unsere modernen Vorstellungen von Religion, mit denen wir ganz selbstverständlich die Artefakte deuten, bestimmen unsere Interpretation der Verhältnisse vor 1500-2000 Jahren. Die Germanen sind immer „unsere“ Germanen, die mit denjenigen des Tacitus und des Caesar und denen des Cheruskerfürsten Arminius nur Schnittmengen gemein haben.
Ich danke Ihnen für Ihre Mühe und Zeit.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn.