Henning Börm hat kürzlich im Kohlhammer Verlag sein neues Buch Westrom. Von Honorius bis Justinian veröffentlicht. Zum Erscheinen führten wir ein kurzes Interview mit ihm.
Wie kommt man dazu, Alte Geschichte, also die Zeit Griechenland und Roms, zu studieren und zu unterrichten. Ein MINT-Fach zu studieren, scheint ja heute lukrativer zu sein als das Fach Geschichte?
Es geht beim Studium nicht um Lukrativität, es geht um Neugier und Leidenschaft. Geisteswissenschaften wie die Alte Geschichte gehören zur menschlichen Kultur. Genau wie Musik, Literatur und Theater sind sie für jede entwickelte Gesellschaft unverzichtbar, auch wenn sich mit ihnen in der Regel kein Geld verdienen lässt. Menschen wollen nun einmal wissen, was in der Vergangenheit geschehen ist und wie man sich einen Reim darauf machen kann. Das gilt natürlich insbesondere für so alte Fragen wie die nach dem Ende des Römischen Weltreichs.
Wie ließe sich denn die Geschichte Westroms in drei Schlagworten zusammenfassen?
Roms Macht beruhte auf Abschreckung nach Außen und Frieden im Inneren. Als im Westen Bürgerkriege ausbrachen, wurden die Grenzen instabil, und schließlich füllten reichsfremde Söldner die Lücke, die der Zerfall kaiserlicher Macht hinterließ.
Das Fach Alte Geschichte erscheint für manche Zeitgenossen heute nicht mehr relevant zu sein. Können wir denn für uns heute etwas aus der Geschichte Westroms lernen?
Insgesamt ist es aus Sicht eines Historikers schwierig, aus der Geschichte zu lernen, vor allem dann, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen sich so sehr von den heutigen unterscheiden. Das Römische Reich ist heutigen Europäern nicht wesentlich näher als ein Eingeborenenstamm auf Borneo, auch wenn es uns vielleicht so vorkommen mag. Es geht darum, im Fremden das Vertraute wiederzufinden. Es gelang den Führungseliten des spätantiken Imperiums nicht, ihre Einzelinteressen dem Wohl des Ganzen unterzuordnen; niemand gönnte seinen Rivalen und Feinden den Erfolg, und so gelang es nie, die Bürgerkriege dauerhaft beizulegen und das Imperium wieder zu stabilisieren. So allgemein formuliert, kann das Schicksal Westroms durchaus als mahnendes Beispiel dienen – für jede Gesellschaft.
In Zeiten der Europäischen Wirtschafts- und Staatsschuldenkrisen sind uns politische und wirtschaftliche Krisen vertraut geworden. Auch wir können nicht entscheiden, ob Staat und Gesellschaft nur eine Schwächeperiode erleben oder ein „Niedergang“ nach langer wirtschaftlicher Prosperität bevorsteht. Wie erlebten die Römer die Zeit Westroms und sind ihre Erfahrungen mit unseren vergleichbar?
Für einen Zeitgenossen der damaligen Ereignisse war das Chaos sicher kaum zu überschauen; es fällt auch im Rückblick schon schwer genug. Darum herrscht in der Forschung ja auch keine Einigkeit, wie die Vorgänge zu erklären sind; es gibt zum Beispiel hochangesehene Gelehrte, die dem äußeren Druck auf die römischen Grenzen ein viel größeres Gewicht beimessen wollen als ich (Stichwort: die Hunnen). Was die Menschen damals erlebten, war politische Instabilität höchsten Grades. Stets war mit dem Einfall plündernder Krieger – Römer, Söldner in römischen Diensten oder „Barbaren“, die die Schwäche Roms ausnutzten – zu rechnen, der Fernhandel wurde auf diese Weise empfindlich gestört. Kurzum: Die Vorgänge sind insofern nicht mit einer Eurokrise zu vergleichen, als der massive wirtschaftliche Niedergang, den Westrom erlebte, schlicht eine Folge der jahrzehntelangen Bürgerkriege war. Was im 5. Jahrhundert geschah, erinnert viel eher an den Dreißigjährigen Krieg als an eine Wirtschaftskrise in Friedenszeiten.
Neben Honorius und Justinian – die im Untertitel Ihres neuen Buches erwähnt werden – gibt es ja noch viele andere wichtige Charaktere in der Spätantike. Können Sie uns einen Mann oder Frau nennen, die Sie besonders gut oder gar nicht leiden können?
Eine besonders unsympathische Rolle spielen sicher die beiden Heermeister Flavius Constantius und Aetius. Beide sind militärisch recht erfolgreich gewesen, was ihnen die Bewunderung der Quellen und vieler moderner Historiker eingebracht hat; doch sie waren skrupellose Egoisten und Putschisten, „Militärdiktatoren“, die die Macht an sich rissen und damit die Position der legitimen kaiserlichen Regierung massiv schwächten – auch weil es diesen Gewaltherrschern nie gelang, allgemeine Anerkennung zu gewinnen, so dass die Bürgerkriege weitergingen. Unterschätzt wird hingegen meines Erachtens Kaiser Valentinian III. Er kam als kleines Kind auf den Thron und war jahrzehntelang bloß ein Spielball seiner Umgebung; mit 35 Jahren entschloss er sich dann, den übermächtigen Aetius zu töten, um sich selbst und dem Kaisertum wieder Macht und Handlungsfreiheit zu verschaffen. Er plante offensichtlich, wieder selbst die Kontrolle über Reich und Armee zu übernehmen und sich auf die Stadtbevölkerung von Rom zu stützen. Leider wurde er kurz darauf von den Freunden des getöteten Aetius ermordet, die ihre Entmachtung nicht hinnehmen wollten – sehr zum Schaden für das Westreich.
Noch eine letzte Frage, was möchten Sie dem Leser mitgeben, bevor er Ihr Buch aufschlägt und liest?
Man sollte sich von den vielen unbekannten Namen nicht abschrecken lassen. Die Geschichte des 5. Jahrhunderts ist genauso spannend – und kompliziert – wie Game of Thrones.
Für Ihre Zeit und Mühe bedanken wir uns sehr herzlich.
An der Universität Konstanz lehrt Dr. Henning Börm Alte Geschichte und forscht insbesondere zur Geschichte der Spätantike und des Hellenismus.
Das Interview führte Dr. Daniel Kuhn.