Zum Erscheinen des zweiten Bandes des „Kompendiums der akademischen Sprachtherapie und Logopädie“ haben wir ein Interview mit Herrn Professor Grohnfeldt geführt, Herausgeber aller vier Bände.
Herr Grohnfeldt, welche aktuellen Entwicklungen gibt es derzeit in den Fächern Sprachtherapie und Logopädie?
Von besonderer Bedeutung ist derzeit sicherlich die sogenannte Modell- oder Öffnungsklausel. Sie wurde am 26. Mai 2009 vom Deutschen Bundestag beschlossen. Danach sollen zeitlich befristete Ausbildungskonzepte auf Hochschulniveau für die Ergotherapie, Physiotherapie, Hebammenkunde und Logopädie zunächst bis zum Jahr 2017 erprobt werden. Jetzt erfolgte eine Verlängerung der Erprobungsphase bis zum 31.12.2021.
Dazu muss man wissen, dass Deutschland in dieser Hinsicht international die totale Ausnahme darstellt. Mengenmäßig im Vordergrund sind die nichtakademisch auf Fachschulniveau ausgebildeten Logopädinnen*, die überwiegend im Deutschen Bundesverband für Logopädie (dbl) verbandsmäßig organisiert sind. Daneben gibt es die akademischen Sprachtherapeutinnen, die vor allem im Deutschen Bundesverband der akademischen Sprachtherapeuten (dbs) organisiert sind und zahlenmäßig ca. 25 % der Logopädinnen ausmachen. – Unabhängig davon gibt es die Sprachheillehrerinnen, die in der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik (dgs) organisiert sind und zahlenmäßig auf ca. 20 % der Logopädinnen/akademischen Sprachtherapeutinnen insgesamt kommen.
Worin sehen Sie die Vorteile einer akademischen Verankerung und Ausbildung in diesen Fächern?
Die Anforderungen des Fachgebietes sind in den letzten Jahren sowohl in der Diagnose wie Therapie der betreffenden Personenkreise erheblich gestiegen. In besonderem Maße betrifft dies neurologisch bedingte Sprach-, Sprech- und Schluckstörungen (Aphasien, Dysarthrien, Sprechapraxie, Dysphagie). Ebenso ist eine vertiefte theorie-praxisorientierte Ausbildung für eine Grundlagenforschung auf diesem Gebiet zwingend notwendig. Die Akademisierung großer Teile der Logopädie in Deutschland ist lange überfällig, um an den internationalen Standard vor allem aus dem angloamerikanischen Raum Anschluss zu gewinnen.
Wie weit ist die Akademisierung gediehen? Wo liegen aktuell die Herausforderungen?
Derzeit gibt es neun Universitäten, an denen akademische Sprachtherapeutinnen auf Bachelor- bzw. Masterniveau studieren. Nach dem Beschluss der Modellklausel ist die Anzahl der Fachhochschulen für logopädische Studiengänge geradezu sprunghaft auf 18 angestiegen. Gleichzeitig ist aber auch die Anzahl der Fachschulen in den letzten Jahren von 90 auf aktuell 105 angestiegen, so dass der Anteil der Nichtakademikerinnen zu den Akademikerinnen weiterhin ca. 80 zu 20 % beträgt. – Die Herausforderung besteht darin, was mit den vielen Logopädinnen in Deutschland passiert, die derzeit überwiegend gute Arbeit leisten, aber keine akademische Ausbildung haben.
Was bedeutet diese Entwicklung für Sprachtherapeutinnen und Logopäden?
Es besteht ein prinzipielles Dilemma. Zweifelsfrei bedeutet eine akademische Ausbildung eine Verbesserung der Qualität, die nicht zuletzt auch den betroffenen sprachgestörten Menschen zugutekommt. Andererseits möchte niemand den derzeitigen Logopädinnen ihre praktische Qualifikation absprechen. Es besteht die Gefahr der „Zwei-Klassen-Logopädie“. Dies bezieht sich auch auf das Gehalt bzw. mit den Krankenkassen abgerechnete Honorar, das sich derzeit auch für akademische Sprachtherapeutinnen am Gehalt der Fachschulabsolventinnen orientiert und damit viel zu niedrig ist. Ebenso betrifft es den Vergleich mit den beamteten und nach A13 sehr viel besser besoldeten Sprachheillehrerinnen.
Welchen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang das „Kompendium der akademischen Sprachtherapie und Logopädie“?
Die Herausgabe dieses vierbändigen Grundlagenwerkes dient bei einer hohen Theorie- und Praxisorientierung der fachlichen Absicherung der beteiligten Berufsgruppen und Wissenschaftsdisziplinen. Es vermag damit auch der Akademisierung der Logopädie entscheidende Argumente zu liefern.
* Da ca. 90–95 % der Berufsgruppen Frauen sind, wird die weibliche Form verwendet. Natürlich sind dabei Männer miteingeschlossen.