Anlässlich des Erscheinens seines neuen Buches „Herausforderung Alter“ haben wir mit dem Autor und Gerontologen Herrn Dr. Leser über ein Thema gesprochen, das uns alle betrifft.
- Lieber Herr Leser, Ihr neues Buch trägt den Titel „Herausforderung Alter“. Worin besteht die „Herausforderung“ und für wen?
Die Herausforderungen bestehen für uns alle. Zum einen besteht ein menschlicher Abwehrreflex dem Alter und vor allem dem hohen und gebrechlichen Alter gegenüber. Natürlich wollen wir alle möglichst lange leben und älter werden, aber nicht gebrechlich und krank. Da schiebt man das Alter gerne vor sich her. Und darin besteht eine der größten Herausforderungen. Wenn wichtige Fragen des eigenen Älterwerdens nicht besprochen werden, wenn Entscheidungen nicht getroffen werden – aus welchen Gründen auch immer – wenn das Alter tabuisiert wird, steht oft am Lebensende statt der meist gewünschten Selbstbestimmung eine Fremdbestimmung durch andere.
Hinzu kommt, dass wir heute gesellschaftlich in einer durchökonomisierten Zeit leben. Es geht um Kosten, um Sparen und Umverteilungen. In diesem Spiel haben ältere und hochbetagte Menschen oftmals keinen Platz mehr. Eine der größten Herausforderungen ist, den älteren Menschen den Platz in unserer Gesellschaft zu geben, der ihnen auch zusteht. Auch und gerade, wenn sie nicht mehr produktiv sind. Die Formel, wer nicht mehr arbeitet, bringt der Gesellschaft nichts mehr, ist falsch und muss in einer immer älter werdenden Gesellschaft eliminiert werden.
- In der Gerontologie wurde der defizitäre Blickwinkel auf das Alter schon vor langer Zeit von einem sogenannten Kompetenzmodell abgelöst. Was ist damit gemeint und vor allem: Wie sieht es mit der Umsetzung der zugrundeliegenden theoretischen Annahmen aus – gelingt diese in der Praxis?
Leider nicht immer. Aus der gerontologischen Theorie wissen wir vieles schon seit den frühen 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Noch immer herrscht heute ein defizitärer Blickwinkel auf das Alter vor. Das ist eine veraltete Sichtweise. Das von Ihnen erwähnte Kompetenzmodell sagt aus, dass wir den Blick auf die Ressourcen des älter werdenden Menschen richten müssen. Auch wenn diese weniger werden, so kann der Mensch vielfach auf verbleibende Ressourcen zurückgreifen. Wer immer nur die Defizite sieht, wird der Vielfalt des Alters nicht gerecht.
Der Gerontologe Paul Baltes hat schon Anfang der 70er Jahre gesagt, dass es beim Älterwerden darauf ankommt, ob man auch dazu bereit ist, den bisherigen Status Quo zu verändern. Und genau hier hapert es in Politik und Gesellschaft. Und so bleiben Vorhaben oder Ideen oftmals in finanzpolitischen Diskussionen stecken, ohne dass konkrete Veränderungen sichtbar werden. Der Prozess des Alterns ist aber ohne Veränderungen nicht zu haben.
- Vor welchen Aufgaben stehen Alterspflege-Institutionen in Zukunft und welche aktuellen Trends im Altersbereich bieten Ihrer Meinung nach das größte Potenzial?
Einer der großen Trends ist, dass wir künftig vermehrt in interprofessionellen Bezügen im gesamten Sozial- und Lebensraum des älteren Menschen denken müssen. Es wird nicht mehr alleine gehen. Bedarfsgerechte Begleitung und Versorgung heißt, dass wir gemeinsam mit anderen die künftige Entwicklung gestalten müssen. Wir brauchen nicht nur einfach neue Gebäude oder Pflegebetten, wir brauchen vor allem neue und bedarfsgerechte Angebote für die unterschiedlichsten Gruppen von älteren Menschen. Die Menschen werden älter, das wissen wir – die Kehrseite davon ist, dass auch die Multimorbidität und die spezifischen Bedürfnisse im hohen und höchsten Alter zunehmen werden. Spezifische Bedürfnisse benötigen aber auch spezifische Angebote. Gerade Alterspflege-Institutionen werden sich in Zukunft vermehrt überlegen müssen, mit welchen Dienstleistungsangeboten sie sich positionieren wollen. In der Branche der Pflegeinstitutionen werden wir an einer Veränderung in Richtung Serviceanbieter nicht herumkommen. Das hat auch viel mit der neuen Babyboomer-Generation zu tun, zu welcher ich auch gehöre. Meine Großmutter hatte ganz andere Vorstellungen vom Alter und ganz andere Bedürfnisse als ich sie habe. Die Altenpflegeinstitutionen werden sich auf die neue Generation einstellen müssen.
- Sehen Sie Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland? Gibt es Bereiche oder Entwicklungen, bei denen die beiden Länder voneinander lernen könnten?
Da sehe ich großes Synergienpotential. Nach meiner Beobachtung ist die gerontologische Forschung in Deutschland ausgeprägter als in der Schweiz. Hierzulande gibt es noch immer keinen Lehrstuhl für Gerontologie an einer Universität. In Deutschland gibt es dies schon seit den 80er Jahren. In der Schweiz erlebe ich dafür die praxisnahe Umsetzung vieler Projekte als schneller als in Deutschland. Forschungsvorhaben nützen niemanden, wenn sie nicht praktisch fundiert in den Alltag der Fachpersonen einfließen können. Die beiden Länder haben hier unterschiedliche Herangehensweisen und können deshalb hier gerade voneinander profitieren. Hinderlich für eine gemeinsame Entwicklung sind sicherlich die politischen Rahmenbedingungen, die sich teilweise stark voneinander unterscheiden. Und erschwerend kommt in der Schweiz hinzu, dass die föderalistische Staatsstruktur vielfach ein koordiniertes und einheitliches Vorgehen bei der Suche nach Lösungen verhindert. Das aber ist für mich gerade der Anreiz dafür, dass gerontologische Fachpersonen beider Länder vermehrt zusammenarbeiten sollten, um gesamtgesellschaftliche wie auch individuelle Lösungsvorschläge für ein Alter und ein Altern mit höchster Lebensqualität zu schaffen.
- In Ihrem Buch skizzieren Sie das „Wohn- und Pflegemodell 2030“. Wie sieht Ihre Vision für ein gelungenes, selbstbestimmtes Alter(n) aus?
Selbstbestimmtes Alter ist für mich dann erreicht, wenn ich ein Angebot und eine Begleitung zur Verfügung habe, die in der Lage sind, meine Bedürfnisse entsprechend abzudecken. Es gilt ja nicht nur das Wohnen „in den eigenen vier Wänden“ zu sichern, sondern die soziale Teilhabe in meinem gesamten Lebensraum. Und da gehören viele dazu: die verschiedenen Professionen, die freiwilligen HelferInnen, die Nachbarschaft, meine Angehörigen. Wie oben erwähnt, ist das ein ganzes Orchester. Und wenn dieses harmonisch tönt, kann ich auch selbstbestimmt mitspielen.
Selbstbestimmung setzt aber auch immer voraus, dass ich entscheiden kann und will. Aufgrund der Tabuisierung des Alters und vor allem des Lebensendes erlebe ich immer wieder, dass wichtige Entscheidungen verpasst oder nicht getroffen werden. Dann müssen andere über mich entscheiden, was aus meiner Sicht das Gegenteil von Selbstbestimmung ist.
- An welchen „Stellschrauben“ muss Ihres Erachtens dringend gedreht werden, damit diese oder eine ähnliche Vision wahr werden kann?
Eine der größten „Stellschrauben“ ist, dass wir es schaffen, dass Alter und Altern, vor allem die Phase des vierten Lebensalters, einen Stellenwert in unserer Gesellschaft bekommt und genauso als eine wertvolle Lebensphase angesehen wird, wie jede andere auch. Das muss selbstverständlicher werden, gerade auch, weil diese Lebensphase dem Lebensende so nahe ist. Wenn etwas zu Ende geht, sollte es allmählich auch seinen höchsten Wert erreicht haben.
- Älter werden wir alle – welchen Rat können Sie uns mit auf den Weg geben, damit uns dies ohne Angst, sondern mit Gelassenheit gelingt?
Ich erlebe ältere Menschen, von denen wir oft viel lernen können, vor allem dann als gelassen, wenn es ihnen gelungen ist, ihr bisheriges Leben zu reflektieren und anzuerkennen, dass Leben endlich ist. Dann ist ein unaufgeregtes Älterwerden möglich, ohne dass man sich in irgendwelchen Anti-Aging- Aktivitäten verstrickt. Es ist die Grundhaltung eines Pro-Aging, eines in die Zukunft gerichteten Blickes. Vor diesem Hintergrund gelingt es oft, die eigene Vergangenheit „aufzuräumen“, loszulassen und sich die noch offenen Wünsche zu erfüllen. Dieser innere Reichtum ist eine Basis für gelingendes Altern.
- Wir bedanken uns recht herzlich für Ihre Zeit und Mühe!
Das Interview führte Annika Grupp.