Nicht nur als Beitrag zum Reformationsjubiläum hat das Autorenduo Petra Roedenbeck-Wachsmann und Bernd Vogel ein „Werkbuch Paulus“ verfasst. Der Band, der sich für Schule und Erwachsenenarbeit gleichermaßen eignet, geht den Spuren des Völkerapostels nach, den die beiden als „radikalen Reformator“ neu entdecken: relevant für die Gegenwart, auch über Konfessions- und Religionsgrenzen hinweg.
Paulus schrieb seine Briefe vor fast 2.000 Jahren, als jüdischer Gelehrter im Römischen Reich. Warum meinen Sie, dass gerade diese Texte aus einer ganz anderen Zeit heute wieder aktuell sind?
Bernd Vogel: Paulus war mir vom Theologiestudium her bekannt. Allzu bekannt, wie sich herausstellte. Ich wollte und habe ihn mit Spannung neu gelesen. Zunächst liegt seine Aktualität – überraschenderweise – in seinem Schreibstil. Da wird nicht zeitlose Wahrheit verkündigt, sondern immer neu ein Vorschlag gemacht, wie die Leser und Zuhörer die Tiefe ihres eigenen Lebens neu verstehen könnten.
Petra Roedenbeck-Wachsmann: Mir hat sich Paulus zunächst als prüder Frauenverächter vorgestellt. Außerdem waren mir die immer wieder neu im Gottesdienst gehörten und gelegentlich in Predigten ausgelegten Worte eher unverstanden geblieben, insbesondere die Passagen über die Gerechtigkeit Gottes schienen mir nicht überzeugend ausgelegt. Allerdings: Was mich zur Auseinandersetzung mit der christlichen Religion getrieben hatte, war und ist meine Lebensfrage nach einer „Gerechtigkeit“ (deswegen u. a. bin ich Juristin geworden) auch und in der Gottesfrage in Ansehung der Shoa. Da hab ich im Gespräch mit diesem Paulus doch vieles neu entdecken können.
Insbesondere der Mensch Paulus, der sich mir neu als selbstbewusster Jude vorgestellt hat, der es eigentlich gar nicht nötig hatte, sich verunsichern und neu ausrichten zu lassen von dem Christus, hat mich überzeugt. Aktuell ist für mich sein unbedingtes Streben nach Inklusion, um derentwillen er eigene für ihn selbst komfortable Lebensvorteile aufs Spiel setzt, und auch, dass Paulus eher keine Dogmatik entwickelt, sondern immer wieder neu um die Wahrheit kreist.
Biblische Texte, zu denen auch die paulinischen Briefe gehören, erscheinen Schülern oft unverständlich, schon allein von der Sprache her. Welche Tipps können Sie den Lehrkräften da geben?
Petra Roedenbeck-Wachsmann: Ich habe mit Schülerinnen und Schülern ja eher wenig zu tun. Allenfalls kann ich da als Mutter von drei – nun schon erwachsenen – Kindern und als Großmutter dreier noch nicht schulpflichtiger Enkel antworten. Ich weiß und erfahre es nun wieder neu, dass Kinder mehr verstehen, als wir oft ahnen. Sprache ist ein Schlüssel, kein Hindernis: Es geht um ein Hineingehen in die Texte, auch in ihre Bilderwelt, die selbst in den angeblich eher abstrakten Paulusbriefen zu entdecken ist. Es sind durchaus drastische Bilder wie das Bild vom Kreuz, provozierend und herausfordernd. Mein Enkel (3 Jahre) fragt mich z. B. zum Thema Auferstehung: „…hat Gott denn einen Schraubenzieher?“ – drastischer geht eigentlich nicht.
Bernd Vogel: Was dein Enkel seinem Stand der Entwicklung entsprechend tut, können auch Schüler und Erwachsene. Wir sollten gerade als Lehrer und Lehrerinnen das Vertrauen aufbringen, dass die Texte zu sprechen beginnen, die Sprachbilder, die Paulus verwendet, sobald eine Schülergruppe sich ihnen aussetzt, eine Gruppe sie inszeniert und sich dabei selbst mit ins Spiel bringt.
Paulus gilt leider auch in den Kirchengemeinden als Angelegenheit für die Fachleute, für Theologen und Theologinnen, die dann – so die Erwartung – mit fertigen Begriffen jonglieren. Ich halte das für einen Bildungsskandal in der Kirche des 21. Jahrhunderts (gleich welcher Konfession). Es kann doch nicht sein, dass unsere Kultur den Zugang zur im besten Sinne anspruchsvollen, auch intellektuellen Seite des christlichen Glaubens verliert und in der Kirche die Auseinandersetzung mit schwierigen Bibeltexten unterlassen wird, weil sie angeblich niemand mehr versteht! Wir können doch nicht die Theologen der frühen Kirche, Luther, Paulus usw. nur noch – etwa im Schulunterricht – auf der historischen Ebene ‚vermitteln‘, etwa davon reden, Luther habe den Ablass abgeschafft. Ja und? Was bedeutet das denn heute? Menschen sollen und können auf Augenhöhe mit diesen und anderen Geistesgrößen in ein Gespräch kommen.
Luther hat lange um die Interpretation des Römerbriefs gerungen und daraus schließlich seine Rechtfertigungslehre entwickelt. Sie haben seine Argumentation mit neueren Paulus-Interpretationen konfrontiert. Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?
Bernd Vogel: Luther ging es um persönliche Heilsgewissheit, auf der psychischen Ebene um das Gefühl von Vertrauen in einen verlässlich ihn grenzenlos liebenden Gott. Die meisten meiner Schüler und Schülerinnen teilen aber Luthers Angst vor einem Strafgericht Gottes nicht. Dass sich jemand für andere opfert, das kennen viele z. B. aus den Hollywoodfilmen, hat aber für die meisten nichts mehr mit einem göttlichen Sühnegeschehen zu tun. Da geht es immer um den Einsatz des eigenen Lebens direkt für andere. Die Instanz eines Gottes kommt nicht mehr vor. Wem Jesu Tod am Kreuz, Gottes Gericht am Jüngsten Tag und möglicherweise auch noch die Frage von Fegefeuer, Himmel und Hölle wichtig ist, hat auch dafür heute gedankliche Lösungen parat, die Luther nicht gekannt hätte. Manche kombinieren biblische Motive mit asiatischem Denken oder finden sich im Kino z. B. von: „Möge die Macht mit dir sein“ (Star Wars) angesprochen.
Man spricht auch vom liebenden Gott meistens ohne Luthers abgründige Angst oder auch ohne Angst vor der Kirche. Zum Glück ja auch! Psychische Konflikte werden mit Freunden besprochen oder therapeutisch bearbeitet, wenn es auch bedauerlich ist, dass Seelsorge und Beichte dagegen zu Unrecht wenig gelten. Von der Sache her müsste das nicht sein! Und vielen Menschen heute ist wichtig, dass es beim christlichen Glauben um Hoffnung für diese Zeit und Welt geht. Um es überspitzt zu sagen: Luther lebte als Person sehr ‚diesseitig‘ (um einen Begriff Dietrich Bonhoeffers zu gebrauchen), dachte aber doch aus dieser Welt hinaus in den ‚Himmel‘ hinein. Das war sein Fokus. Paulus sehnte sich danach, dass Christus wiederkommt auf den Wolken des Himmels; und doch zielen seine Briefe ganz und gar auf die Transformation von Verhalten, auf Lebenserneuerung ‚in Christus‘, d. h. hier und heute. Das macht ihn spannend für uns heute.
Petra Roedenbeck-Wachsmann: Luthers „Rechtfertigungslehre“ ist eine Sicht auf die Dinge. Das Problem gerade in evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden ist doch, dass diese Paulusinterpretation ironischerweise zum Gesetz geronnen ist. So habe ich es jedenfalls erlebt. In der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, um die es ja dabei auch wesentlich geht – selbst wenn es vielen in den Kirchengemeinden heute noch immer vor allem um das eigene Seelenheil zu tun ist – ist ja , so meine ich, auch bei Paulus die Frage nach einer Selbstrechtfertigung Gottes verborgen.
Für mich liegt die große Stärke in den Grundgedanken Luthers darin, dass das Individuum selbstbewusst und aufrecht vor einem Gott zu stehen kommt, keiner Vermittlungsinstanz mehr bedarf. Letztlich hat Luther – auch wenn dies von vielen bestritten wird – die Aufklärung eingeläutet: ein Mündigwerden des Menschen vor Gott und der Welt.
Bei Paulus lese ich aber noch mehr: Paulus rechnet mit einer weltverändernden Potenz dieses Gottes in Christus: Nicht nur der glaubende Mensch ist hineingenommen in eine Lebensneue, sondern Gott selbst bringt sich mit diesem Christus in das Spiel und in den Ernst der Welt, in gnadenloser Gnade.
Bernd Vogel: Meinst du wirklich gnadenlos oder nicht eher grenzenlos?
Petra Roedenbeck-Wachsmann: Nein, ich meine schon „gnadenlos“ in der ganzen Widersprüchlichkeit auch einer paulinischen Diktion: gnadenlose Gnade im Sinne von: unbestechlich, sich nachhaltig und in Treue zum Menschen durchsetzend, gegen alle Widerstände und Widersinnigkeiten der Welt.
Zum Schluss: Wenn Sie einen Satz von Paulus aussuchen müssten, welchen würden Sie wählen?
Petra Roedenbeck-Wachsmann: „Lass dir an meiner Gnade genügen: Meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung.“ (2 Kor 12,9)
Bernd Vogel: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ (Galater 5,1)
Wir danken Ihnen sehr für das Interview, Ihre Zeit und Mühe.
Das Interview führte Florian Specker.
Artikel- und Umschlagabbildung:
Caravaggio, Die Bekehrung des Saulus, 1600, Cerasi-Kapelle in der Kirche S. Maria del Popolo, Rom