Anlässlich des Erscheinens des Werkes „Interkulturelle Theologie und Kulturwissenschaft“ führten wir mit der Autorin Dr. theol. habil. Claudia Jahnel das folgende schriftliche Interview.
Dr. Claudia Jahnel wurde von der Friedrich Alexander Universität Erlangen im Rahmen des Dies Academicus mit dem Habilitationspreis ausgezeichnet (ein kurzes Video dazu ist am Ende des Beitrags zu sehen).
Kann man sagen, dass sich unsere Erwartung an eine Interkulturelle Theologie in den letzten Jahren gewandelt hat?
Der Berliner Religions- und Missionswissenschaftler Andreas Feldtkeller hat auf einem Symposium der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft 2013 die Frage gestellt, ob die Interkulturelle Theologie nicht doch eher eine „weitgehend auf Europa beschränkte Vermittlungswissenschaft geblieben ist“. Dahinter steht die eminent kritische Anfrage, ob Theologien aus dem so genannten globalen Süden in Ländern des globalen Nordens überhaupt rezipiert und als relevant betrachtet werden. Wenn man sich die Titel der Veröffentlichungen des indischen Theologen Sugirtharajah ansieht – „Voices from the Margins“ (2006) und „Still at the Margins“ (2008) –, dann fällt die Antwort negativ aus. Gleichwohl behauptet die für die Begründung der Interkulturellen Theologie zentrale Erklärung „Missionswissenschaft als Interkulturelle Theologie und ihr Verhältnis zur Religionswissenschaft“, dass „der Missionswissenschaft im Laufe ihrer Geschichte vielfältige Aufgaben für das Ganze der Theologie zugewachsen sind, die ihr den Charakter einer ‚Interkulturellen Theologie‘ geben“ und das Fach Missionswissenschaft/Interkulturelle Theologie als eigenständige theologische Disziplin begründen. Von ihrem Selbstverständnis her ist die Interkulturelle Theologie also keinesfalls lediglich eine Vermittlungswissenschaft, sondern kritische theologische Wissenschaft, die immer wieder auch den Universalitätsanspruch und die Begrenztheit westlicher Theologie infrage stellt. Das „Inter“ hat etwas Beunruhigendes, vielleicht auch etwas Anstößiges, in jedem Fall ist es kritisch und produktiv. Wir leben heute zwar alle irgendwie im Modus der Interkulturalität, insofern als es für viele von uns ein leichtes ist, virtuell oder reell in andere Kulturen zu „reisen“ oder eine cross-kulturelle Küche zu genießen. Trotzdem stoßen wir an Grenzen – des Verstehens, der Vermittlung, der Kommunikation oder gar unserer Toleranz.
Interkulturelle Theologie hatte für manche VertreterInnen des Fachs lange das Ziel, das „Verstehen des Fremden“ zu fördern, und war hier in der Tat so etwas wie eine Vermittlungswissenschaft. Die postkoloniale (theologische) Kritik und die Einsichten der neueren Kulturwissenschaften (cultural turns) beeinflussen aber die wissenschaftstheoretische und methodische Reflexion des Fachs. Sie haben die selbstkritische Reflexion der Produktion von Wissen über Kulturen, transkulturelle Verflechtungen und damit nicht zuletzt auch die Machtbeziehungen ins Zentrum der Interkulturellen Theologie gerückt. Zur Erforschung der Phänomene ist ein interdisziplinärer und multiperspektivischer Zugang unabdingbar, der aber auch in vielen anderen theologischen Disziplinen längst Einzug gehalten hat.
Welchen Einfluss hat der kulturtheoretische Wandel innerhalb der Theologie?
Die Einbindung kulturwissenschaftlicher Perspektiven in die Theologie ist an sich noch nicht neu. Einer der renommiertesten Grenzgänger zwischen Theologie und Kultur war Ernst Troeltsch, für den die umwälzenden Veränderungen der Neuzeit mit der Notwendigkeit einer theologischen Reflexion dieser massiven kulturellen Veränderungen verbunden waren. Die rasanten Globalisierungsprozesse heute fordern die Theologie erneut dazu heraus, Gesellschaft, Kultur und Politik theologisch zu reflektieren – und dazu bedarf sie besonders der Einsichten und der Kooperation mit anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Der Wandel von einer Orientierung an den Geisteswissenschaften hin zu einer stärkeren Betonung kulturwissenschaftlicher Ansätze birgt einen kritischen und selbstkritischen Impuls für die Theologie: Das, was von der Theologie als universale Wahrheit behauptet wird, wird geerdet und einer komplexitätssteigernden Perspektive prüfend unterworfen. Theologie und theologische „Richtigkeiten“, aber auch „Häresien“, sind immer „vernäht“, wie Homi Bhabha es nennt, mit kulturellen Wissenssystemen. Letztlich ist jede Theologie Interkulturelle Theologie: Theologie, die aufs engste verflochten ist mit Kulturdiskursen. Denken Sie nur an die Verflechtungen mit kanaanäischen Kultvorstellungen im Alten Testament oder die Auseinandersetzung mit dem griechischen Pantheon im Neuen Testament.
Das bedeutet aber nicht, dass Theologie „nur“ zu einer beschreibenden Wissenschaft wird. Sie betreibt nicht nur „Theologiewahrnehmung“, sondern gerade in dieser kritischen Wahrnehmung auch „Theologiebildung“, das heißt: Sie hat auch eine orientierende und in diesem Sinn kritisch-normative Aufgabe. Ich versuche in meiner Studie einen Weg zu zeigen, der über simple Konstatierungen von „richtig“ oder „falsch“ hinausgeht. Wahrheit – und die Suche danach steht ja im Zentrum nicht exklusiv nur, aber eben auch der Theologie – ist ein mehrdimensionales, prozesshaftes und beziehungsorientiertes Phänomen. Meine Studie weiß sich gerade in ihrer Konzentration auf diskursive Machtstrukturen der Suche nach Wahrheit verpflichtet. Wenn dabei rauskommt, dass die Frage, ob Homosexualität zu Afrika oder zum christlichen Glauben in Afrika passt, nicht mit Ja oder Nein zu beantworten ist, sondern sehr viel differenzierter betrachtet werden muss, dann ist das ein Schritt auf dem Weg zur Wahrheit. Zur Wahrheit gehört dann auch das Aushalten von Ambivalenzen und Ambiguitäten.
Warum haben Sie gerade afrikanische Theologie in den Mittelpunkt Ihrer Untersuchung gestellt?
Im Bereich der afrikanischen Theologie bündeln sich wie in einer Linse die vielfältigen Afrikadiskurse, also alle jene machtvollen Bilder, die Ethnologen, Missionare, Kolonialbeamte, aber auch Philosophen wie beispielsweise kein geringerer als Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte von Afrika entworfen haben. Afrika wurde als das „andere“ von Europa erfunden, als Kontrastfolie, von der sich Europa als Kontinent der Vernunft, der Aufklärung und der Entwicklung abhob. Diese Bilder haben in vielfältiger Weise Eingang gefunden in afrikanische Theologien. Wenn afrikanische TheologInnen beispielsweise den Gemeinschaftsaspekt afrikanischer Kulturen betonen – berühmt geworden ist das Diktum „Ich bin, weil wir sind“ – oder hervorheben, dass Afrikaner ein ganz anderes Zeitverständnis haben als Europäer – nicht so viel Zukunft, mehr Vergangenheit –, dann zeigen sich darin eben die genannten europäischen Wissensdiskurse, die Afrika in „illo tempore“ zurückverlagern. Gleichzeitig werden diese Diskurse natürlich verflochten, neu interpretiert, subversiv oder offen verändert, machtvoll umgedeutet. Anders gesagt: Diese Diskurse sind keinesfalls statisch. Es wird vielmehr immer wieder neu ausgehandelt, wer die Deutungsmacht hat. Dem Ausdruck „agency“, der von afrikanischen Theologen heute vehement eingefordert wird, kommt hier besondere Bedeutung zu.
Sie sagen, dass der Gegenstand Ihres Buches die Konstruiertheit afrikanischer Theologie beleuchtet an kulturellen Phänomenen ist. Was verstehen Sie unter „Konstruiertheit“?
Von dem Religionswissenschaftler Jonathan Z. Smith stammt ein Satz, der das, was ich mit der Konstruiertheit afrikanischer Theologie meine, sehr gut zum Ausdruck bringt. „The study of religion is by no means an innocent endeavour“. So wie die Kategorie Religion ein westliches Konstrukt ist, eine Brille, die Beobachtungen und Wahrnehmungen anderer Kulturen in bestimmte Richtungen gelenkt hat und Religionen wie etwa „den? Buddhismus erst geschaffen hat, so bestand und besteht afrikanische Theologie nicht einfach, sondern ist das Produkt von Selbst- und Fremddefinitionen – und dieser Prozess ist keinesfalls „unschuldig“, also interessenfrei oder frei von leitenden Perspektiven, Vorannahmen und Wissenskategorien. Schon „Afrika“ ist ein Konstrukt, eine Erfindung, eine mythische Größe, eine politische Aussage. Das bedeutet nicht, dass es nicht hin und wieder nötig ist, von „afrikanischer Theologie“ zu sprechen oder eine solche zu konstruieren und damit etwa einen essentialistischen Gegenentwurf zu schreiben, der all den Demütigungen, Entwürdigungen, Verletzungen und Vernichtungen, die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent erlebt haben und noch erleben, entgegenzuwirken. Gayatri Spivak nennt dies bekanntlich einen strategischen Essentialismus, der politisch notwendig sein kann, wo Menschen anhaltend marginalisiert und ihre Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen eingeschränkt wird.
Eine „afrikanische Theologie“ zu konstruieren folgt – fern der Unschuld – Interessen, wobei die Interessen durchaus unterschiedlich und sogar konträr sein können, je nach dem, wer der Autor oder die Autorin ist. Ich möchte ein Beispiel geben: Es gibt einige Theologen, die gegen eine westliche Überfremdung afrikanischer Kultur in ihren Theologien afrikanischen Mythen, Spruchweisheiten, Erzählungen, Riten und Sitten besondere Bedeutung beimessen. Feministische Theologinnen aus Afrika kritisieren nun – in einem spannenden Spagat –, dass diese Mythen und Traditionen revidiert werden müssen, denn sie fördern die Unterdrückung der Frau; zwar müsse afrikanische Theologie diese ursprünglich mündlichen Überlieferungen aufnehmen, aber eben nicht unkritisch. Weder diese Traditionen noch eine darauf aufbauende Theologie ist „unschuldig“ – genau diese und andere kritisch-aufdeckenden Perspektiven versucht die Rede von der „Konstruiertheit“ afrikanischer Theologie deutlich zu machen.
Warum haben Sie sich für die Begriffe „Zeit“, „Raum“, „Körper“ und „agency“ entschieden?
Die Themen Zeit, Raum, Körper und Agency (Handlungsmacht) markieren zentrale Debatten innerhalb der kulturwissenschaftlichen Diskussion und sind zugleich Themen, die im afrikanischen Kulturdiskurs und im Diskurs über afrikanische Theologie eine zentrale und oft kontroverse Rolle gespielt haben und spielen. Es sind Themen, die in der Konstruktion von Kultur mit Bedeutungen versehen werden und so den Orientierungsrahmen für das individuelle und gesellschaftliche Leben und Handeln darstellen. Diese Bedeutungszuweisungen sind natürlich wieder nicht „unschuldig“. Ihnen liegen vielmehr bestimmte autoritative Denkstrukturen zugrunde. Die Gesamtheit und das Zusammenspiel dieser kategorialen Bedeutungszuweisungen – über Raum, Zeit oder Körper – generiert und legitimiert bestimmte Bilder von Kultur. Lassen Sie mich auch hier ein Beispiel geben, und zwar für die Kritik an kolonialen und missionarischen Raum-Bildern des 19. Jahrhunderts: Die postkoloniale Neutestamentlerin Musa Dube aus Botswana zeigt, wie die Interpretation des „Wortes“ aus dem 1. Kapitel des Johannesevangeliums, das „nicht bei uns wohnte“, also quasi extraterrestrisch war, dann aber in die Welt kommt, zur Legitimation und gleichzeitig zur theologischen Überhöhung der Mission sowie zur Abwertung des weltlichen Raums – Territorien in Afrika – führte, die dann einfach besetzt werden konnten. Die Tatsache, dass in den Ländern Afrikas bereits Menschen mit ihren eigenen Kulturen und Religionen lebten, wurde schlicht ignoriert. Diese theologische Reflexion speist sich nicht nur aus aktuellen kulturwissenschaftlichen Theoriediskursen über Territorialität, Grenzen, Allotopie, Ethnoscapes usw., sondern zeigt auch, welchen wichtigen und höchst aktuellen Beitrag Theologie in dem Konzert kulturwissenschaftlicher Analysen leisten kann.
Wir danken Ihnen für Ihre Mühe und Ihre Zeit.
Das Interview führte Julia Zubcic.
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