Anlässlich des Erscheinens des Werkes „Alle Angst vor der Zukunft überwunden“ führten wir mit dem Autor Bernd Vogel das folgende Gespräch:
Herr Vogel, Sie wollen „ins Gespräch mit Dietrich Bonhoeffer“ führen. Wie haben Sie selbst zu Bonhoeffer gefunden?
Mit 17 Jahren begegnete mir Dietrich Bonhoeffer zum ersten Mal. Das war in der 12. Klasse im Herzog-Ernst-Gymnasium in Uelzen. Mich hat die Faszination für diesen Menschen nie losgelassen. Wie kann ein Mensch sich derart weit in völlig offene Fragen hineintrauen, buchstäblich Himmel und Erde auf den springenden Punkt zu bringen versuchen?
War Dietrich Bonhoeffer also der Grund für Sie, Theologie zu studieren?
Eigentlich wollte ich dem geliebten Großvater nach Jurist werden, vielleicht in die Politik gehen. Andererseits interessierte mich das Theater und seine Möglichkeit, Menschen zu faszinieren und auch zu bilden. Doch mit Bonhoffer ging der Weg in die Theologie: erst in Erlangen, dann Göttingen, Heidelberg, Edinburgh und wieder Göttingen. Das sind ja eine Menge Studienorte! Ende der 70-er des letzten Jahrhunderts war das Theologiestudium noch nicht durch-modularisiert. Die Studierenden wechselten die Universität nach je anders angesagten Namen und theologischen Schulrichtungen. Das Studium war noch weitgehend frei von Praxisdruck. Man hatte Zeit zum freien Denken, Stöbern in Bibliotheken, Ausprobieren. Ich wünschte den heute Studierenden etwas davon zurück. Ich weiß noch aus eigener Anschauung, was es existenziell bedeutet, Theologie „und nichts als Theologie“ zu studieren, um ein berühmtes Diktum von Karl Barth zu zitieren, des maßgeblichen Theologen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Würden Sie sagen, dass Bonhoeffer in derselben „Liga“ spielt wie Barth?
M. E. ist Dietrich Bonhoeffer im weltweiten Maßstab und mehr noch als Barth, Bultmann und Tillich der maßgebliche deutschsprachige Theologe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geworden. Drei Generationen – und eben nicht nur Pastoren und Pastorinnen darunter – haben sich insbesondere mit Teilen seiner Briefe aus dem Gefängnis beschäftigt, in dem Bonhoeffer seit April 1943 auf Anklage und Verfahren warten musste und aus dem er bis zu seiner Ermordung am 9. April 1945 nicht mehr herauskommen sollte. Manche kennen „Von guten Mächten wunderbar geborgen …“. Es begegnen mir diese Zeilen auch bei Trauerfeiern und natürlich in Gottesdiensten rund um den Jahreswechsel. Andere rangen und ringen mit der Frage, wie das gehen soll, was Bonhoeffer andachte: Die „biblischen Begriffe“ „nicht-religiös“, ja „weltlich“ zu interpretieren, ohne dass dabei – wie bei Bultmann, meinte Bonhoeffer– nur noch ein gewisses Minimum von christlichem Glauben herauskommt, was der sogenannte moderne Mensch „noch“ meint „glauben“ zu können. Bonhoeffers Gefängnisbriefe atmen eine große geistige Weite, eine Bereitschaft zum gedanklichen Experiment bei gleichzeitig tief verwurzeltem persönlichen Glauben. Man kann sie auch dann lesen und vieles unmittelbar verstehen, wenn man keine Theologie studiert hat oder sich vielleicht auch nicht als Christ oder Christin versteht. Sie sind einfach im tiefsten Sinne „menschlich“, ein literarisches Menschheitszeugnis aus schwerer Zeit, darum heute wieder hoch aktuell.
Wie ging es dann nach dem Studium für Sie weiter?
Nach dem Studium war ich Gemeindepastor in Neuenkirchen bei Soltau in der Lüneburger Heide, dann in Gimte / Hann. Münden im Weserbergland. Danach wurde ich Hochschulpastor an der Universität Lüneburg und Schulpastor in einem Lüneburger Gymnasium und einer Integrierten Gesamtschule. Seit 2019 bin ich noch einmal Gemeindepastor auf einer Pfarrstelle in Jesteburg / Nordheide. Unterstützt von einem guten Kirchenvorstand und einem Team von Mitarbeitenden kann ich neben Gottesdienst, Seelsorge und Unterricht auch weiterhin evangelische Erwachsenenbildung auf Gemeinde- und auf Kirchenkreisebene anregen. Im Kirchenkreis Hittfeld haben wir anlässlich von Dietrich Bonhoeffers 75. Todestag ein „Jahr mit Dietrich Bonhoeffer“ geplant. In vielen Gemeinden gibt es unterschiedliche Angebote und Zugänge zur Thematik „Bonhoeffer und wir heute“.
Werden diese Veranstaltungen angenommen? Kennen normale Gemeindemitglieder heute noch Bonhoeffer?
Es ist beglückend zu erleben, dass Menschen mit Dietrich Bonhoeffer, einem vor ihrer Zeit gestorbenen Menschen, in ein „Gespräch“ kommen können: Bonhoeffer lockt durch seine Texte auch heute und heute ganz neu in Gespräche, bei denen die Beteiligten sich etwas trauen, oft sogar Gefühle zulassen, lange verdrängte Fragen, z. B. die großen Fragen der Philosophie- und Theologiegeschichte, die angesichts der Weltlage heute plötzlich wieder gestellt werden: Was ist der Mensch? Was könnte der Sinn menschlichen Lebens sein? Wie lässt sich leben angesichts von Vergänglichkeit und Endlichkeit und Tod? Aber auch: Was erfüllt menschliches Leben? Was ist Glück? Wie gehen Freiheit und Verantwortung zusammen? Gibt es „letzte“ Orientierungen – oder gibt es für ethisches Handeln nur das Kriterium, was im Augenblick nützlich erscheint? Gibt es einen Gott? Was hat es mit dem Glauben „an“ Jesus Christus auf sich? Hat die Kirche (noch?) eine Bedeutung? Ist „Religion“ etwas von gestern, etwas Gefährliches gar; oder trägt Religion zur Humanisierung bei, ggf.: Unter welchen Bedingungen? …
Und hat Bonhoeffer Antworten darauf?
Das Leben und Lebenswerk Dietrich Bonhoeffers blieb Fragment. Nicht nur darum, weil die Nazis ihm das Leben nahmen, sondern auch darum, weil er selbst schon 1944 begriffen hatte, dass die Zeit der großen Denk-Systeme vorbei war. Er wollte zwar noch immer, wie die Vorgängergeneration, das „Ganze“ denken, wusste aber, dass es das Ganze immer nur in einzelnen Teil-Erkenntnissen, in Aspekten der einen großen „Wirklichkeit“ geben konnte. Kein Mensch kann „das Ganze“ auf einen Nenner bringen. Wer das behauptet, ist ein Ideologe und kein Menschenfreund. Es ist ja die Versuchung aller extremistischen Denkrichtungen, die komplexe Wirklichkeitserfahrung auf scheinbar passende einfache Nenner herunterzubrechen. Ursachen und Folgen sind – mit Bonhoeffer gesagt – Dummheit und Gewalt.
Also gibt es keinen großen theologischen Entwurf, sondern ein Mosaik aus einzelnen Facetten, verstehe ich das richtig?
Bonhoeffer meinte, auch gegenüber einer „religionslosen Welt“ mit dem „Menschen Jesus“ besonders nah an den „wirklichen“ Menschen heranzukommen, besonders viel vom „Ganzen“ zu erahnen. Das wagt heute fast niemand mehr so zu denken. Man ist dieses Denk-Experiment und ist diese offenen Gespräche nicht mehr gewohnt. Man hat sich eingerichtet in je der eigenen „Echo-Kammer“, wie es in Bezug auf das Internet-Verhalten heißt. Religion, ob christlich, buddhistisch, esoterisch usw., gilt in unserer Kultur als Privatsache und als eine Art Hobby von entsprechend interessierten Menschen. Die Soziologie nennt diese Einstellung je nach Bewertung spät- oder auch postmodern.
Und hier kann Bonhoeffer als Korrektiv dienen?
Ich persönlich glaube, dass die Postmoderne in vielerlei Hinsicht an ihre Grenze gestoßen ist und kulturell nicht das letzte Wort ist. Wir sind durch Migration, Klimakrise usw. genötigt, die großen Fragen neu zu stellen. Dabei wird es nicht ausbleiben können, in die Traditionen der Kulturen zu schauen und intra- wie inter-kulturell diese Fragen versuchsweise neu zu beantworten. Es gibt wieder eine Sehnsucht danach, dass es „etwas“ geben sollte in der Welt, das einen Grund hat und Grund hergibt für uns stromernde Menschen des 21. Jahrhunderts, die wir im Moment nicht wissen, ob wir klarkommen werden mit den selbstverursachten globalen Krisen. Von allen guten Geistern verlassen oder von guten Mächten wunderbar geborgen …? Das wäre eine Frage, die wir mit Bonhoeffer heute stellen könnten.
Der „große theologische Entwurf“, nach dem Sie fragen, liegt in dieser offen gehaltenen Spannung zwischen Bonhoeffers Frage: „Was glauben wir wirklich, d. h. so, daß wir mit unserem Leben daran hängen?“ und seiner persönlichen Erfahrung, es sei der „Mensch Jesus“ für Christen wie Nichtchristen nach wie vor der große Inspirator menschlichen Lebens. Wir sollten dem einmal nachdenken. Was haben wir an Illusionen über die Menschheit, über uns selbst denn noch zu verlieren? Hätte Bonhoeffer die Zeit gehabt, wäre seine im August 1944 geplante 100-seitige Schrift sein theologisches Manifest geworden, das wir heute mit dem „Römerbrief“ von Karl Barth 1919 vergleichen könnten. Nun sind wir selbst gefragt, uns unseren Reim auf unseren „wirklichen“ „Glauben“ zu machen. Bonhoeffer hat seine Zeit mitten unter uns noch vor sich.
Haben Sie vielen Dank für Ihre Zeit und Mühe!